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Auch Menschen sind Blumen

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Verstehen wir es nicht romantisch. Die hier von Rilke angedeutete Ähnlichkeit zwischen den Blättern und dem Menschen bedeutet zunächst eins: Auch der Mensch ist vergänglich.

Die Erfahrung, dass auch der Mensch hinfällig ist, haben wir noch nicht an uns selbst gemacht, und wir wissen gar nicht, ob wir diesen Augenblick, wenn es so weit ist, selbst ›erfahren‹ werden oder nicht. Was wir nicht mit Bestimmtheit wissen – das unterscheidet viele von uns von Rilke –, ist, ob Einer unser Fallen »in seinen Händen hält«.

Wenn wir Glück im Leben haben, erleben wir das Sterben und den Tod anderer Menschen. Denn man kann durch das Erleben des Todes, von dieser Grunderfahrung menschlicher Existenz, viel lernen, auch wenn es um den Tod eines anderen Menschen geht.

Meistens sterben die Menschen, wenn sie alt geworden sind: rostgelb, leider aber selten romantisch schön wie das Herbstlaub. Sie sind eher welk und faltig – eben alt, oft sogar krank: ein Sinnbild der Vergänglichkeit.

Es gibt eine Umkehrung der Symbolik des fallenden Laubs oder der vergänglichen Blumen. Wenn der Mensch stirbt, wird er in Blumen gebettet. Wenn sein Leichnam in die Erde gesenkt wird, schmücken Blumen sein Grab. Aber beides: Leichnam und Blumen werden welk, kompostieren gemeinsam und werden gemeinsam Erde. Erde zu Erde, Staub zu Staub.

Der Tod beginnt lange vor dem Tod und will nie enden.

Und es gibt viele Arten zu sterben. Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod, und dieser ähnelt kaum dem Tod eines anderen. Man kann Todesarten typisieren: Tod durch Verkehrsunfälle, durch Erdbeben, Tod durch Mord und sonstige Gewalt, Tod durch Selbstmord. Nicht zu vergessen ist der Hungertod, der, wie man hört und liest, gar nicht so selten sein soll. Er soll besonders Kinder treffen. Es soll sogar vorgekommen sein, dass hungrige Menschen andere Menschen getötet und gegessen haben. Der Tod durch Durst soll noch grauenvoller sein. Dann der Tod durch Krankheit: Zu beobachten sind dem Tod geweihte kranke Menschen besonders in den Krankenhäuser, wo nicht nur Krankheiten und Ärzte zu Hause sind, sondern auch der Tod. In fortschrittlichen Ländern stirbt man vorzugsweise in den Krankenhäusern. Krankenhäuser sind zu gefährlichen Orten geworden.

Der Mensch muss nicht unbedingt krank sein, damit man ihm seine Vergänglichkeit anmerkt. Im Alter blättert der Mensch gleichwohl ab, durch die kahlen und kraftlosen Glieder schimmert das Skelett des Todes noch vor dem Tod hindurch.

Man stirbt auf jeden Fall. Man stirbt in jedem Alter, aber wenn man das Glück hat (ist das wirklich ein Glück? – vielleicht doch nicht für alle), ein hohes Alter zu erreichen, beginnt die Hinfälligkeit. Die Medizin versucht ständig, das Alter des Menschen weiter zu verlängern. Aber irgendwann sind wir doch alle dran.

Wenn man so weit ist, meinen oft sogar die Nahestehenden, dass man eigentlich (oder endlich) sterben könnte, dürfte, sollte oder müsste.

Wenn man unheilbar krank oder im weit fortgeschrittenen Alter ein Pflegefall oder gar eine Plage für die Nächsten geworden ist, dann sind oft auch die Nächsten froh – wir wollen ja ehrlich sein –, wenn man endlich stirbt. Könnten die Toten noch hören (und viele meinen, unser Geist lebt und hört doch weiter), dann würden sie die nahen Verwandten, denen sie zur Plage geworden waren, hören, wie sie erleichtert seufzen und sagen, der Tod hätte den Verstorbenen erlöst. Sie meinen natürlich, dass auch sie selbst – die noch Lebenden – erlöst wurden. Zu diesen Anlässen ist Feinfühligkeit angebracht.

Antoine de Saint-Exupéry erzählt vom Schicksal schwarzer Sklaven in Nordafrika. Frühere Könige, Stammesfürsten und Prinzen wurden von den Kolonialherren Ihrem Volk entrissen und als Sklaven verkauft. Der Sklave vergisst sein Land, sein Volk, seine Frau und seine Kinder. Er lässt alles hinter sich und lässt zu, dass die Vergangenheit für ihn stirbt. Er fügt sich seinem neuen Herrn, seinem Schicksal. Gegen die Sicherheit von Brot und Wasser wird er Sklave und verrichtet für seinen Herrn die Dienste, die dieser braucht. Dann geht auch sein ›zweites Leben‹ zu Ende:

»Eines Tages freilich lässt man ihn los. Wenn er nämlich so alt ist, dass Nahrung und Kleidung an ihn nur verschwendet wären, dann lässt man ihm völlige Freiheit.

Drei Tage lang bietet er sich vergeblich von Zelt zu Zelt rundum an. Täglich wird er schwächer und gegen Ende des dritten Tages legt er sich ergebungsvoll in den Sand, um nie wieder aufzustehen. Ich habe bei Juby Menschen nackt im Sand sterben sehen. Die Einheimischen gingen achtlos, aber ohne Grausamkeit an ihrem langwährenden Todeskampf vorbei. Ihre Kinder spielten dicht neben dem düsteren Wrack und liefen jeden Morgen nachzusehen, ob es sich noch bewegte. Aber sie verhöhnten den alten Diener nicht. Es war ja die natürliche Weltordnung, als ob man dem Sklaven sagte: Du hast brav gearbeitet, nun darfst du dich ausruhen; geh zu Bett! Darum spürte der Mann, der dort lag, nur den Hunger und nicht die Ungerechtigkeit der Menschen.

Der Hunger aber ist nur ein Schwindelgefühl, kein großes Leiden. Nur Ungerechtigkeit vermag Schmerzen zuzufügen. Dreißig Jahre Arbeit und dann das Recht auf Schlaf und ein Fleckchen Erde. Kein Wort der Klage hörte ich bei dem Ersten, den ich so traf. Gegen wen auch hätte er klagen sollen? Ich spürte, dass er im Grunde dumpf einverstanden war mit dem, was ihm geschah.«13

Es gibt viele Arten zu sterben, unbemerkt und ohne Aufsehen zu erregen.

Den Tod im Alltag nimmt man inzwischen mit Achselzucken zur Kenntnis. Menschen sterben in ihrer Wohnung allein und anonym, wie sie gelebt haben, und werden erst Tage später entdeckt. Die Nachbarn kennen den Toten manchmal gar nicht. Wie können sie bedauern, dass er tot ist. Verwandte hatte er keine, oder wenn schon, er ist für sie längst vor seinem Tod tot gewesen.

Heute sterben Menschen sogar am Straßenrand. An ihnen laufen wir oft vorbei. Wir beschimpfen sie nicht als Penner und Faulenzer, wir können ihnen aber nicht helfen, sicherlich nicht allen, denn sie scheinen inzwischen Legion zu werden. Also gehen wir an diesen elenden Haufen vorbei und wir gewöhnen uns daran. Es hält uns ja gesund, dass wir uns daran gewöhnen, dass wir an diesen Haufen Elend ohne Rührung vorbeilaufen. Und es kann sein, dass wir auch an einem Haufen vorbeilaufen, in dem kein Leben mehr ist, der einen toten Menschen verbirgt.

Beim Studium der aristotelischen Logik lernten wir die Gesetze des Syllogismus anhand eines klassischen Beispiels: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich. Keiner kann etwas gegen diese logische Schlussfolgerung einwenden. Und keiner wird auch heute noch dadurch beunruhigt. Sokrates ist bekanntlich gestorben, die logische Übung ist also eine Trockenübung ohne Emotionen. Sokrates’ Tod lässt uns völlig kalt. Ob es logisch notwendig ist, zu sterben oder nicht, das spielt im Fall von Sokrates keine Rolle mehr. Er und sein Tod tangieren uns nicht. Er ist zu weit weg von uns – räumlich und, noch mehr, zeitlich. Er hat etwa vor 2500 Jahren gelebt, also noch 500 Jahre vor Augustus. Und dessen Tod macht uns auch nicht mehr traurig.

Man braucht aber in der Geschichte nicht so weit zurückzugehen. Wir haben uns längst an den alltäglichen Tod gewöhnt. Zeitungen sind voll davon, die Nachrichtensendungen verkünden es, und in allen Sprachen der Welt kontinuierlich und unaufhörlich. Bei Massenkarambolagen und Massenmorden sind es gleich Hunderte von Toten, die zu melden sind. Noch krasser ist es bei Erdbeben, Tsunamis und sonstigen Naturkatastrophen. Was ein Mensch oder eine Menschenmenge mangels Mittel und Zeit nicht ohne Weiteres schafft, schafft die Natur spielend. Da sind leicht Tausende von Toten zu zählen. Aber auch der Mensch, als gut geübter Killer, kann es auf Tausende von Toten im Laufe von Monaten oder, wenn es sein muss, von Wochen bringen. Dafür hat er zum Beispiel den Krieg erfunden.

Das alles lässt uns kalt, es muss uns ziemlich kalt lassen, wenn wir gesund leben und nicht verrückt werden wollen, solange wir leben. Eher beklagen wir die Tatsache, dass die Medien immer makabrer werden und uns unentwegt nur oder fast nur solche Katastrophenmeldungen bringen. Ein bisschen mehr Rührseligkeit bringen wir zustande, wenn wir hören, dass Kinder von Bomben zerfetzt werden.

Man muss sich mit dem Tod abfinden: Jede Minute sterben weltweit etwa 100 Menschen (davon 18 Kinder), 32 sterben an Herzinfarkt, 13 an Krebs, 26 an Suizid, 1 durch Krieg.

Das sind Statistiken der World Health Organisation, die die Absicht hat, uns zu beeindrucken. Tatsache ist, wir bleiben davon ziemlich unberührt. Der Mensch ist eben sterblich, oder, ein wenig stärker mitfühlend: Man stirbt leider, so oder so.

Die Natur, die ›Mutter‹ Erde, behandelt uns wie der Baum sein Laub. Wenn der ›Winter‹ kommt, werden wir abgeworfen, und der Verdacht drängt sich auf, dass die Natur, die ›Mutter‹ Erde, dadurch sich selbst leichter fühlt und besser überwintern kann: Im nächsten ›Frühling‹ wird sowieso neues Leben auf Erden sprießen. Die Aufgabe unserer aller ›Mutter‹ ist nicht nur, uns zu gebären, sondern auch uns zu bestatten.

So gesehen muss der Tod des Menschen für die Erde – wie das Abfallen des Laubs im Herbst – gar nichts Schlechtes sein, er ist wahrscheinlich für die Erde sogar das Beste.

Die Erde ist wie ein lebendes Geografiebuch: Beständiges – Meere, Wüsten und Berge – wird für die Ewigkeit verzeichnet. Alles Lebende ist vergänglich. Unser Name – wenn überhaupt – wird auf einer Grabstele eingemeißelt sein. Und er wird nur noch die rühren, die mit uns ›vertraut‹ waren, sich mit uns verbunden fühlten. – Wie der kleine Prinz und seine Rose.

Wir Menschen halten uns für was Besonderes. Das Schicksal des Sterbens macht uns aber allem Lebenden gleich, den Tieren ohnehin und auch dem Gras.

Alles Fleisch ist Gras. Es schaut sich nach der Geburt kurze Zeit neugierig auf Erden um, dann welkt es und stirbt dahin. Manches Fleisch hat nicht mal die Zeit und das Glück zu welken. Das Leben in ihm wird oft gleich nach der Geburt brutal ausgemerzt.

Wohin mit all den Toten? Das Gras verdorrt und wird Erde, die Erde wird wieder Gras und das Gras Erde. Dem gleichen Schicksal sind auch die Tiere unterworfen. Geschieht etwa auch mit uns das Gleiche? Ist auch unser Leben dadurch gezeichnet? Vieles spricht dafür: Vom Staub kommst du und zum Staub wirst du zurückkehren. Und je länger wir den Menschen kennenlernen und erfahren, desto stärker ähnelt er den Tieren. In jeder Hinsicht.

Wir sterben und wissen nicht wohin

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