Читать книгу Wir sterben und wissen nicht wohin - Tullio Aurelio - Страница 10
Auch Blumen sind vergänglich
ОглавлениеDer kleine Prinz ist unterwegs zwischen Asteroiden, auf denen seltsame Menschen leben. Auf einem verbringt seine Tage ein ernsthafter Wissenschaftler, ein Geograf. Er wartet geduldig auf die Ankunft von Forschern, die ihm Neuigkeiten überbringen sollen, die er dann in sein Geografiebuch eintragen kann. Auch der kleine Prinz wurde von ihm für einen Forscher gehalten. Mit dessen Erzählung konnte der Geograf aber nicht viel anfangen. Der kleine Prinz hatte ihm anvertraut, auf seinem Planeten lebe eine Rose. Der Geograf hatte ihm daraufhin unverblümt eröffnet, Blumen werden nicht in die Geografiebücher eingetragen, weil sie nicht von Dauer seien, sie seien vergänglich.10 Das bedeut so viel wie: Die Rose des kleinen Prinzen ist gefährdet, sie ist dem Tod geweiht.
Eigentlich finden wir es schade, dass nicht nur das gewöhnliche Gras, sondern auch die schönen Blumen vergänglich sind. Aber, auch wenn die Rose auf dem Asteroiden B 612 von sich behauptete, sie wäre kein Gras, auch Blumen sind Gras. Und unsere Erfahrung lehrt uns: Wir können die Blumen pflegen, wie wir wollen, irgendwann verabschieden sie sich von uns und wir werfen sie wie gewöhnliches Gras auf den Komposthaufen. Alles Gras ist vergänglich, auch die Blumen.
Die rötliche Farbe des Laubs im Herbst verschönert kurzzeitig Bäume und Landschaft. Romantiker aus aller Welt besingen die Schönheit der Wälder und die Farbenpracht des Herbstes.
Doch der Schein trügt. Jeder weiß, bald wird das Laub fallen, die Äste werden in der Winterkälte kahl und trostlos ein Schattendasein fristen. Das Laub, das von den Ästen abgefallen ist, vermischt sich mit der Erde, und der Kompostierungsprozess beginnt gleich danach. Bald wird man das schöne Laub nicht mehr vom Erdboden unterscheiden können.
Die Blätter, die von den Bäumen fallen, sind für viele Völker ein Symbol für den Tod. Nicht von ungefähr ist der November in vielen Kulturen der Monat, in dem man der Toten gedenkt.
Die Gefühlswallungen, die bei den Menschen beim Anblick des sich rötlich-gelb färbenden Herbstlaubs entstehen, würden die Bäume selbst dann nicht verstehen, wenn sie die Menschen überhaupt verstehen könnten. Denn sie denken, anders als die Menschen, die ja so romantisch sind, sehr rational: Sie wollen den Winter überstehen, und das können sie besser, wenn sie die Blätter wie einen unnützen Ballast abwerfen. Die Bäume würden im Winter verdursten, wenn sie das Laub nicht abwerfen würden, weil sie im Winter über das Wurzelwerk weniger Wasser bekommen. Auch die Sonne wird sich seltener zeigen und schwächer scheinen, so wird auch die Fotosynthese verlangsamt. Das Laub kann für den Baum den Tod bedeuten, deshalb wird es abgeworfen, die Menschen mögen es bedauern, wie sie wollen.
Nicht jeder Baum verliert sein Laub und nicht jedes Gras wird in jedem Winter welk, aber jedes Gras stirbt, auf natürliche Weise, weil die Zeit auch fürs Gras den Takt vorgibt, oder gewaltsam, weil es als Futter gebraucht wird: für Schafe, Ziegen und Kühe, als Heu für die Tiere im Stall, als dicke Bohnen und Maiskolben für die Schweine, als Salat und Gemüse für den Menschen ...
Auf dem Umweg des Gefressen-, Verdaut- und Ausgeschiedenwerdens kommt das Gras zur Erde zurück, aus der es hervorgegangen ist.