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Präludium Wo sich die Toten treffen – Ein fiktionaler Dialog

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Bodpa, ein Tibeter im besten Alter, schließt die Augen und bildet sich ein, er schwebt in der Luft und beobachtet die um seinen Körper stehenden Verwandten und Freunde. Sie weinen und klagen und horchen aufmerksam der Lektüre des Bardo Tödol zu. Er findet es seltsam, denn dieser Text wird eigentlich im Kreis der um einen Toten Trauernden gelesen, damit der Tote sich auf die Wiedergeburt vorbereitet.

»Dann muss ich doch tot sein«, meint Bodpa – inzwischen überzeugt, dass er nicht echt träumt, sondern sich in einem traumähnlichen Zustand befindet.

Er gewahrt ein helles Licht, als er gerade meint, er würde vor Müdigkeit nur die Augen schließen.

Er hört selber der Lektüre aus dem Totenbuch zu: »Wenn die Ausatmung aufhört, sinkt die Lebenskraft in das Nervenzentrum der Weisheit, und der Wisser erlebt das Klare Licht in seiner ursprünglichen Beschaffenheit.«

»O Edelgeborener, jetzt ist die Zeit gekommen, dass du den Pfad suchst. Der Atem hört gleich auf. Dein Guru hat dich zuvor von Angesicht zu Angesicht gesetzt mit dem Klaren Licht.« »Hat die Ausatmung vollends aufgehört, drücke fest auf den Schlafnerv. Jetzt erfährst du die Strahlung des Klaren Lichtes Reiner Wirklichkeit. Erkenne sie.«5

Bodpa weiß nun: Da wird die erste Stufe seiner Initiation eingeleitet. Es gilt, die Chance zu ergreifen, das wahre Licht zu erkennen und im Nirwana zu erwachen. Er weiß aber auch, es ist nicht jedem gegeben, im Nirwana zu erwachen. Es sind die Allerwenigsten, die das klare, das wahre Licht erkennen.

Ebenso weiß er, ihm verbleiben insgesamt 49 Tage und er muss sich entscheiden, was er werden will. Je schneller er sich entscheidet, desto besser wird sein neues Dasein. Wenn er Glück hat, wird er wieder ein Mensch, aber es ist nicht sicher; es kann sein, dass er ein anderes Wesen wird. Auf jeden Fall wird er wieder in einen neuen Uterus eindringen, um wiedergeboren zu werden.

Das ist sein Samsara oder ›Schicksal‹, wie andere sagen: sterben, sich auflösen und als jemand anderes geboren werden. Das ist der Kreislauf, dem sich auch der Mensch nicht entziehen kann.

Er selber, das weiß Bodpa nur zu gut, ist nun sein Bewusstsein. Darüber, über die Beschaffenheit des Bewusstseins, hatte er sich oft mit seinem hinduistischen Nachbarn unterhalten. Der Nachbar vertrat vehement und manchmal ungehalten, dass das Bewusstsein der einzelnen Wesen ein Teilchen des universalen Bewusstseins sei, deshalb selbst genauso unsterblich wie das universale Brahman, wie er es nannte.

Interessanterweise war sein Nachbar zur gleichen Zeit gestorben, und deren beider Bewusstsein hatten sich auch nach dem Tod eine kurze Weile darüber unterhalten, aber allmählich waren die Züge seines eigenen Bewusstseins schwächer geworden. Ob er mit seiner Meinung über das Bewusstsein Recht hatte?

Dann hört er die Umstehenden sagen, dass sich sein Bewusstsein inzwischen von seinem Körper gelöst habe. Sein Körper wird dann auf einen Berg getragen und in Stücke gerissen und den Vögeln zum Fressen gegeben. Er wäre gern in seinen Körper zurückgegangen, aber nun war es nicht mehr möglich. Er beobachtet, wie sein Körper von den Vögeln und von anderen Tieren aufgerissen und gefressen wird. Auch seine Knochen werden zerkaut, nichts bleibt übrig.

Er hatte einmal die Gründe gehört und verstanden: Ein Leichnam kann durch Feuerbestattung, Erdbestattung, Luftbestattung oder Wasserbestattung der Natur zurückgeführt werden. Wichtig ist diese Rückkehr, weil der Lebenskreis sich auch so erneuert, die Materie wird der Materie zurückgeführt, auch das Bewusstsein wird sich verändern und als ein anderes Wesen wiedergeboren werden.

Neben seinem Bewusstsein schwebt eine Idee – so nennt sie sich selbst, als sie Bodpa begrüßt.

»Wo gehst du hin?«, will Bodpa wissen.

»Zurück ins Reich der Ideen«, sagt die Idee. »Bis vor kurzem habe ich Aristos oder kurz Ari geheißen. Zum Glück konnte ich mich von meinem Leib endlich lösen und erlösen. Er war mir nur hinderlich, immer wieder kränklich, immer wieder sackte er ab vor Müdigkeit und zog auch mich mit in die Tiefe des Trübsinns. Materie ist eine kranke Sache.«

»Und was macht dein Körper nun?«, fragte Bodpa.

Und Ari oder die Idee, wie sie sich seit Kurzem nannte, erzählt, dass der Körper nun begraben und in der Erde zerfallen wird. Das ist das Schicksal der Materie. Das tangiere sie aber nicht im Geringsten, meinte sie. Sie aber, die Idee, kann nicht sterben, sie ist nicht aus Materie, sie ist nicht aus dieser dunklen, trüben Welt.

»Was du erzählst«, sagt Bodpa, »kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe mich auch von meinem Körper getrennt, aber ich bin auch jetzt nicht ganz frei von Materie, und ich gehöre mit Sicherheit derselben Welt an, der auch mein Körper angehörte. Wir nennen den Vorgang der Trennung von Körper und Bewusstsein den ›Übergang‹ von einem Daseinszustand zu einem neuen im Kosmos durch Wiedergeburt. Und dieser Übergang dauert 49 Tage«.

»Etwas Ähnliches«, bemerkt Ari, »glauben auch die meisten meiner Landsleute in Griechenland. Sie glauben, wenn sie sterben, überqueren sie den großen Fluss und gelangen in das Totenreich, den Hades. Natürlich bleibt der Körper unter der Erde oder in einem Sarkophag. Nur der Schatten der Menschen, den sie Seele nennen, erreicht den Hades. Aber auch diese Seelen sind nicht ganz frei von Materie, denn sie können durch einen Durchschlupf wieder in das Reich der Lebenden zurückgelangen. Irgendwie gehören die zwei Reiche, das des Lebens und das des Todes, zusammen – fast ein griechisches Samsara.

Ganz anders glauben wir Schüler unseres großen Meisters Platon. Er hat uns gelehrt, dass wir Ideen sind und ganz anders geartet als die hinfällige Materie. Wir sind ewig, reiner Geist, wir sind nicht von dieser Welt, wir gehören dem Reich der Ideen an, und unser Reich ist nicht von dieser Welt. Wenn wir später wieder zurück in die Materie müssten, wäre es für uns eine echte Strafe und nichts Natürliches. Als Menschen sind wir wie Wesen, die in einer Höhle angekettet sind. Die Menschen ahnen nur vage, dass sie als Ideen von einer ganz anderen Welt stammen, aber sie erinnern sich nicht mehr daran. Wenn es ihnen gelingt, sich von der Materie zu befreien, die sie gefangen hält, dann schweben sie zu ihrer ursprünglichen Welt zurück. Aber die Reise ist nicht einfach, weil die zwei Welten nichts miteinander zu tun haben.«

»Wenn wir sterben, werden wir Sterne«, hören Bodpa und Ari plötzlich in ihrer Nähe. Sie drehen sich um und sehen ein Licht, das in Begleitung der Sonne in Richtung Himmel steigt.

»Ich heiße Ramses«, sagt das Licht. »Nach meinem Tod musste ich lange im Totenreich verharren, bis mein Ba, irgendwie so etwas wie euer ›Bewusstsein‹ oder Idee oder Schatten, so frei war, dass es in die Barke der Sonne steigen konnte. So bin ich aus der Tiefe des Totenreiches mit der Sonne auferstanden und werde der Himmelskönigin Nut vorgestellt, und sie wird mir einen Platz im Himmel zuweisen, wo ich als Stern leuchten werde. Alle Toten sind Sterne am Firmament. Das Firmament ist aber kein anderes Reich als das Reich der Idee. Es ist natürlich ein Teil des gesamten Kosmos. So wie Nut, die Himmelskönigin, mit ihrem blauen Sternenmantel sich beugt, um ihren Gatten Geb, den Erdengott, zu umarmen, so gehören Himmel und Erde, Unterwelt, Erde und Firmament zusammen und bilden den ganzen Kosmos. Es gibt keine ganz andere Welt nur für die Ideen.« Ramses meint, Bescheid zu wissen. »Der Himmel ist oben und ist der Mantel von Nut, der Himmelskönigin.«

Da mischt sich Agnes ein, eine christliche Märtyrin, deren Seele, wie sie sie nennt, sich vor langer Zeit vom Körper gelöst hatte und noch auf der Suche nach ihrem Bestimmungsort ist. Sie legte gerade eine kleine Pause ein, um zu überlegen, in welcher Richtung sie weiter schweben sollte. Sie kennt sich nicht aus und will die anderen fragen, in welche Richtung Gottes Himmel sei.

»Nicht doch«, wendet Agnes ein, »nicht diesen Himmel meine ich, und nicht irgendeine Göttin meine ich, sondern den Himmel unseres einzigen Gottes, das ist doch nicht das Firmament. Das ist ganz was anderes, ganz woanders, bei Gott eben, das nennen wir auch Paradies. Ich bin nur 12 Jahre alt geworden. Ich hatte dem Herrn Jesus heilige Jungfräulichkeit geschworen. Man wollte, dass ich mein Versprechen zurücknehme, aber ich wollte nicht. Nach mehreren Versuchen, mich zu töten, wurde mein Körper enthauptet. Ich starb gerne, weil ich wusste, dass ich bald meinem himmlischen Bräutigam begegnen würde. Leider bin ich noch nicht dort angekommen.

Wenn wir sterben, werden wir erstmals auf die Waage der Gottesgerechtigkeit gelegt und wir wissen dann, ob wir für immer ins Paradies oder in die Hölle gehen oder ob wir uns für eine gewisse Zeit ins Fegefeuer begeben, um uns zu läutern. Das ist für mich aber kein Problem, da ich für Jesus und meine Jungfräulichkeit gestorben bin. Am Ende der Zeiten wird dann ein universales Gericht stattfinden. Da werden alle Toten wiederauferstehen und Jesus Christus, der Sohn Gottes, wird auf einer Wolke kommen und über Gute und Böse richten. Die Bösen auf seiner Linken werden ins Höllenfeuer geworfen, die Guten zu seiner Rechten werden von Jesus Christus in sein Reich mitgenommen. Ich werde sicher auf der rechten Seite stehen.«

Als Agnes fertig ist, grinst Bodpa ein wenig und meint: »Wie sich die Bilder doch gleichen. So ein Gericht wird auch in unserem Totenbuch beschrieben. Und wir haben auch Götter, obwohl man meint, wir Buddhisten hätten keine. Aber es gibt einen großen Unterschied. Anders als bei euch Christen oder auch bei den Ägyptern, sind unsere Gottheiten und das Totengericht lediglich unsere Einbildungen, Projektionen unseres Bewusstseins, sie existieren nicht außerhalb von uns. Und Strafen und Belohnungen, die im Gericht ausgesprochen werden, sind nichts für die Ewigkeit, sie sind vorübergehender Natur, Frucht unserer Einbildung. Einzig wahr ist das Samsara, der ewige Kreis von Tod und Wiedergeburt: Wir sterben, unser Körper wird wieder Natur, unser Bewusstsein wird ein neues Wesen durch Wiedergeburt.«

Ramses scheint von Agnes und Bodpas Worten sehr betroffen zu sein. »Auch bei uns muss der Verstorbene vor Gericht erscheinen, bevor er ins Reich der Toten gelangt und vor Osiris tritt. Anubis legt das Herz des Verstorbenen auf eine Wage. Auf dem anderen Teller der Waage liegt die Feder der Göttin der Gerechtigkeit, Maat. Wenn das Herz schwerer wiegt als die Feder, wird es von einem Krokodil verspeist. Wenn es nicht schwerer wiegt, kann der Verstorbene ins Reich der Toten eintreten. Dann, wenn der Sonnengott Re und sein Bruder Osiris sich treffen, nimmt Re den Ba der Toten mit auf seine Barke und er fährt mit ihnen in den Himmel.« »Es ist irgendwie wie bei euch Christen«, fügt Ramses hinzu, »Die Himmelfahrt wird bei uns aber allen Verstorbenen zuteil, nicht nur denen, die gut gelebt haben. Die Auferstehung der Toten geschieht ja jeden Tag, wenn der Sonnengott im Osten in den Himmel aufsteigt, der Himmelsgöttin Nut, Mutter aller Lebenden, entgegen, nicht wie bei euch erst am Ende der Zeiten. Irgendwie scheint es mir so, als ob Ihr Christen eine ganze Menge von uns abgeschrieben hättet.«

Da schießt eine Seele wie eine Rakete an den Versammelten vorbei. Sie muss scharf bremsen, um sich den Kollegen freudig vorzustellen. Ali nennt er sich, er sei als Märtyrer für Allah und Muhammad gestorben, habe sich in die Luft gesprengt, um Ungläubige in den Tod zu schicken. Allah wird ihn belohnen: im Paradies. Das ist ein blühender, schöner Garten, in dem alle Gläubigen glücklich leben. Sie sitzen an einem reich gedeckten Tisch und laben sich an den schönsten Speisen, von vielen jungen, schönen Jungfrauen umgeben und bedient.

Agnes lächelt ein wenig. Ali meint vielleicht den Garten Eden, aus dem die Menschen hinausgeworfen wurden.

Die Verwirrung macht sich unter den Neuverstorbenen breit. Jeder hatte eine eigene Vorstellung über die Zeit nach dem Tod, aber nun weiß keiner, wer letztlich Recht hat. Hat überhaupt jemand Recht?

»Jetzt weiß ich genau so viel und so wenig wie früher«, behauptet ein unschlüssiger namenloser Verstorbener. »Meine neue Heimat scheint Niemandsland zu sein. Ihr wisst alles nur vom Hörensagen, erzählt euch Geschichten von eurem früheren Leben, an die ihr anscheinend noch glaubt, wisst aber genau so wenig wie ich, wohin wir alle gehen.«

»Wir wissen nicht mal«, fügt der Namenlose hinzu, »wie die Zeit vor dem Tod und die Zeit nach dem Tod sich unterscheiden. Es kann sein, dass Zeit nur vor dem Tod besteht, und nach dem Tod keine Zeit mehr ist. Das behauptete ein Freund vor mir. Er war ein Nichtwissender, gleichzeitig einer, der zu wissen meinte, dass nach dem Tod nichts ist. Er ist inzwischen gestorben, und ich finde von ihm hier leider gar keine Spur mehr. Ob er sich nach dem Tod vollends aufgelöst hat? Doch wenn er Recht hatte, warum sind wir dann hier versammelt? Entspricht die Wirklichkeit einfach unseren Vorstellungen? Oder bekommt jeder das, was er sich vorstellt? Stellt man sich vor, was man sich wünscht? Nicht notwendigerweise, denke ich, aber wissen tun wir es nicht.«

Bodpa wacht auf: Er hatte nur geschlafen und einen seltsamen Traum geträumt. Um sein Bett steht niemand, es ist früh am Morgen, ein ganz neuer Tag wartet auf ihn.

Diese Geschichte stellt so viele Fragen: Sind diese Jenseitsvorstellungen denn nun tatsächlich Bilder vom Jenseits? Gibt es überhaupt ein Jenseits? Sagen unsere Bilder wirklich irgendetwas über die Zeit nach dem Tod aus? Gibt es eine solche Zeit überhaupt?

Ein Text aus den Upanishaden gibt zu denken:

Alles, was hier ist, ist auch dort;

Was dort ist, dasselbe ist auch hier.

Wer das Hier als etwas anderes ansieht,

Trifft Tod nach dem Tod.

Nur im Geist lässt sich das begreifen,

und dann gibt es hier keinen Unterschied.

Von Tod zu Tod geht, wer meint,

Dass hier ein Unterschied besteht.

Katha Upanishad, IV, 10–116

Wir sterben und wissen nicht wohin

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