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Das Universum als großer Verdauungsapparat

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Eigentlich ist jedes lebende Wesen auf die eine oder andere Art so strukturiert, dass es essen, assimilieren und verdauen kann und muss. Jedes Lebewesen muss sich ernähren, und dafür braucht es den sogenannten Verdauungsapparat, um das Essen zu zerlegen, assimilieren und die Reste auszuscheiden.

Wir Menschen kennen meistens unseren Verdauungsapparat. Je nachdem wie gut man im Biologieunterricht aufgepasst hat, je nachdem wie man interessehalber oder beruflich sich mit der Materie befasst, desto größer ist die Kenntnis der biologischen Maschinerie, die dazu dient, das Bedürfnis nach Nahrung zu befriedigen, um uns in den menschlichen Sprachbildern auszudrücken.

Wie auch immer: jedes Lebewesen, so klein, so einfach, so primitiv es sein mag, auch die einfachste Zelle sowie das Gras und die Bäume im Wasser und auf Erden, die unzähligen uns umschwirrenden Insekten, Mücken, Bienen und Wespen, Vögel aller Art: Alles aber auch alles ist mit einer unbändigen Fresslust ausgestattet, für deren Befriedigung die Natur ganz ausgefeilte Apparate entwickelt hat.

Da ich kein Biologe bin, will ich hier keine ungaren biologischen (Un-)Kenntnisse ausbreiten, die ich sowieso dem Internet entnehmen müsste. Als Biologielaie kann ich in Anbetracht der kontinuierlichen Nahrungsaufnahme nicht nur der sieben Milliarden Menschen, sondern aller mehr oder minder genauso zahlreicher Lebewesen nur staunen. Man könnte den Eindruck haben, die ganze Erde sei ein gigantischer Fress- und Verdauungsapparat, die ganze Natur sei ein gewaltiger Mund mit riesigen starken Zähnen, habe einen gewaltigen Magen und ungemein lange Därme, einen gewaltigen Ausgang für die Ausscheidung der Fäkalien, die sie selbst nicht verwertet.

Was sage ich: ›die Natur‹. Die Natur macht bei den Ausscheidungen weiter. Auch sie werden weiter verwertet. Viele Lebewesen erfreuen sich gerade an den Exkrementen größerer Tiere: Die sogenannten Koprophagen machen sich gerade dann richtig ans Werk, wenn andere Lebewesen das Gegessene längst verdaut und ausgeschieden haben. Mit unseren Fäkalien werden auch Bakterien ausgeschieden, die bereits im Darm angefangen hatten, sich an unseren Nahrungsresten zu laben. Wenn sie zusammen mit den Fäkalien draußen sind, lassen sie sich von der frischen Luft nicht stören, sie laben sich weiter daran.

Stellen wir uns vor, sieben Milliarden Menschen, alle Tiere dieser Erde, alle Pflanzen würden zur gleichen Zeit (fr)essen, zur gleichen Zeit verdauen, zur gleichen Zeit die Exkremente ausscheiden. Welch ein Spektakel, oder wie die Römer es bezeichneten, welch ein Monstrum. Und dieser ganze Vorgang ist auch deshalb so monströs, weil er zu keiner Zeit eine Unterbrechung und eine Grenze erfährt: Unsere Mutter Natur ist ein Monster, das seine eigenen Kinder frisst.

Ich lebe vom Tod dessen, den ich oder das ich esse. Wenn ich eines ›natürlichen Todes‹ sterbe, werde ich von Würmern gefressen. Wenn ich von einem Tier erlegt und gefressen werde, werde ich eines andersartigen, aber nicht minder ›natürlichen‹ Todes sterben. Beklagen könnte ich mich selber nicht: Ich töte oft indirekt, andere erlegen in meinem Auftrag die Tiere, die ich später gerne esse.

Alles, was lebt, dient der Nahrungsaufnahme anderer Lebewesen. Dabei existiert keine richtige Hierarchie. Es ist nicht einbahnig so, dass die Größeren die Kleineren fressen. Das Umgekehrte gilt genauso.

Wir haben bisher nur von den Lebewesen gesprochen, weil wir davon ausgehen, dass leblose Teile der Natur wie die Steine keine Nahrungsaufnahme brauchen. Wir unterstellen gern, dass die Nahrungsaufnahme mit dem Gras oder mit den kleinen Lebewesen anfängt. Ich möchte mich nicht in Fantastereien hineinwagen, ich kann mir aber auch vorstellen, dass das Wasser etwa Mineralien zum Leben erweckt. Chemische Reaktionen rufen aus Leblosigkeit Leben hervor. Es ist sicherlich so, dass Leben nicht nur von Leben hervorgebracht wird. Das Wasser ist die Mutter des Lebens, sowohl in den Mythen der Völker als auch in der Wirklichkeit. Die Wissenschaft sucht im Universum nach Wasser, denn wo Wasser ist, wird Leben vermutet. Wasser allein ist nicht das Leben, Wasser ist eine chemische Verbindung von zwei Elementen. Wasser kann aber Leben hervorrufen, wenn es in Kontakt mit anderen Elementen der Natur, mit der Erde, dem Licht und der Luft kommt. Alle diese vier Elemente sind keine Lebewesen, sind aber Quellen des Lebens, wenn sie zusammenkommen, alle vier werden in den Mythen der Völker als Götter beschrieben.

Darf man diese Veränderungen, diese chemischen Verwandlungen auch als Nahrungsaufnahme, als Verwertung und Assimilation verstehen? Im Prinzip ja, wenn man Wörter als Bilder versteht.

Und wenn wir schon beim Universum und bei den Bildworten sind: Im Universum hat man seit einiger Zeit schwarze Löcher entdeckt. Anfang 2012 haben Astrophysiker ein riesiges schwarzes Loch in der Milchstraße, in ›unmittelbarer Erdnähe‹ (zwölf Millionen Lichtjahre, also einen kosmologischen Katzensprung von uns entfernt) endgültig festgestellt und dabei entdeckt, dass alle Sterne, die in das Loch fallen ›verschluckt‹ werden, im Loch verschwinden, und dass das Loch selbst bald eine riesige Gaswolke zerreißen und herunterschlucken wird. Man redet auch hier von einem ›himmlischen Mahl‹.

Frisst also auch das Universum? Astrophysiker selbst benutzen diese Wörter und Bilder, weil zu diesem Zeitpunkt auch die Bestinformierten unter ihnen nicht wissen, was hinter dem Ausdruck ›fressen‹ oder ›verschlucken‹ wirklich steht. Schwarze Löcher stellt man sich als riesige Ansammlung von Materie vor, die mit ihrer Gravitationskraft weitere Materie anzieht und komprimiert. So stark ist die Kraft, dass nicht einmal das Licht entrinnen kann.

Da die Erde vom zuletzt observierten Schwarzen Loch einen Katzensprung entfernt ist, könnte es wohl passieren, dass auch sie ›bald‹ hineinfällt. Astrophysiker meinen, durch die Schwerkraft würde die Erde auf die Größe eines Tennisballes komprimiert: dann wäre sie ein echtes Häppchen und könnte ganz einfach verschluckt werden. Das könnte aber frühestens in 1,5 Milliarden Jahren geschehen, also für uns keine unmittelbare Bedrohung. Und es kann wohl sein, dass die Erde vorher ein anderes Schicksal ereilt, nämlich durch die Ausdehnung der Sonne ›vertilgt‹ zu werden.

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