Читать книгу Wir sterben und wissen nicht wohin - Tullio Aurelio - Страница 8
Ungereimte Verse – Meine Begegnungen mit dem Tod
ОглавлениеEines ist mir aber sehr wichtig: Keiner soll von mir veranlasst werden zu behaupten, dass ich aus Oberflächlichkeit oder gar Arroganz schreibe. Ich bin dem Tod nah genug gewesen, und zwar näher als jeder, der Tote professionell zum Grab begleitet.
Die nächsten Seiten sind nicht einer voyeuristischen Versuchung geschuldet, auch nicht dem Wunsch, sich in die heutige Gesellschaft der sich gern Outenden einzureihen und ungeniert über ihr intimes Leben zu erzählen.
Das bloße Nachplappern des über den Tod Gelesenen und noch nicht Verdauten wäre eine Zumutung. Das Thema Tod will ganz erst, ja persönlich betrachtet werden. Und ich vermute, dass viele Leser weniger das Bedürfnis haben, zu erfahren, ob es irgendwo eine Vorhölle gibt, als zu wissen, was der Tod für uns persönlich bedeutet.
Irgendwann, als ich jünger war, habe ich in der Not ungereimte Verse geschrieben. Ungereimte Verse sind aus der vollkommenen Symphonie einer formvollendeten Prosa herausfallende, gebrochene Verse.
Der erste Vers hieß »Mit dem Infarkt fing es an«:
Mit dem Infarkt fing es an
Mit dem Ende einer eingebildeten Welt die
Die Gegenwart bedrohte
Zerbrochene alte Einbildungen
Das Heimatgefühl
Der verlorene klare Himmel
Die vermissten Düfte am Seestrand
Das verlernte Haus der Muttersprache
Der verlorene Glaube an den Glauben
Das erlernte Misstrauen in den Menschen
So viele Ausrufezeichen ersetzt
Durch Frage
Zeichen
Und ich lernte sterben
Step by Step
Stückchenweise
Ohne es zu merken
Bis auch neue Einbildungen
Aufgegeben werden mussten
Da wurde es so glaube ich
dem alten Herzen
zu viel
und es barst
Beim Ultraschall nach dem Infarkt rief der untersuchende Arzt bestürzt: »Da hat es aber gekracht in Ihrem Herzen« und murmelte vor sich hin die seines Erachtens nur noch sinnvolle Lösung: »Bypassoperation mit gleichzeitiger Reduzierung des Herzens: Das Aneurysma (die durch den Infarkt entstandene tote Fleischnarbe) müsste weggeschnitten werden, damit der Rest noch eine Überlebenschance hat.« Ich kann mich noch gut erinnern, was mir damals in den Sinn kam: »Den Traum eines langen Lebens hast du ausgeträumt.« – Es war die erste Berührung mit meinem eigenen Tod. Es blieb nicht allein bei dieser, aber trotz wiederholter Berührungen durfte ich die entscheidende Begegnung bislang aufschieben.
Der Chirurg, der bei mir die Bypassoperation durchführen sollte, kam am Tag zuvor in mein Zimmer. Er stammte aus Neapel, und so sprach er mit mir sehr deutlich in unserer Muttersprache: Es könnte sein, dass die Operation aufgeschoben werden müsste, weil die Herz-Lungenmaschine in einer anderen Stadt benötigt werde. Da ich damals noch viel weniger von Medizin verstand als jetzt, fragte ich, wozu man den Apparat brauche. Er meinte, es sei ja nicht sicher, dass die Operation gelinge. Wäre ich um die 60, würde er mich auf dem Operationstisch liegen lassen, da ich aber noch jung sei, würde er versuchen, mich am Leben zu halten.
Das war die zweite Berührung mit dem Tod, aber noch immer die Andeutung eines zu vertiefenden Kennenlernens. Ich war im tiefsten Sinn des Wortes berührt und erschüttert.
By-pass – »Ich fürchte, der Herr geht an mir vorbei« »Timeo dominem transeuntem«, sagte mein Namensvetter Aurelius Augustinus.
Und so ging ich in die Krankenhauskapelle – ich brauchte Trost und Ruhe. Aber der Zeitpunkt war sehr ungünstig gewählt. Der Seelsorger war gerade dabei, die Predigt zu halten. Er sprach über die Matthäusgemeinde, jene Gläubigen, die in der christlichen Gemeinde lebten, in der Matthäus, der erste Evangelist, wirkte. Gefühlsmäßig weit weg war mir diese fremde Welt der Matthäusgemeinde, ich hatte andere Sorgen, andere Gedanken. Ich ging zurück auf mein Zimmer und tröstete mich mit dem biblischen Satz: »Gott ist größer als dein Herz.«9
Danach kam ein großes Loch. Schwarz und undurchdringlich. Nur Schatten blieben übrig, in der Tiefe meines Bewusstseins bewegten sich wirre, schattenhafte Träume und angstvolle Zustände. Auch die Erinnerungen sind schattenhaft, wenn man von Erinnerungen reden kann.
Ich kann mich nicht entsinnen, dem Tod begegnet zu sein. Wahrscheinlich wollte er mich auch diesmal nur sehr ernsthaft warnen. Er war mir aber sicher näher gekommen als je zuvor.
Die Ärzte hielten mich sieben Tage lang betäubt. Die Bypassoperation war technisch gelungen, aber das Herz wollte nicht mehr. Als ich aufwachte, hatte ich in meiner Brust ein neues Herz.
Die Fragen meiner Bekannten beantwortete ich mit Höflichkeit.
Man wollte wissen, ob ich in dieser Zeit des Zwischenzustandes zwischen Leben und Tod Jenseitserfahrungen gemacht hätte. Hatte ich nicht, eher die diesseitige Erfahrung der dunklen Nacht.
Ein Freund wollte wissen, ob das neue Herz auch meinen Charakter verändert hätte. Inzwischen hatte ich gelernt, dass das Herz nicht das symbolkräftige Zentrum des Menschen ist, sondern eine schlichte Pumpe, die das Blut in die Blutbahnen schleust. Und so konnte ich den Freund beruhigen: Nein, ich bin noch der Alte.
Meine eigene Frage war eine andere. Ich wollte noch leben, natürlich nicht nur für mich, sondern auch für und mit meiner Familie. Ich fragte irgendwann einen Chirurgen, wie lange die Lebenserwartung eines Menschen mit transplantiertem Herzen sei. »Fünf Jahre« war die Antwort damals. Die damalige statistische Basis erlaubte dem Feinmetzger keine andere wissenschaftlich fundierte Antwort. »Und dann?«, fragte ich weiter. »Dann machen wir die Brust wieder auf und setzen ein neues Herz ein.« Das war vor 25 Jahren die Antwort auf die Frage, die mich am stärksten bewegte.
Vor vier Jahren, also 21 Jahre nach der Transplantation, meldete sich das alt gewordene neue Herz wieder, es wollte einen Stent. Es bekam ihn. Damals schrieb ich im Krankenhaus mein Buch über Gott zu Ende und war gar nicht froh, zum Schluss zu bekennen, dass ich von ihm keinen Schimmer habe. Ich hätte gern etwas von ihm erfahren. War ich nur taub oder blind? Es kann sein, aber die Menschen, die meinen, das Bekenntnis, dass man von Gott nichts weiß, sei reinster Chauvinismus, sie irren sich. Es steckt eine lange, ernsthafte Reise dahinter.
Damals, vor vier Jahren – hörte ich von einem Facharzt, dass das transplantierte Herz im Durchschnitt 20 Jahre überlebt. Also ich bin erneut überdurchschnittlich lange am Leben geblieben – ein echter Überlebender oder ein noch Überlebender. Den Atem von Bruder Tod spüre ich immer wieder im Nacken. Ich lebe weiter und einer Gewissheit reicher: Der Tod hat mich noch nicht mitgenommen, aber er versucht es wieder.
Dies erzähle ich alles, damit keiner nach der Lektüre dieses Buches meint, ich hätte dem Thema nicht den gebührenden Ernst gewidmet. Das Thema Tod ist mir todernst.
Ich habe ihn hautnah gespürt. Er hat meine Haut mit seiner knochigen Hand gestreift. Diese Erfahrung hat mich am stärksten geprägt und meine Wertvorstellungen, auch meine Vorstellungen über Gott, in Frage gestellt.
Selbstredend sind in den vergangenen Jahren auch Bekannte und Freunde von mir gestorben, auch Familienangehörige. Unter den vier Todesfällen in meinem engsten Umfeld hat der Tod einer nahen Verwandten tiefe Spuren hinterlassen. Es geschah in meinen jungen Jahren, und dieser Fall markierte den existentiellen Beginn aller Zweifel über Glauben und religiöse Vorstellungen über den Tod.
Sie war knapp über 26 Jahre alt und wurde vom Tod mitgenommen. Sie war körperlich gesund, aber etwas depressiv, und nach dem Tod ihres kleinen Kindes wollte auch sie nicht mehr leben. Sie rief selber Bruder Tod, und er kam wie bestellt.
Schwarz war das Plakat an der Tür ihres Hauses. Die Verstorbene wurde den Gebeten der Mitmenschen anempfohlen. Der Pfarrer hatte sich aber dem Wunsch nicht angeschlossen und sich nicht im Stande gesehen, der Verstorbenen das kirchliche Begräbnis zu gestatten. Damals war man der festen Überzeugung, die Selbstmörder (so wurden sie auch genannt) machten sich vor Gott einer nicht wiedergutzumachenden Sünde schuldig, einer folgenschweren Todsünde, die nicht wieder vergeben werden konnte, da der Täter beim Vollzug der Sünde starb.
Ich habe diesen Pfarrer besucht. Ich versuchte, krampfhaft einen Grund zu finden oder wenigstens mildernde Umstände, die eine kirchliche Abschiedsfeier von meiner Verwandten hätte ermöglichen können, ein irdisches Zeichen, dass Gott sie doch zu sich genommen hatte. Ihre ältere Schwester, die die Sterbende im Auto zum Klinikum begleitet hatte, erzählte, sie hätte diese aufgefordert, zur Mutter Gottes zu beten, dass sie wieder gesund werde. Aber die Sterbende soll geantwortet haben, lieber sterben zu wollen.
Der mit dem schwarzen Dreispitz geschmückte Kopf des Pfarrers nickte traurig und hoffnungslos: »Sie war uneinsichtig und ohne Reue. Wir müssen davon ausgehen, dass sie weit weg von Gottes Angesicht in der Hölle ihre Strafe büßt.«
Die Hölle war damals nicht nur die Abwesenheit Gottes. Das wäre, um ehrlich zu sein, für Nicht-Theologen, zumal für das einfache Volk, irgendwie sehr wohl erträglich gewesen. Den Zustand ertragen sie ja – wenn sie ehrlich sind – ein ganzes Leben, und zwar ganz passabel.
Nein, die Hölle war damals viel mehr. Man muss sie sich so vorstellen: Viele Teufel mit dreizackigen Gabeln entfachen ein starkes Feuer. In diesem Feuer befinden sich die Verdammten. Einige von ihnen werden in heiße, mit brennendem Öl gefüllte Kessel geworfen und dort festgehalten. Und dies ohne Hoffnung auf Veränderung in alle Ewigkeit. Sogar ohne die kleinste Hoffnung auf die Wohltat der Vernichtung der Seele. »Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate«, schrieb Dante: Gebt jede Hoffnung auf, die ihr hier hineingeht. Irgendwie eine grausame Vorstellung, besonders für die noch lebenden Verwandten.
Und doch brachte mir der Pfarrer so behutsam bei, wie er es nur in seiner seelsorgerlichen Fürsorge vermochte: Die Gerechtigkeit Gottes verlangt es. – Die Gerechtigkeit Gottes oder die selbst eingebildete Gerechtigkeit einer Kirche mit dem falschen Sinn von Barmherzigkeit.
Die Hölle ist der zweite Tod. Den dritten Tod starben damals die Opfer der kirchlichen Seelsorge.
Das sind meine eigenen Erfahrungen mit dem Tod, und ich darf mich glücklich wähnen, dass ich mich an sie erinnere und sie noch erzählen kann. Sie stehen hinter meinem Suchen nach Antworten über die Frage nach Gott und über den Tod.
Diese Suche ist existenziell begründet, deshalb todernst. Mich interessiert, was mit mir oder stellvertretend für mich, mit meinem Selbst, meiner Seele, oder wie man es nennen möge, geschieht.
Die Antworten, die ich fand, sind großartige und faszinierende Bilder einerseits, andererseits sind sie verwirrend unscharf in ihrem Wahrheitsgehalt. Zum Schluss meiner Suche bin ich also einer Antwort auf meine Frage nicht näher gekommen.
Zwei Überzeugungen begleiten mich weiterhin: Ich möchte nicht so schnell in den Himmel, möge es dort so schön sein wie viel beschworen. Ich möchte leben. Und ich möchte, dass nicht nur meine Seele lebt, sondern ich, so wie ich bin. So lange wie möglich.
Ob nach meinem Tod mein Leichnam verbrannt oder begraben wird, ob meine Asche in die Erde gesenkt wird oder sie den Winden anvertraut wird: Das wird mich – vermutlich – nicht mehr berühren. Die, die mich überleben, sollen entscheiden, was für sie gut ist. Sie sollen das tun, was sie meinen, dass es auch für mich gut ist.
Aber das Fleisch, meine Biomasse, wird so oder so von den Elementen dieser Erde wieder einverleibt. Denn Staub bin ich und zu Staub werde ich wieder zerfallen.
Wird das alles sein?