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Kannibalismus und Assimilation

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Wenn der Hunger nicht gestillt werden kann, dann schreckt in unserer Welt kein Wesen vor Tötung und Mord zurück – die Pflanzen nicht, die lieben Vögel nicht – sie warten nicht immer auf die Nahrung aus der Hand vom lieben Gott –, die Löwen mögen kein Gemüse, die Menschen mögen es fein geschnitten. Im Übrigen mochten auch die Götter Gebratenes.

Dieser ununterbrochenen Mordserie in der Natur werden da und dort Schranken und Tabus entgegengestellt. Bei vielen Gattungen ist das Töten von Angehörigen verboten. Wir Menschen halten es für ein Tabu, Menschen zu töten. Wenn schon das Morden verboten ist, die Einverleibung von Gattungsangehörigen ist noch stärker tabuisiert. Was verboten ist, das wird natürlich auch getan. Tabus sind da, um gebrochen zu werden. Die Tötung von Gattungsangehörigen geschieht nicht selten, auch wenn sie z. B. bei den Menschen bestraft wird. Die Einverleibung von Gattungsangehörigen ist viel seltener. Aber auch das ist auf Erden häufig der Fall. Für dieses Phänomen haben wir eine Bezeichnung: Kannibalismus.

Unter den Tieren ist Kannibalismus stark verbreitet: bei Waranen, Alligatoren und Ratten, unter den Vögeln zählen etwa die Möwen und die Krähe dazu, der Barsch unter den Fischen. Das sind nur einige Beispiele von Alltagskannibalismus in der Tierwelt. Einige fressen Jungtiere aus dem eigenen Rudel. Einige fressen sogar buchstäblich ihre eigenen Kinder, wie die Wildschweine. Auch andere Tiere wie Katzen, Löwen, Eisbären und Braunbären töten etwa wegen Nahrungsmangel ihre eigenen Kinder.

Die Gründe können vielfältig sein, meistens schließen die Menschen von ihren Gefühlen und Absichten auf die Tiere und deuten auf diese Weise das Verhalten der Tiere: Hunger, Konkurrenzkampf ... Die Menschen liegen gar nicht falsch dabei. Man weiß zum Schluss nur nicht, ob die Tiere den Menschen oder die Menschen den Tieren ähneln.

Kannibalismus kann auch zum Zweck der Assimilation von physischen und psychischen Eigenschaften des anderen dienen. Bei den Tieren etwa gibt es interessante Beispiele von Kannibalismus, um sich die physikalischen Eigenschaften des anderen Tieres anzueignen. Gehört und dann gelesen habe ich vom sonderbaren Fall der weiblichen Spinne, die ihren Geschlechtspartner verspeist: Sie frisst die männliche Spinne nach dem Geschlechtsakt, weil deren Körper als Nährwert für die Entwicklung des Nachwuchses wertvoller ist als deren Zeugungsfähigkeit. Es ist ein interessanter Fall von Kannibalismus, bei dem die Assimilation physikalischer Eigenschaften der Grund für das Fressen des Partners ist und nicht der Hunger. In einigen Fällen fressen die weiblichen Spinnen den Partner sogar vor dem Geschlechtsakt. Das ist schwerer einzuordnen. Es scheint aber, dass in diesem Fall, wenn die weibliche Spinne längere Zeit nichts gefressen hat, sie den Partner lieber als Mahl statt als Geschlechtspartner hat. Nach dem Motto: Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Die männlichen Spinnen haben ihrerseits eine Strategie entwickelt, um der Gefahr zu entgehen, gefressen zu werden. Sie strahlen einen besonderen betörenden Duft aus, der die weibliche Spinne in Ohnmacht versetzt. Während dieser Zeit vollzieht sich der Zeugungsakt, und danach hat die männliche Spinne immer noch Zeit genug, um sich zu entfernen.

Bei den Gottesanbeterinnen funktioniert auch dieser Trick nicht: Es gelingt ihnen immer, den Partner während des Geschlechtsaktes zu fressen, nach dem anderen Motto: »Ich habe dich zum Fressen gern«.

Auch bei den Menschen kennt man das Phänomen des Kannibalismus. Schon der Hunger kann den Menschen zum Übertreten des Tabus zwingen. Die »Kannibalen vom Flug 571«15 sind ein bekanntes Beispiel dafür. Aber sicherlich gibt es mehrere solcher Beispiele, die unbekannt bleiben, weil die Menschen sich schämen, Hunger zu haben und den Mitmenschen zu töten und zu essen, um ihren Hunger zu stillen.

Die Beispiele der Spinnen und der Gottesanbeterinnen, die ihren Partner verspeisen, bringen uns bei der Deutung des Kannibalismus ein Stück weiter.

Beim Essen assimilieren wir Elemente, die für unser Überleben notwendig sind. Bei den Menschen, die andere Menschen verspeisen, also bei den »echten« Kannibalen spielt nicht selten der Wunsch eine Rolle, die psychischen und geistigen Eigenschaften des anderen in sich aufzunehmen.

Es gibt bei Wikipedia einen lehrreichen Artikel über den Kannibalismus16, den ich hier nicht wiedergebe, da jeder ihn dort nachlesen kann. Interessant für unseren Zweck scheinen mir folgende Beispiele:

Auch in unserem Europa hat man den sogenannten medizinischen Kannibalismus praktiziert: man hat Körperteile oder das Blut von Erhängten oder Getöteten zu sich genommen, um sich gegen Krankheiten zu schützen.

»Aus dem 17. Jahrhundert ist ein Rezept des deutschen Pharmakologen Johann Schröder überliefert, das die Zubereitung von menschlichem Muskelfleisch beschreibt.«17

»Berühmt waren ›des Königs Tropfen‹ des britischen Königs Karl II., der 6.000 Pfund für ein Rezept zur Verflüssigung menschlichen Hirns gezahlt hatte. Das daraus resultierende Destillat applizierte der Regent sich fast täglich. Gelehrte und Adlige, aber auch einfache Leute schworen auf die Heilkraft des Todes. Daneben wurden Körperteile von Hingerichteten und anderen Leichen pulverisiert und zu dann angebotener ›Medizin‹ verarbeitet von approbierten, teilweise promovierten Ärzten verordnet und in Apotheken angeboten.«18

Und es gab – wahrscheinlich gibt es ihn immer noch – einen religiös motivierten Kannibalismus: Gefangene wurden getötet und den Göttern geopfert und hinterher aufgegessen, deren Blut getrunken, um deren Kräfte zu erlangen.

Opferfleisch, nicht selten von Menschen, besonders von Feinden, aber auch von Kindern aus der eigenen Mitte, wurde den Göttern geopfert, deren gebratenes Fleisch wurde anschließend von den Opfernden gegessen, um sich göttliche Eigenschaften anzueignen und selber ›göttlich‹ zu werden.

Die Menschen, die Mitmenschen essen, sind keine gewöhnlichen Kannibalen, sie nennen sich Anthropophagen. Das ist wieder ein nobler Begriff, der einiges zu verbergen versucht: die Grausamkeit und die Blindheit der Menschen.

Natürlich beteiligen sich auch die Götter daran. Sie sind keine Anthropophagen, eher Theophagen, weil sie mitunter andere Götter verspeisen, bei der Schöpfung der Welt, aus Rache oder aus Angst, dass das eigene Kind die eigene Macht gefährden könnte: ein wahres Abbild der menschlichen Welt. Und wenn wir uns schon im metaphorischen Bereich bewegen: Es gibt auch den Kannibalismus der Galaxien, weil sie sich auch gegenseitig ›kannibalisieren‹. Wer hätte das gedacht: Uns allen wohnt ein Kannibale inne.

In Eisvogel von Uwe Tellkamp gibt es einen eindrücklichen Text über das (gegenseitige) Fressen der Termiten:

»Rund elf Millionen Eier jährlich, [...] aus denen sich drei Sozialformen entwickeln: die Arbeiterkaste, die Kriegerkaste und die Fortpflanzungskaste. Die Arbeiter ernten, verarbeiten und verdauen die Zellulose, sie ernähren alle anderen Bewohner, denn weder die Krieger noch das Königspaar sind imstande, das Lebensmittel der Termiten, die Zellulose, zu nutzen. [...] Wenn eine Termite Hunger hat, stößt sie den vorbeikommenden Arbeiter mit den Fühlern an. Ist der Bittsteller noch jung, kann er sich also noch zu einer Königin oder einem König entwickeln, liefert der Arbeiter das zum Fressen ab, was er im Magen hat. Ist er ein ausgewachsenes Männchen, dreht er ihm das Hinterteil zu und überlässt ihm, was sein Darm enthält [...] Nichts geht verloren in dieser Republik, keine abgelegte Haut – sie wird sofort gefressen –, kein Leichnam, auch er wird verzehrt. Abfälle gibt es nicht. Alles ist essbar, alles ist Zellulose, und die Exkremente werden immer wieder ausgenutzt. Die Galerien sind von innen mit der größten Sorgfalt geglättet und gefirnisst. Dieser Firnis besteht aus Kot.«

Und einige Seiten später wird über die Gottesanbeterin (was für ein interessanter Name in diesem Zusammenhang!) nachgedacht.

»Alles geschieht aus einem einzigen Grund: der Angst vor dem Tod. [...] Gibt es eine Theorie, eine Lehrmeinung, wie fragwürdig und problematisch auch immer, mit der Sie begreifen, warum das Gesetz der Natur das Fressen und Gefressenwerden ist; warum die Gottesanbeterin, indem sie im Akt das sie begattende Männchen verschlingt, einen tiefen Sinn erfüllt [...] Der Tod ist das schwarze, gleichförmige und grausam schlagende Herz der Natur, und die geringe Wärme, die sein Pulsschlag sendet, nennt man Liebe.«19

Wir sterben und wissen nicht wohin

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