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Verdauen und Gebären. Assimilation und Recycling

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Das Universum ist natürlich weder ein riesiger Verdauungsapparat noch ein riesiger Phallus oder eine gewaltige Gebärmutter. Verdauung und Gebären geschehen aber im Universum und – was wir definitiv besser bezeugen können – sie geschehen auf der Erde. Den Sprung von der schlichten Beschreibung dieser natürlichen Tätigkeiten von Zeugen und Gebären, Essen und Verdauen zum Bild für das Universum verdanken wir der menschlichen Tätigkeit der Mythisierung. Nicht nur werden natürliche (in diesem Fall: menschliche oder tierische) Organe und Tätigkeiten der Erde und dem Universum zugeschrieben, es wird sogar behauptet, dass die Erde selbst und das Universum ein Magen, eine Gebärmutter oder ein Phallus sind. Somit werden diese Organe zu Personen, weil die Erde und das Universum als Personen dargestellt werden. Es fehlt nur ein kleiner Schritt und die Erde (Gaia) und das Universum (Uranus) werden als Götter angesehen. Wir wollen hier aber nicht ins Mythische flüchten.

Eine gewaltige Vorstellung reizt allerdings unsere Fantasie: Das Universum und die Erde fressen kontinuierlich ihre Kinder und bringen neue hervor. Bilder sind meistens aussagefähiger als die bloße Schilderung der Phänomene, frischer als deren langweilige biologische Erklärung.

Es sind tatsächlich gewaltige Dimensionen. Auf Erden stirbt jede Sekunde bestehendes Leben und jede Sekunde entsteht neues Leben. Zwischen Anfang und Ende eines Lebens in einer globalen Gleichzeitigkeit wird gegessen, verdaut und assimiliert. Um weiter zu leben oder um zu sterben, damit aus toter Materie neues Leben entsteht. Unser Tod gibt dem neuen Leben Nahrung.

Die Lust, neues Leben zu gebären, ist nicht weniger stark als die Lust zu essen. Die Fortpflanzungsmethoden sind äußert differenziert, aber die Natur, die Pflanzen wie die Tiere und die Menschen, haben viele Wege gefunden und erfunden, um sich fortzupflanzen. Und die Freude der Pflanzen, neue Knospen hervorzubringen, ist gewiss vergleichbar mit der Freude der Tiere und der Menschen am Geschlechtsakt, die sie dazu lockt, Kinder auf die Welt zu bringen. Man muss nur zusehen, welche Farbigkeit, welche Vielfalt die Flora entfaltet und wie die Blumen mit ihrer Freude deren Umgebung, die Insekten und die Menschen, anstecken. Frühling nennt der Mensch diese Zeit der Erholung, der Neubelebung der Natur. Es ist ein Fest auf Erden, wenn die Natur sich wieder erholt und neues Leben hervorbringt.

Manche Tiere und die Menschen kennen eigentlich keine Jahreszeit, um Nachkommen zu zeugen und zu gebären. Wenn aber das Gefühl sie zum Partner hinzieht, dann reden sie auch gern vom ›Frühling‹, selbst wenn es Winter ist.

Auch hier können wir innehalten. Nicht nur beim Essen und Verdauen gibt es keine Pausen auf Erden, sodass wir vom Universum als einem gewaltigen Verdauungsapparat sprachen. Bei der Fortpflanzung ist es genauso. Es gibt jede Sekunde auf Erden Pflanzen, die sich reproduzieren, Tiere und Menschen, die Nachkommen zeugen und gebären. Ein nicht enden wollendes Treiben, damit die Natur neue Triebe hervorbringt.

Geburt und Tod des Lachses symbolisieren bestens den Kreislauf von Geburt, Tod und Geburt: Die Wildlachse werden in den Oberläufen der Flüsse geboren. Dort entschlüpfen sie den von ihrer Mutter gelegten Larven und ein Jahr später schwimmen sie ins offene Meer, wo sie sich wie alle anderen Wassergenossen als Fischräuber betätigen, um zu wachsen und kräftig zu werden. Von dort aus kehren sie drei Jahre später zu ihrer Brutstätte zurück, um dort selbst zu laichen.

Hier werden sie allerdings von der dort lebenden Fauna erwartet: Grizzlies, Schwarzbären, Wölfe, Adler, sonstiges Gefieder geben sich das Stelldichein und warten friedlich und geduldig auf die Ankunft der Lachse. Diese sind von der langen Reise aus dem Meer, aber auch vom Paaren und Laichen völlig erschöpft und wehrlos. So werden sie von einer Vielzahl sie erwartender Tiere verspeist.

Was von den Tausenden von Lachsen übrig bleibt, wird von anderen Tieren gefressen. Würmer und Insekten trennen die letzten Reste von den Fischgräten, und den Rest verwandelt das Moos in Naturdünger für die Bäume und die sonstige Flora. Die wenigen Lachse, die es schaffen, den Raubtieren zu entgehen, verenden schließlich am Ziel und werden wiederum verwertet.

Es bleiben aber genug Larven übrig, aus denen wiederum unzählige Lachse schlüpfen, die erneut ins Meer schwimmen, um drei Jahre danach zurückzukommen. Das Leben und der Tod und das Leben gehen weiter.

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