Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 16
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ОглавлениеIch glaube nicht, daß ich diesen ersten Ausritt – oder vielleicht sollte man es besser Gehopse nennen – so schnell vergessen werde.
Anfangs kam ich mir wie auf einem hohen, schwankenden Turm vor. Der Erdboden schien erschreckend tief unter mir zu sein. Doch dieser Eindruck milderte sich mit der Zeit etwas. Ich wurde teuflisch durchgeschüttelt, klammerte mich so krampfhaft an Hazels Mähne fest, daß sie mehrmals ungeduldig den Kopf zurückwarf, und war jeden Augenblick darauf gefaßt, wie ein Mehlsack in die Tiefe zu plumpsen.
Matty sah sich ab und zu nach mir um und nickte ermutigend. Jörn ritt voraus und kümmerte sich nicht weiter um mich. Ich war froh darüber, denn mir war klar, daß ich eine ziemlich lächerliche Figur abgeben mußte, wie ich da verkrampft und ängstlich auf Hazels Rücken kauerte, als hätte mein letztes Stündlein geschlagen.
Dabei war die Stute wirklich brav und geduldig. Sie trottete mit langsamen, gleichmäßigen Schritten hinter Matty her, der auf Emily ritt, und peitschte nur manchmal ein bißchen mit dem Schweif, wenn die Fliegen gar zu lästig wurden. Diana, die gefleckte Jagdhündin, lief neben den Pferden her.
Ich fürchtete insgeheim, sie könnte Hazel vor die Hufe springen oder die Pferde sonst auf irgendeine Weise so erschrecken, daß sie losgaloppierten. Doch sie waren es offenbar gewöhnt, daß der Hund sie umsprang, und blieben ganz gelassen, als Diana vor Emily quer über die Wiese raste und kläffend hinter einer Krähe herjagte.
Ich fiel nicht vom Pferd und war heilfroh, als der Weiher endlich zwischen Ulmen und Krüppelweiden am Waldrand auftauchte. Der Boden war hier ziemlich sumpfig, und Hazels Hufe sanken tiefer ein. Jörn und Matty schwangen sich von ihren Pferden, kamen zu mir und halfen mir beim Absteigen. Dann ließen wir die Pferde frei, obwohl es hier keine Koppelzäune gab. Sie dachten sowieso nicht daran, wegzulaufen.
Diana stürmte sofort ins Wasser, und die Stuten gingen vorsichtig zu einer ausgetretenen Stelle am Ufer, stellten sich bis zu den Fesseln ins Wasser und tranken ausgiebig.
Ich sah ein wenig zweifelnd auf den Teich. Die Wasseroberfläche war zum größten Teil mit einer Schicht grüner Algen bedeckt, die ich nicht besonders appetitlich fand.
Jörn bemerkte meinen Blick und sagte: „An die Entengrütze gewöhnt man sich, aber hoffentlich hast du keinen weißen Bikini.“
„Er ist schwarz“, erwiderte ich und zog meine Shorts und das T-Shirt aus. Darunter trug ich schon meinen Bikini. „Nur stelle ich’s mir ziemlich ekelhaft vor, durch das Zeug da zu schwimmen.“
„Ach was, das ist doch etwas ganz Natürliches“, sagte Matty. „Jedenfalls immer noch besser als Abwässer in den Seen und Chlor in den Schwimmbädern.“
Diana plätscherte mitten in den Algen herum; ihr machte die Entengrütze natürlich nichts aus. Ich watete langsam hinter Matty und Jörn ins Wasser. Die Pferde blieben am Ufer zurück und sahen uns nach.
Erst als wir schon bis zu den Hüften im Wasser standen, fiel mir ein, daß ich nichts mitgenommen hatte, um meine Haare hochzustecken. Natürlich waren sie schon gleich nach den ersten Schwimmzügen voll von dem grünen Algenzeug. Jörn meinte, ich hätte verdammte Ähnlichkeit mit einer Wasserleiche, was ich natürlich nicht besonders schmeichelhaft fand.
Ich kniff die Lippen fest zusammen, um bloß keine Entengrütze in den Mund zu bekommen. Matty und Jörn kümmerten sich nicht weiter um die Algen. Sie jagten sich gegenseitig, prusteten wie Walrosse, scherzten mit Diana, tauchten unter und kamen jedesmal grün wie Wassermänner wieder an die Oberfläche.
Mit der Zeit vergaß ich meinen Ekel. Ich merkte, daß das Wasser warm und weich war, genoß die Sonne, die durch die Blätter der Ulmen sickerte, und schwamm in ruhigen, weit ausgreifenden Zügen. Als ich die Augen schloß, merkte ich richtig, wie ich mich entspannte. Meine Muskeln, die sich beim Reiten verkrampft hatten, lockerten sich im warmen Wasser. Ich hörte die Bäume leise im Luftzug rauschen und atmete den Duft von sonnenbeschienenen Tannen und Harz, von Heu und Pferden ein.
Mein erster Sommer auf dem Land! dachte ich träumerisch.
„So schlecht ist’s doch gar nicht, wie?“ sagte da eine Stimme, und ich öffnete die Augen. Jörn schwamm neben mir, mit grünen Haaren und grünem Gesicht.
„Ja“, murmelte ich. „Eines Tages werde ich die Entengrütze noch lieben. Ist dir schlecht?“
„Nein, warum?“
„Weil du so grün bist.“
Diana paddelte mit hoch erhobenem Kopf an uns vorbei und versuchte, nach einer Libelle zu schnappen. Die Pferde standen im seichten Wasser und benagten sich gegenseitig liebevoll die Hälse. Matty kam angeschwommen und sagte, er hätte einen großen Fisch gesehen, und Jörn behauptete, im Weiher gäbe es keine Fische. Daraufhin stritten sich die beiden einige Zeit nicht besonders ernsthaft herum und tauchten schließlich unter, um den „weißen Geisterfisch“ zu suchen, wie Jörn ihn spöttisch nannte.
Zurück ritten wir in den nassen Badeanzügen. Ich hatte insgeheim gehofft, daß es jetzt schon etwas besser gehen würde, aber da hatte ich mich getäuscht. Zuerst schaffte ich es trotz Mattys Unterstützung nur mit Mühe, auf Hazels Rücken zu kommen. Und unterwegs setzte uns ein Schwarm hartnäckiger Bremsen derart zu, daß die Pferde ganz nervös wurden.
Mir ging es am schlimmsten, weil ich es nicht wagte, Hazels Mähne auch nur einen Augenblick loszulassen. So mußte ich ertragen, daß die Biester sich auf mich setzten und mir kräftig Blut abzapften. Hazel warf ein paarmal so ungebärdig den Kopf zurück, daß ich aus dem Gleichgewicht kam und fast nach links oder rechts abrutschte, doch ich befolgte Mattys Rat, drückte die Schenkel fest an und hatte dadurch genügend Halt.
Als wir Dreililien erreichten, war ich erhitzt und zerstochen. Mein Hinterteil schmerzte. Während wir die Pferde auf die Koppel brachten, fragte ich mich ernsthaft, ob es wirklich so erstrebenswert ist, Reiten zu lernen, wie ich geglaubt hatte.
Matty lief rasch ins Haus, um Tigerbalsam für meine Stiche zu holen. Ich ging mit Jörn langsam zum Kavaliershäusl voraus.
„Es lohnt sich schon“, sagte er, als hätte er meine Gedanken erraten. „Auch wenn’s eine Menge Schweiß und Angst und Mühe kostet.“
„Angst?“ wiederholte ich. „Hattest du denn auch Angst, als du reiten gelernt hast?“
Er überlegte es sich und erwiderte dann: „Nein, eigentlich nicht. Aber das soll nicht heißen, daß ich besonders mutig wäre oder so. Ich hab’s einfach als kleiner Stöpsel gelernt, so, wie andere laufen lernen. Ich war noch nicht vier, da hat mein Vater mich schon aufs Pferd gesetzt, und ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, daß es erschreckend oder gefährlich sein könnte. Außerdem bin ich ja sozusagen mit Pferden aufgewachsen.“
Ich nickte. „Eigentlich“, sagte ich, „bist du zu beneiden. Ihr beide, meine ich, du und Matty.“
„Ja“, erwiderte Jörn. „Vielleicht schon. Und nicht nur wegen der Pferde. Ich glaube, viele Leute, die auf dem Land aufwachsen, haben’s besser als Stadtkinder. Was die Ausbildung betrifft natürlich nicht, damit ist es in der Stadt leichter. Viele Jugendliche aber wissen heute nicht recht, wohin sie gehören. Für Parkhäuser und Parkplätze hat man genügend Platz, aber nicht für richtige Spielplätze, freundliche Hinterhöfe und Jugendzentren; und wenn es solche Einrichtungen gibt, werden sie immer von Erwachsenen verwaltet und überwacht.“
Ich sah Jörn erstaunt von der Seite an. Es wunderte mich, daß er sich über solche Dinge Gedanken machte. Ich hatte ihm das nicht zugetraut. Doch eigentlich kannte ich ihn ja noch kaum.
„Ein Freund von mir hat mal eine Zeitlang als Sozialhelfer gearbeitet. Er sagt, daß viele Kinder in den schlimmsten Verhältnissen aufwachsen. Sie werden vernachlässigt, geschlagen und alleingelassen, und dann wundert man sich, wenn sie später straffällig werden, Autos klauen oder Einbrüche verüben. Und was tut man? Statt ihnen zu helfen, steckt man sie in Gefängnisse, wo sie dann noch den Rest kriegen und endgültig den Halt verlieren.“
„Aber das ist auf dem Land nicht viel anders als in der Stadt. Was könnte man denn tun?“ fragte ich.
Er zog die Augenbrauen zusammen und starrte finster vor sich hin.
Ich sagte unwillkürlich: „Ich . . . hätte nie gedacht, daß du dir über das alles Gedanken machst.“
„So, hättest du nicht?“ Er warf mir einen abschätzenden Seitenblick zu, und ich merkte, daß er noch etwas sagen wollte. Doch da kam uns Matty nachgerannt, atemlos und rot im Gesicht. Er drückte mir ein Döschen in die Hand.
„Hier, streich’s auf die Stiche“, sagte er. „Aber bring nichts von dem Zeug in die Augen, es brennt höllisch.“
Ich nickte geistesabwesend und umklammerte das Döschen, denn ich dachte noch über das nach, was Jörn gesagt hatte. Er sprach nicht weiter, sah nur auf den Boden und stieß einen Stein vor sich her.
Matty mahnte: „Du mußt den Tigerbalsam jetzt gleich benutzen, damit die Schwellungen nicht zu stark werden. Später nützt es nicht mehr soviel.“
„Ja“, sagte ich. „Danke, Matty.“
Ich hatte mindestens fünfundzwanzig Stiche, und es dauerte eine Weile, bis ich sie alle mit der rötlichen Salbe versorgt hatte. Als wir wieder zum Kavaliershäusl kamen, war mein Vater noch nicht da. Herr Alois kam uns von weitem entgegen, umkreiste Diana schweifwedelnd und zeigte sich von seiner liebenswürdigsten Seite. Er war richtig kokett, doch sie kümmerte sich kaum um ihn und knurrte ihn sogar an, als er ihr zu aufdringlich wurde.
Kirsty brachte uns eisgekühlte Limonade. Dann gingen wir in die Mansarde und schoben mein Bett, den Schrank, den Schreibtisch, die Bücherregale und die alte Kommode von meiner Großmutter so lange im Zimmer herum, bis alles so stand, wie ich es haben wollte.
„Sieht gar nicht schlecht aus“, sagte Matty zufrieden, als wir fertig waren. „Hier kannst du dich wohl fühlen, Nell.“
Ich erwiderte nichts und dachte im stillen, daß ich mich in diesem Haus wohl nie richtig wohl fühlen würde. Es gehörte ja Kirsty. Wie sollte ich das jemals vergessen können?