Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 7
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ОглавлениеMatty begleitete mich noch ein Stück den Weg entlang, oder vielmehr begleitete ich ihn, denn es war die Auffahrt zum Hof. Dann ging ich allein weiter in Richtung zum Wald. Matty mußte arbeiten, aber wir hatten uns für den Nachmittag verabredet. Er wollte mir den Stall und die Pferde zeigen.
Ich war in so gelöster Stimmung, daß es mich nicht einmal besonders störte, als ich wieder in die Nähe von Tante Karens Haus kam und Vater und Kirsty sah, wie sie Arm in Arm in den Wald gingen. Vater zog ein komisches altes Leiterwägelchen hinter sich her, und Herr Alois lief geschäftig voraus.
Keiner bemerkte mich, denn ich kam aus einer anderen Richtung. Ich ging ins Haus. In der Küche lag ein Zettel auf dem Tisch: „Sind im Wald, Holz holen. Essen ist im Backrohr.“
Ich sah im Backofen nach. Da war frischer Apfelstrudel mit Rahmkruste in einer Backform. Er sah so gut aus und roch so verführerisch, daß ich Hunger bekam. Ich setzte mich auf die Eckbank, aß und sah dabei aus dem Fenster. Auf dem Ofen summte der Wassertopf, die Wanduhr tickte eintönig, und nun fand ich es friedlich und anheimelnd in dieser Bilderbuchküche mit der Vorfrühlingslandschaft hinter den Fensterscheiben und den bunten Teppichen auf dem abgetretenen Holzboden.
Nach dem Essen ging ich ins Mansardenzimmer und legte mich aufs Bett. In der noch kahlen Eiche vor dem Haus sang ein Vogel. Ich schloß die Augen und lauschte. Dann wurde ich müde und schlief ein.
Als ich wieder aufwachte, bellte Herr Alois im Garten. Ich sah auf die Uhr und merkte, daß es höchste Zeit war, mich auf den Weg zu machen, wenn ich Matty nicht warten lassen wollte.
Diesmal hatte ich keine Lust, wie eine Ente auszusehen. Ich zog meine geliebte Steppjacke aus bunten Stoffresten an und krempelte die Jeans über den Stiefeln hoch. Dann ging ich nach unten.
Im Flur begegnete ich meinem Vater. Er hatte nasse Haare und sah erhitzt und jung aus. „Wohin gehst du?“ fragte er. „Man bekommt dich ja den ganzen Tag kaum zu Gesicht.“
Die alte Abwehr stieg in mir auf. „Ich weiß nicht, wer da wen nicht zu Gesicht bekommt“, sagte ich spitz. „Ich gehe spazieren.“
Er sah verwundert aus, sagte aber nichts mehr, und ich verließ das Haus.
Herr Alois scharrte wild zwischen den Rosensträuchern. Als ich vorüberkam, hob er den Kopf und erwies mir die Ehre eines Schwanzwedelns. Es war das erste Freundschaftszeichen, und ich freute mich darüber. Richtig beschwingt ging ich den Pfad zwischen den Birken und Haselnußsträuchern entlang.
Matty wartete schon auf mich. Ich fand, daß er bedrückt aussah; so, als wäre seit unserer ersten Begegnung am Vormittag etwas geschehen, was ihm zu schaffen machte.
Er hatte einen großen, gefleckten Jagdhund bei sich, der auf dem rechten Auge einen schwarzen und auf dem linken einen weißen Fleck hatte. Er ließ sich ohne weiteres von mir streicheln, und ich sagte: „Er sieht aus, als trüge er eine Augenbinde! Ihr habt wohl viele Tiere auf eurem Hof?“
Die Frage schien eine unangenehme Gedankenverbindung in Matty auszulösen, denn ein Schatten ging über sein Gesicht, und er erwiderte nur kurz: „Ja, eine Menge.“
Langsam schlenderten wir in Richtung zum Dreililienhof. Ich fühlte mich eingeschüchtert durch Mattys düstere Miene, und auch er sagte einige Zeit kein Wort. Als das Schweigen unbehaglich wurde, murmelte ich: „Wenn du mich lieber doch nicht mit in euren Stall nehmen willst – ich meine, wenn es dir ein andermal besser paßt oder so –, dann brauchst du es mir nur zu sagen. Ich verstehe das schon.“
Matty sah rasch auf. Zwischen seinen sandfarbenen Augenbrauen stand eine steile Falte. „Das ist schon in Ordnung“, sagte er. „Es hat nichts mit dir zu tun, weißt du. Ich . . . hatte Schwierigkeiten mit meinem Vater.“
Ich dachte an meine eigenen Probleme und nickte. „Ich verstehe“, sagte ich wieder, obwohl ich ja nicht wußte, worum es in Mattys Fall ging. „Bist du der einzige Sohn?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich hab noch einen Bruder.“
Von nahem sah der Dreililienhof noch immer mächtig und eindrucksvoll aus, doch ich bemerkte Zeichen des Verfalls an den Mauern. Ein großer Torbogen verband die Gebäude der viereckigen Wohnanlage, breit genug, um vollbeladene Fuhrwerke durchzulassen. Vor langer Zeit mochten wohl auch Kutschen durch dieses Tor in den Innenhof von Dreililien gefahren sein.
Man sah noch Reste einstigen Reichtums, doch über allem lag ein Hauch von Vernachlässigung: Die Gläser der Laterne, die von der Decke des Torbogens hing, waren zerbrochen, eine Dachtraufe in Form eines wasserspeienden Drachen baumelte lose von der Dachkante, große Stücke des Pflasters der Einfahrt fehlten, und die schmiedeeisernen Fenstergitter rosteten.
Trotzdem strahlte dieser Ort eine eigenartige Schönheit aus, wie man sie nur bei verfallenen und vernachlässigten alten Bauten findet; eine schwermütige Stimmung, die anziehend wirkte.
Matty führte mich nicht durch den Torbogen in den Innenhof, sondern um die Außenseite des Hofes herum. Als wir den Mauervorsprung erreichten, schlug mir unverkennbarer Stallgeruch entgegen. Ich hörte Poltern, leises Gewieher und Schnauben.
Vor einer geschnitzten Doppeltür machte Matty halt und zog einen der Türflügel auf. Der gefleckte Jagdhund lief sofort eifrig voraus, und ich folgte ihm und Matty in den Stall.
Ich habe mich manchmal gefragt, weshalb ich solche Furcht empfand, als ich den Stall von Dreililien zum erstenmal betrat. Es waren wohl die vielen Pferde und die fremden Gerüche und Geräusche, die mich beunruhigten. Später lernte ich, daß Pferde sanft und gutmütig sind, wenn man sie gut behandelt und mit ihnen umzugehen versteht.
Damals aber war alles so neu für mich – das warme Halbdunkel des Stalles nach der Helligkeit des Frühlingsnachmittages, die vielen Pferde, die uns aufmerksam entgegensahen, das Scharren und Stampfen ihrer Hufe.
Als wir zur Stallgasse kamen, stieß eines der Pferde ein durchdringendes Wiehern aus. Ich zuckte zusammen, aber Matty lächelte mir beruhigend zu und sagte: „Das ist nur Hazel. Sie begrüßt mich immer so, wenn ich in den Stall komme.“
„Was macht ihr mit all den Pferden?“ fragte ich.
„Wir züchten sie“, sagte Matty. „Hast du nicht gewußt, daß Dreililien ein Gestüt ist?“
Ich schüttelte den Kopf. Er ging von einer Box zur anderen, streichelte die Pferde und erklärte dabei: „Das dort ist Isabell. Und das Marnie. Das ist unser Deckhengst Ask; er hat schon viele Preise gewonnen. Und die kleine Schimmelstute ist Emily. Bist du eigentlich schon mal geritten, Nell?“
„Nein“, sagte ich. „Bei uns in der Stadt sind Reitstunden ziemlich teuer. Aber du reitest sicher fantastisch, wo du doch praktisch mit Pferden aufgewachsen bist.“
„Reiten kann ich ganz gut“, gab er zu. „Aber ich bin nicht so ein leidenschaftlicher Reiter wie zum Beispiel mein Bruder. Ich mag Pferde unheimlich gern, weißt du, und deshalb widerstrebt es mir immer, ihnen meinen Willen aufzuzwingen – und das muß man nun mal beim Reiten. Mir ist es am liebsten, wenn sie draußen auf der Koppel sind und tun und lassen können, was ihnen gefällt. Wenn ich viel Geld hätte, würde ich meine Pferde ganz wild und frei leben lassen; so, wie es eigentlich ihre Natur ist.“
Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Der Reitsport ist ja auch nur eine Art, wie wir Menschen Tiere benutzen, ohne zu überlegen, wie das überhaupt für sie sein mag.“
Ich sah Matty an. Seltsam, darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Daß ausgerechnet er so etwas sagte, dessen Familie Pferde züchtete, um sie dann zu verkaufen, damit sie von anderen Menschen benutzt wurden – zum Vergnügen oder um Preise zu gewinnen, also um Geld zu machen!
Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als eine Stimme aus dem Hintergrund fragte: „Wen versuchst du da schon wieder mit deinen Hirngespinsten aufzuwiegeln, Matty?“
Ein hochgewachsener Junge kam durch eine Zwischentür geschlendert. Der gefleckte Jagdhund lief ihm entgegen und umsprang ihn voller Freude.
Ich sah sofort, daß der Junge Mattys Bruder sein mußte. Er sah ihm ähnlich, war aber um einen Kopf größer und wohl auch einige Jahre älter. Er bewegte sich mit einer lässigen Anmut, die von Selbstbewußtsein zeugte und deshalb aufreizend auf mich wirkte, einer Anmut, die zugleich aber auch etwas Anziehendes hatte. Seine blonden Haare waren länger als die von Matty und wild gelockt. Seine Jeans, die in Gummistiefeln steckten, waren voller Pferdemist.
Das alles sah ich mit einem Blick, während Matty erwiderte: „Hirngespinste! Alles, was du nicht verstehst, tust du als Verrücktheit ab, wie?“
Sein Bruder lachte. „Sei nicht gleich eingeschnappt“, sagte er. Dabei sah er mich an. „Bist du mit Kirsty gekommen?“ fragte er.
„Sozusagen“, erwiderte ich.
„Das ist Nell“, erklärte Matty. „Ihr Vater ist mit Kirsty befreundet. Sie verbringen die Osterferien im Kavaliershäusl.“
Zum erstenmal hörte ich den Ausdruck Kavaliershäusl für Tante Karens Haus. „Und ich bin der Jörn“, sagte Mattys Bruder. Wir sahen uns prüfend an, gaben uns aber nicht die Hand.
„Warum nennt ihr das Haus Kavaliershäusl?“ fragte ich; nicht so sehr, weil es mich wirklich interessierte, sondern um meine Verlegenheit zu überspielen.
„Weil es mal zum Hof gehört hat“, erklärte Jörn. Er war überhaupt nicht verlegen. „Dreililien war früher mal so was wie ein Rittergut. Das heißt, einer unserer Vorfahren hat es vom Kaiser als Belohnung für treue Dienste während eines Krieges bekommen. Und in dem Haus, das Karen gehörte, lebte vor ewigen Zeiten ein verarmter Adeliger, der bei unserem Ur-Urgroßvater im Dienst stand. Seitdem heißt es Kavaliershäusl.“
„Seid ihr auch adelig?“ fragte ich. „Ich meine, wenn eure Familie ein Rittergut bekommen hat!“
Matty schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein. Unser Ur-Urgroßvater hat damals zwar auch einen Titel verliehen bekommen, aber der wurde nicht weitervererbt. Wir heißen schlicht und einfach Moberg.“ Er machte eine komische Verbeugung.
Jörn bückte sich, um den Jagdhund zu streicheln, der noch immer begeistert an ihm hochsprang.
„Ist ja schon gut, Diana“, sagte er. „Bist ein braves Mädchen.“
Ein Pferd wieherte schrill, ein anderes schlug mit den Hufen gegen die Boxwand, daß es nur so knallte. Matty sagte: „Sie möchten raus aus dem Stall. Morgen dürfen sie wieder auf die Koppel. Das Barometer ist gestiegen, und morgen soll’s einigermaßen warm werden – endlich. So ein verregnetes Frühjahr haben wir schon lange nicht mehr gehabt.“
„Zeit zum Stallausmisten“, sagte Jörn und warf mir einen spöttischen Seitenblick zu. „Bist du gekommen, um uns zu helfen, oder wie sehe ich das?“
Ich merkte, daß ich rot wurde. Bei der Stallarbeit mithelfen – warum eigentlich nicht? Aber dazu brauchte ich eine ältere Hose, und der weiße Pullover, den ich trug, war wohl auch nicht gerade das richtige Kleidungsstück für eine solche Gelegenheit.
Ehe ich eine passende Antwort finden konnte, mischte sich Matty ein. „Ich wollte Nell die Pferde zeigen“, sagte er. „Zum Arbeiten habe ich sie nicht eingeladen.“
Ich lachte. „Mir fällt durchaus keine Perle aus der Krone, wenn ich euch helfe“, erwiderte ich.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, daß Jörn mich erstaunt musterte. Offenbar hatte er mich nur aufziehen wollen und überhaupt nicht damit gerechnet, daß ich seinen Vorschlag ernst nehmen könnte. „Ich bin nur nicht ganz passend angezogen“, fügte ich hinzu. „Ist es euch recht, wenn ich morgen wiederkomme und mithelfe?“
Matty sah mich fast respektvoll an, und Jörn erwiderte nur: „Warum nicht, wenn du magst? Jede Hilfe wird dankend angenommen. Eine alte Latzhose kannst du von uns bekommen, wenn du keine Arbeitskleidung mitgebracht hast.“
„Hab ich wirklich nicht“, gab ich zu.
Ich hatte ja gedacht, daß dies ein langweiliger Urlaub werden würde, in dem nichts passierte; vierzehn Tage, die ich damit zubringen mußte, die Zeit totzuschlagen! Hier aber gab es offenbar jede Menge zu tun. Ich konnte mich nützlich machen, wie es so schön heißt.
Im Augenblick wußte ich allerdings nicht, ob ich aus Langeweile so bereitwillig meine Hilfe anbot, oder weil es mich reizte, diesem Jörn zu zeigen, daß er sich irrte, wenn er mich für ein zimperliches, verwöhntes Stadtmädchen hielt.