Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 11
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ОглавлениеMatty und Jörn öffneten das Gatter. Ich trat unwillkürlich ein paar Schritte zur Seite, denn die Pferde schienen so ungeduldig darauf zu warten, in den Stall zu kommen, daß ich fürchtete, sie könnten wie die wilde Jagd herausstürmen.
Es gab jedoch nur ein ziemliches Geschubse und Gedränge, während Matty und Jörn rechts und links vom Gatter Aufstellung nahmen und den Pferden gelegentlich etwas zuriefen. „Ganz ruhig, Marnie!“ – „Laß Isabell in Ruhe, Joschi!“ – „Dräng dich nicht schon wieder dazwischen, Ask!“
Die Pferde ähnelten einer Horde von Erstkläßlern, die nach Unterrichtsschluß aus der Schule stürmen. Etwa fünfzig Pferde zählte ich; es konnten aber auch ein paar mehr oder weniger sein. Als sie alle die Koppel verlassen hatten und zwischen den Zäunen zum Hof zurück trabten, schloß Matty das Gatter, und ich half ihm dabei.
Die Dämmerung senkte sich schon über das Tal mit den Wäldern und Wiesen. Ich warf einen Blick aufs Kavaliershäusl, das wie ein Spielzeughaus hinter der Eiche stand. Das Küchenfenster war erleuchtet, und es ging mir durch den Sinn, daß mein Vater sich fragen mochte, wo ich so lange war. Es wäre wohl fairer gewesen, ihm Bescheid zu sagen; doch ich war zu stolz und trotzig, um es zu tun. Ich dachte: Er soll sich nur Sorgen machen und sehen, wie es ist, wenn auch ich eigene Wege gehe!
In meine Gedanken hinein sagte Matty: „Da kommt ja der Sepp!“
Ich drehte mich um und sah einen Mann auf dem Fahrrad über die Auffahrt kommen. Er war noch ziemlich jung und hatte ein breites Gesicht mit struppigen, weizenblonden Haaren. Er nickte Matty zu, bedachte mich nur mit einem kurzen Blick und radelte an uns vorbei zum Hof, wo Jörn gerade mit den letzten Pferden um die Ecke zum Stall verschwand.
„Hast du wirklich noch Lust, beim Striegeln zu helfen?“ fragte Matty. „Du mußt doch hundemüde sein. Wenn man die Stallarbeit nicht gewöhnt ist, schafft sie einen ganz schön.“
„Ach, eine Zeitlang kann ich euch schon noch helfen. Ich hab noch nie ein Pferd gestriegelt. Ist das schwierig?“
„Wie man’s nimmt. Es kommt ziemlich auf die Pferde an“, erwiderte Matty, während wir zum Stall zurückgingen. „Manche sind nervös und angriffslustig, da muß man ständig aufpassen. Andere sind lammfromm und lassen alles mit sich machen, da ist’s ein Kinderspiel. Heute abend nehmen wir’s sowieso nicht mehr so genau. Wir sind ja nur zu viert, und es ist schon spät.“
Jörn und Sepp brachten die Pferde gerade in ihre Boxen, als wir wieder in den Stall kamen. Das heißt, die meisten Pferde gingen ganz von selbst hinein; nur die Türen mußten noch hinter ihnen geschlossen werden.
„Gefüttert und getränkt werden sie später“, erklärte mir Jörn. „Zuerst müssen sie mal sauber sein. Auf der Koppel ist der Boden noch ganz aufgeweicht, da sehen sie immer wie die Erdschweine aus.“
Ich ging mit Matty in Hazels Box und sah zu, wie er ihre Hufe mit einem Hufkratzer ausräumte. Die braune Stute war so gutmütig, daß sie freiwillig einen Hinterfuß nach dem andern hob.
„Wenn sie bloß alle so wären!“ sagte Matty. „Hier, willst du’s mal versuchen?“
Er reichte mir einen zweiten Hufkratzer, und ich bückte mich und sah mir die Unterseite von Hazels rechtem Vorderhuf an. Im Hohlraum steckten Erde und ein kleiner Stein, und ich begann langsam und mit großer Vorsicht alles herauszupulen.
Meine Hände zitterten vor Aufregung. Als ich aufsah, merkte ich, daß Hazel den Kopf gesenkt hatte und mich mit ihren sanften Augen aufmerksam beobachtete.
„Gut macht sie das, nicht, Mädchen?“ sagte Matty. „Lieber ein bißchen zu vorsichtig als zu grob. Prima, dann kannst du auch gleich noch den anderen Vorderhuf auskratzen, während ich anfange, ihr Fell sauberzumachen.“
Ich richtete mich auf, und Matty fügte hinzu: „Merk dir gleich mal eins, Nell: Geh nie hinten um ein Pferd herum! Bei Hazel wäre das nicht so schlimm, aber die meisten Pferde erschrecken, wenn sich unerwartet etwas hinter ihnen bewegt, und es passiert leicht, daß sie ausschlagen.“
Ich nickte stumm und zwängte mich zwischen Hazels Kopf und dem Futtertrog durch auf die andere Seite. Die Stute beschnupperte mich mit gespitzten Ohren. Und als ich mich bückte und ihren linken Vorderhuf berührte, hob sie ihn genauso willig wie vorher bei Matty.
Nachdem wir mit Hazel fertig waren, folgte ich Matty in die nächste Box zu Solveig, der Stute mit der hellblonden Mähne. Jörn und Sepp arbeiteten auf der anderen Seite der Stallgasse. Die Pferde prusteten und schnaubten; manchmal stampfte eines heftig mit den Hufen auf, und die frische Streu prasselte.
„Hier“, sagte Matty. „Du kannst das Bürsten übernehmen, wenn du magst. Dazu nimmst du die Kardätsche, und zwar in die Hand, die Solveigs Kopf am nächsten ist. Das ist in diesem Fall die rechte Hand, weil du links vom Pferdekopf stehst. Und bürste nicht gegen den Strich! Geh dabei vor und wieder zurück – so, ich zeig’s dir.“ Ich paßte genau auf, wie er es machte, und versuchte es dann selbst. „Aber sei vorsichtig, Solveig ist kitzlig hinter den Ohren!“ warnte Matty.
Anfangs stellte ich mich recht ungeschickt an, und die Stute zuckte nervös mit den Ohren, doch mit der Zeit ging es besser. Ich half Matty noch bei sechs anderen Pferden, und plötzlich war es stockdunkel hinter den Stallfenstern, und ich war so müde wie noch nie in meinem Leben. Meine Arme schmerzten höllisch, und ich hätte mich am liebsten längelang in eine leere Box ins Stroh gelegt und mich keinen Zentimeter mehr von der Stelle gerührt. Ich bewunderte Jörn und Matty, die noch ganz frisch wirkten und denen es nichts auszumachen schien, daß die Pferde jetzt auch noch gefüttert werden mußten.
„Ich muß nach Hause!“ sagte ich und lehnte mich gegen die Stallmauer.
„Herrje, du bist ja völlig fertig!“ Jörn sah mir ins Gesicht. „Wir hätten nicht zulassen sollen, daß sie so lange mithilft, Matty.“
„Unsinn“, sagte ich. „Ich bin schließlich kein kleines Kind und kann selbst auf mich aufpassen. Habt ihr eine Taschenlampe für mich?“
Matty wollte etwas erwidern, doch Jörn kam ihm zuvor. „Ich bringe dich zum Kavaliershäusl“, sagte er.
„Du?“ fragte ich erstaunt, fügte dann aber rasch hinzu:
„Nicht nötig. Ich hab dir doch gerade gesagt, ich bin kein kleines Kind. Ich fürchte mich nicht im Dunkeln.“
Das stimmte überhaupt nicht. Der Gedanke, allein zu Tante Karens Haus gehen zu müssen, war alles andere als angenehm, doch das hätte ich gerade Jörn gegenüber um keinen Preis zugegeben.
Jörn sagte kein Wort. Er verschwand in der Sattelkammer und kam mit einer großen Taschenlampe, meinen Jeans und zwei Strickjacken zurück. In eine der Jacken schlüpfte er selbst, die andere gab er mir zusammen mit den Jeans und sagte: „Die Stiefel und die Latzhose kannst du morgen zurückbringen – es sei denn, du magst uns mal wieder helfen.“ Und in Mattys Richtung fügte er hinzu: „Ich bin gleich wieder zurück. Der neue Sack mit den Mineralien ist noch im Schuppen.“
Matty nickte. Sein Blick ging zwischen Jörn und mir hin und her. Ich sagte: „Gute Nacht, Matty.“
„Nacht, Nell“, erwiderte er. „Und danke, daß du uns geholfen hast. Hoffentlich war’s nicht zuviel für dich.“
„Ich werd’s überstehen“, sagte ich. Dann folgte ich Jörn aus dem Stall, und Sepp nickte mir im Vorbeigehen zu.
Eine bleiche Mondsichel stand über dem Wald, und vereinzelt schimmerten Sterne zwischen den kahlen Bäumen. Es roch nach Frühling. Irgendwo schrie ein Käuzchen.
Jörn und ich gingen schweigend nebeneinander her, zwischen den Koppelzäunen entlang. In den Haselnußbüschen raschelte es. Ich zuckte unwillkürlich zusammen.
„Eine unserer Katzen ist auf Mäusefang“, sagte Jörn beruhigend und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Boden gleiten. Da huschte eine gefleckte Katze über den Weg. Als sie zu uns aufsah, leuchteten ihre grünen Augen wie Glasmurmeln.
„Das sind ungewohnte Geräusche für einen, der aus der Stadt kommt, nicht?“
Ich nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. „Am meisten verunsichert einen die Stille. In der Stadt gibt’s ständig irgendwelchen Lärm, sogar nachts“, erwiderte ich.
„Ich weiß“, sagte Jörn. „Vor mehr als einem Jahr war ich mal für ein paar Wochen in München.“ Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: „Ich habe meistens im Park geschlafen – im Englischen Garten. Dort war es zwar still, aber irgendwo im Hintergrund hörte man ständig das Brausen des Verkehrslärms.“
„Du hast im Park geschlafen?“ wiederholte ich überrascht.
„Ja. Weil ich kaum Geld hatte. Ich bin damals von zu Hause ausgerissen, wie man so schön sagt.“
Ich blieb stehen und sah Jörn an, doch in der Dunkelheit war sein Gesicht nur als schwacher Umriß zu erkennen. Der Strahl seiner Taschenlampe beleuchtete ein Stück des Weges. „Du bist ausgerissen?“
Er lachte leicht. „Hättest du mir das nicht zugetraut? Ich hatte eine Zeitlang ziemliche Schwierigkeiten mit meinem Vater, weißt du. Aber in der Stadt war’s noch schlimmer. Ich war fast krank vor Heimweh. Das Geld ging mir auch bald aus. Also bin ich schließlich reumütig wieder heimgekommen.“
Ich sagte spontan: „Ich würde auch am liebsten verschwinden. Aber ich bin zu feige. Ich weiß nicht, wohin ich gehen könnte.“
„Es ist verdammt schwierig“, gab Jörn zu. „Man gerät so leicht in irgend etwas hinein, was man eigentlich gar nicht will. Ich glaube, es ist am besten, zu Hause zu bleiben und da zu versuchen, etwas zu ändern – und wenn das nicht geht, auszuhalten und sich selbständig zu machen, sobald man mündig ist.“
„Bist du denn nicht schon achtzehn?“
„Ja, seit einem Monat. Aber ich möchte erst mal die Schule zu Ende machen. Und jetzt komme ich mit meinem Vater auch wieder einigermaßen klar. Er hat etwas dazugelernt – viel nicht, aber ein bißchen –, und ich gebe mir Mühe, ihn besser zu verstehen.“
Wir hatten die Gartenpforte von Tante Karens Haus erreicht. Herr Alois begann zu bellen, und eines der Küchenfenster tat sich auf. Mein Vater rief: „Bist du das, Elinor?“ Seine Stimme klang ängstlich.
Ich hätte mich gern noch eine Weile mit Jörn unterhalten, obwohl ich so müde war. Doch er sah kurz zum Haus hinüber und sagte dann: „Morgen ist Volksfest in Amsdorf. Willst du mitkommen?“
Einen Augenblick lang war ich zu überrascht, um etwas zu erwidern. Die Haustür öffnete sich, und mein Vater erschien auf der Schwelle. Herr Alois kam kläffend herausgeschossen.
„Gern“, sagte ich rasch. „Ich komme gern mit!“
„Gut. Dann treffen wir uns morgen um zehn an der Wegkreuzung – dort, wo eure Auffahrt anfängt. Servus, und schlaf gut.“
„Gute Nacht“, sagte ich atemlos.
Herr Alois bellte wie verrückt, doch als Jörn sich bückte und ihn streichelte, wurde er still und wedelte sogar mit dem Schwanz. Mein Vater wartete noch in der Haustür. Erst als Jörn sich abwandte und verschwand, ging ich mit dem Hund durch den Garten.
Im Lichtschimmer aus der offenen Küchentür sah ich, daß mein Vater blaß war. Zorn und Angst standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Warum hast du nicht Bescheid gesagt?“ fragte er.
Ich ging an ihm vorbei in den kleinen Flur. Kirsty saß im Schaukelstuhl in der Küche und strickte. Sie sah nicht auf.
„Weil ich keine Lust hatte“, sagte ich und fühlte dabei etwas wie Triumph.
Mein Vater starrte mich an. „Du hattest keine Lust“, wiederholte er. „Was, zum Teufel . . .“ Er stockte und fügte beherrschter hinzu: „Was ist denn nur los mit dir, Elinor? So etwas hat es doch sonst nie zwischen uns gegeben. Du weißt, daß ich dir immer viel Freiheit gelassen habe. Ich habe dir keine Vorschriften gemacht. Aber ich konnte mich auch auf dich verlassen. Wenn du abends ausgegangen bist, hast du mir vorher jedesmal Bescheid gesagt. Du mußt doch wissen, daß ich mir Sorgen mache.“
„Nein“, sagte ich. „Das weiß ich nicht.“
Er sah mich fassungslos an. „Also, ich mache mir keine Sorgen, wie. Es ist mir ganz egal, was dir passiert! Na gut, wir können in Zukunft auch anders miteinander umgehen. Ich bin dein Vater, und solange du minderjährig bist, hast du dich nach dem zu richten, was ich sage!“
In diesem Augenblick haßte ich ihn. Aus der Küche kamen Geräusche. Kirsty war aufgestanden. Sie räusperte sich leise; es klang wie eine Warnung. Dann sagte sie mit ihrer sanften, ein wenig brüchigen Stimme: „Ich habe den Linseneintopf für dich warmgestellt, Elinor. Du bist sicher hungrig.“
Ich ging in die Küche und ließ mich stumm am Tisch nieder. Vor Müdigkeit und hilfloser Wut hätte ich am liebsten losgeheult. Kirsty stellte einen Teller vor mich hin, und Vater kam mir nach, setzte sich auf die Eckbank und sah eine Weile schweigend vor sich hin. Dann sagte er: „Wie siehst du überhaupt aus? Woher hast du diese scheußliche alte Hose? Du riechst ja wie ein Misthaufen! Wo bist du gewesen? Und wer war dieser Junge, der dich begleitet hat?“
„Ein Freund“, murmelte ich.
Ich merkte, daß er nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren. „Ein Freund!“ schrie er so laut, daß Herr Alois sich unter den Tisch verkroch. „Gib endlich anständig Antwort, wenn ich dich etwas frage!“
Ich sagte überhaupt nichts mehr. Kirsty füllte meinen Teller und legte einen Löffel daneben. Dann brachte sie mir noch ein Glas Milch.
„Sie ist müde“, sagte sie ruhig. „Stallarbeit ist anstrengend, wenn man nicht daran gewöhnt ist.“
Obwohl ich sie noch immer ablehnte, fühlte ich etwas wie Dankbarkeit. Ich trank die Milch und begann vom Linseneintopf zu essen. Es kostete mich richtige Anstrengung, den Löffel zum Mund zu führen und zu schlucken.
„Ich will wissen, wo du gewesen bist und wer dieser Junge war!“ beharrte mein Vater, doch es klang etwas weniger aufgeregt.
Ich sah auf meinen Teller und gab keine Antwort. Da stand er unvermittelt auf und verließ die Küche.
Kirsty setzte sich wieder in den Schaukelstuhl. Herr Alois kam unter dem Tisch hervor und ging zu ihr, und sie bückte sich und streichelte ihn.
Nach einer Weile sagte sie: „Die Jungen von Dreililien sind in Ordnung.“
Ich war zu müde, um mich zu wundern, woher sie es wußte. Wahrscheinlich hatte sie einfach zwei und zwei zusammengezählt. Dreililien war vermutlich der einzige Hof weit und breit, auf dem es noch Pferde gab; und der Stallgeruch, der mich umgab, war unverkennbar.
Ich nickte nur und schob den Teller zurück. Die Linsen mit Speck hatten wunderbar geschmeckt. Ich war schrecklich hungrig gewesen.
„Danke“, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
„Schon gut“, erwiderte Kirsty. „Gute Nacht.“
Ich stand auf, ging aus der Küche, zog die Gummistiefel aus und stellte sie vor die Haustür. Dann schleppte ich mich über die Treppe ins Mansardenzimmer, schlüpfte aus der Latzhose, ließ sie auf dem Teppich liegen und kroch unter die Bettdecke, schmutzig wie ich war. Waschen konnte ich mich am nächsten Morgen. Jetzt wollte ich nichts als schlafen.