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1. Judas-Lohn in Blei bezahlt


1.

Wieder einmal warf Bernd Schuster einen unruhigen Blick auf seine Armbanduhr, während er in seinem Büro mit schnellen Schritten hin und her lief. Jetzt fiel sein Blick auf einen weißen, breitrandigen Sommerhut, unter dem die langen, blonden Locken hervorquollen. Vom Gesicht war nicht sehr viel zu erkennen, denn die große Sonnenbrille verdeckte es weitgehend.

Aber die geblümte Bluse, einfach nur unter der Brust zusammengebunden, und das extrem kurze, dunkelblaue Miniröckchen, aus dem die langen, braun gebrannten Beine ragten, dazu die modischen Holzclocks – das war zweifelsohne seine Tochter Lucy, der er unter Tausenden sofort erkannt hätte. Auch, wenn diese Tausend alle ähnlich gekleidet waren wie Lucy. Seine Lucy!

Fast wurde er schon wieder weich, aber dann riss er sich zusammen.

Es ging nicht an, dass sie schon wieder unpünktlich war.

Erst, als er sie über die Straße kommen sah, bemerkte er die Einkaufstüten in ihrer rechten Hand.

‚Natürlich! Einkaufsbummel, und wahrscheinlich gleich nach der großen Demonstration gegen den Krieg in Vietnam, die seit dem Februar in ungeahnter Größe unsere Stadt lahmlegen. Meine Güte, ich darf gar nicht darüber nachdenken! 12.000 waren es bei der Februar-Demo, inzwischen finden alle paar Tage neue Demonstrationszüge statt, werden von der Polizei häufig genug mit Gewalt auseinandergetrieben. Und meine Lucy immer in den vordersten Reihen. Klar, wir müssen demonstrieren, damit die Amis den Krieg in Vietnam beenden. Und meine Tochter marschiert vorweg! Aber das hört jetzt auf, mein Schätzchen! Als dein Erziehungsberechtigter...‘

Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, als Lucy die Ladentür aufriss und die damit verbundene Glocke anschlug. Schuster hatte sein Büro in der Kurfürstenstraße in einer Ladenzeile eröffnet. Hier war früher ein Laden mit Modellbausätzen gewesen, Bastelpackungen nannte er diese bei den Kindern und Jugendlichen so beliebten Kartons. Aber die Konkurrenz war wohl zu groß, und dieser Teil der Kurfürstenstraße gehörte nicht zu den stark frequentierten Fußgänger Bereichen, auch wenn am Ende des Häuserblocks Bauhaus eröffnet hatte und es deshalb auch ein Parkhaus gab.

Es war eine glückliche Fügung, als er das Schild im Schaufenster entdeckte, dass den Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe ankündigte. Bernd Schuster wurde mit dem Vermieter schnell handelseinig, denn er hatte schon vor Jahren, nach der Trennung von seiner Frau, hier im vierzehnten Stock eine Drei-Zimmer-Wohnung mit Lucy bezogen.

Lucy!

Da stand sie vor ihm, nahm die Sonnenbrille ab und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. Aber so leicht machte es ihr Bernd nicht.

Demonstrativ drehte er sein Handgelenk zu ihr und deutete auf die Armbanduhr.

»Ich weiß, Daddy!«, sagte die Siebzehnjährige lächelnd, nahm auch den großen Hut ab und ging zu dem Kühlschrank hinüber, der direkt hinter seinem Schreibtisch stand.

»Nicht schon wieder eine Cola!«, rief er rasch aus, als sie schon mit einer dreieckigen Verpackung in der Hand zurückkehrte, den Strohhalm durch die dafür vorgesehene Öffnung stieß und sog daran.

»Na gut, gegen Sunkist ist nichts zu sagen. Aber trotzdem muss ich...«

Lucy hatte sich erhoben, griff die KaDeWe-Tüte und öffnete sie.

»Ja, ich weiß, Daddy, dass ich um vier Uhr zurück sein sollte. Aber der Demozug ging nun mal bis fast vor die Haustür, und da nutzte ich rasch die Gelegenheit und bin ins Kallewuppdich, Daddy. Und ehe du etwas sagst, probiere doch bitte mal das neue Jackett über. Du kannst es sonst zurückgeben.«

Verblüfft schwieg Bernd Schuster, denn er hatte mit allem gerechnet – nicht aber damit, dass seine Tochter ein Jackett für ihn kaufte. Rasch zog er es über und prüfte den Sitz.

»Einwandfrei, und das Ding gefällt mir auch. Aber wieso hast du für mich Geld ausgegeben? Ich wollte doch sowieso demnächst...«

Ein lautes Lachen seiner Tochter unterbrach ihn.

»Ach Papa, redest du nicht schon seit letztem Weihnachten davon? Es war ein Sonderangebot, 68,-DMchen, die ich gern bar von dir hätte.«

»Was? Wieso – ja, natürlich!«

Schuster war verwirrt, ging aber zum Schreibtisch und nahm aus der Schublade einen Fünfziger und einen Zwanziger, die er seiner Tochter in die Hand drückte.

»Danke, der Rest ist für ein Eis!«

»Ui, so viel, Daddy, du bist ja heute großzügig wie Onkel Dagobert! Zwei ganze Mark, da kann ich ja gleich die Klasse noch ins Kino einladen!«

»Soweit kommt’s noch, und jetzt zurück zu unserer Abmachung...«

»Daddy – um einen genauen Zeitplan aufzuführen: Demo-Ende war drei Uhr und ein paar Zerquetschte. Dann ins KaDeWe, Herrenabteilung, suchen, bezahlen, nach Hause laufen. Reicht das als Entschuldigung?«

Bernd musste schlucken. Sein Groll war vollkommen verflogen. Mehr noch, er fühlte sich fast schon schuldig, dass er sich nicht ausreichend bedankt hatte. Das konnte er nur noch wieder gutmachen, indem er das Jackett sofort anzog und seine Tochter an die Hand nahm.

»Danke, das war wirklich toll von dir. Und jetzt schließe ich den Laden ab, und wir gehen um die Ecke zum Griechen, in Ordnung?«

»Ui – Onkel Dagobert hat doch die Spendierhosen an! Einverstanden, aber heute ist mir mehr nach dem Spanier gegenüber. Dann los, ich habe schon Kohldampf!«

Sie hatten mehrere Lokale in unmittelbarer Umgebung.

Bernd Schuster ging sehr gern zu dem Griechen an der Ecke, aber die Paella beim Spanier gegenüber war auch in Ordnung. Einen Moment lang dachte er an die gut aussehende Bedienung, als er die Ladentüre abschloss.

Sein Blick fiel auf sein Spiegelbild.

‚Vielleicht sollte ich mal wieder zum Frisör. Meine Haare reichen schon über den Kragenrand, und auch der Bart könnte mal wieder gestutzt werden. Aber wenn Lucy dazu nichts sagt...‘

»Ach, übrigens Daddy – du könntest ruhig mal wieder deinen Bart etwas stutzen lassen. Oder willst du mit deiner Schlaghose, der neuen Cordjacke und deinem todschicken Nyltesthemd jetzt auf Hippie machen?«

»Und warum nicht? Schließlich laufen eine Menge Leute in meinem Alter mit noch längeren Haaren und Bärten herum!«, antwortete er gut gelaunt.

»Und sehen dabei aus wie unsere spießigen Lehrer!«, lachte Lucy. »Denk ruhig darüber nach Daddy, was es an der Uni heißt: Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren! Das fegt man nicht einfach mit Schlaghose und Plateausohlen weg, weißt du!«

»Frechdachs!«, rief er lachend, zog Lucy zu sich heran und drückte sie. »Ich glaube nicht, dass du dich über einen spießigen, alten Vater ärgern musst, oder?«

»Nein, schon gar nicht, wenn du bereits zum Frühstück Magical Mystery Tours rauf und runter dudelst!«

Bernd lachte fröhlich.

»Der Film läuft übrigens schon die dritte Woche. Wollen wir ihn uns nicht endlich gemeinsam ansehen?«

Lucy zog einen Schmollmund und drehte sich vor dem Restaurant um.

»Ach Daddy, eigentlich wollte ich doch mit Ekki ins Kino gehen!«

Das versetzte ihm zwar einen leichten Stich, aber er ließ sich deshalb seine Laune nicht verderben.

»Mit Ekki. Das ist doch der Typ mit der Kreidler Florett, oder?«

Täuschte er sich oder war da ein leichter, rötlicher Hauch auf ihren Wangen?

Jedenfalls drehte sich Lucy rasch zur Seite und rief zurück: »Ja, weißt du doch. Nun komm, der Duft hier macht mich hungrig wie einen Wolf!«

Berlin 1968 I. Bitternis - Drei Romane in einem Band

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