Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 14
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ОглавлениеDann waren wir wieder zu Hause, und äußerlich ging alles seinen alten Gang. Die Schule begann wieder, Vater fuhr zur Arbeit, Kirsty kehrte mit Herrn Alois in ihre Wohnung zurück.
Das Wetter war unfreundlich, und in der Stadt merkte man kaum etwas vom Frühling. Ich sah plötzlich, wie schmutzig die Straßen und Bürgersteige waren, wie verkniffen die Gesichter der Leute. Der ständige Lärm störte mich, und ich haßte den Geruch von Abgasen, den ich früher kaum bemerkt hatte. Wenn ich mein Zimmerfenster öffnete, sah ich nur eine graue Hauswand und darüber ein Stück Himmel, ebenfalls grau; hier sang kaum einmal ein Vogel, es roch nicht nach aufgebrochener Erde, feuchtem Gras und Blumen; und schon gar nicht nach Pferden.
Das Zerwürfnis zwischen Vater und mir hielt an und gewann eine Art Eigenleben. Es war, als könnte keiner von uns mehr das Schweigen brechen, das uns trennte. Kirsty kam nicht mehr zu uns, doch Vater war abends oft fort, und die beiden führten lange Telefongespräche miteinander.
Ich fühlte mich sehr allein. Am Abend saß ich meist vor dem Fernseher, obwohl mich das Programm eigentlich nicht interessierte. Ein paarmal wurde ich von Jungen und Mädchen aus meiner Klasse zu einem Fest oder irgendeiner Unternehmung eingeladen, doch ich hatte einfach keine Lust, mitzumachen.
Eine Woche nach unserer Rückkehr kam ich zufällig an einer Buchhandlung vorbei und kaufte mir spontan ein Buch über Pferdehaltung. Abends las ich noch stundenlang darin und stieß immer wieder auf Stellen, die mich an etwas erinnerten, was Matty oder Jörn gesagt hatten, oder was ich selbst bei einem der Pferde von Dreililien beobachtet hatte. An diesem Abend ging es mir zum ersten Mal seit unserer Rückkehr in die Stadt wieder etwas besser. Es machte mir nicht einmal allzuviel aus, daß mein Vater in dieser Nacht nicht nach Hause kam.
Ein paar Tage später nahm ich nach Unterrichtsschluß den Bus nach Schwabing und fuhr zur Reitschule am Englischen Garten. Ich kannte die Reitschule flüchtig von Sonntagsspaziergängen mit meinem Vater. Manchmal waren wir am Bach stehengeblieben und hatten zugesehen, wie ein Pferd an der Longe geführt wurde oder wie Reitschüler auf dem freien Platz hinter den Ställen im Kreis ritten.
Schon als ich aus dem Bus stieg, streifte mich ein Hauch des vertrauten Stallgeruches. Zögernd ging ich die Zufahrt neben dem alten, etwas verwahrlosten Gebäude hinunter. Doch niemand schickte mich weg. Keiner kümmerte sich um mich, als ich an der Rückseite des Stalles entlang ging, wo vier Pferde ihre Köpfe neugierig über die Halbtüren streckten.
Sie standen in dunklen Ställen, und ich spürte Mitleid mit ihnen, als ich an die Pferde von Dreililien dachte, die so oft auf den Koppeln sein durften. Vorsichtig streichelte ich die Nase eines Schimmels; die anderen Pferde faßte ich nicht an. Sie sahen mich so wachsam und mißtrauisch an, daß ich mich damit begnügte, stehenzubleiben und leise mit ihnen zu reden.
Irgendwo rief jemand mit harter Kommandostimme, und kein Sonnenstrahl fiel durch die Zweige der Bäume am Bachufer. Ich wußte plötzlich nicht mehr, was ich eigentlich hier wollte.
Nach einer Viertelstunde ging ich zur Bushaltestelle zurück und fuhr nach Hause, Erst unterwegs dachte ich: Ich hätte jemanden fragen können, ob ich ab und zu im Stall arbeiten darf. Dann aber verwarf ich den Einfall wieder. Das, was ich vom Reitstall gesehen hatte, hatte mir nicht gefallen. Alles war so ganz anders als in Dreililien. Und ein Gefühl von Heimweh erfaßte mich, als ich die beiden Orte miteinander verglich.
Mein Vater kam schon gegen sechs Uhr nach Hause. Ich sah sofort, daß etwas geschehen sein mußte. Er ging nicht wie so oft während der letzten beiden Wochen in sein Zimmer, um sich umzuziehen und dann wieder zu verschwinden.
An diesem Abend kam er zu mir in die Küche, lehnte sich gegen die Fensterbank und sah eine Weile zu, wie ich Ravioli aus der Dose wärmte. Dann sagte er: „Elinor, ich muß etwas mit dir besprechen.“
Mein Herz sank. Ich glaubte zu wissen, was er mir zu sagen hatte. Automatisch rührte ich weiter im Topf und sah ihn nicht an.
„Kirsty und ich . . .“, begann er, während ich wie besessen rührte. „ . . . Kirsty und ich möchten zusammenziehen. Ich weiß, daß das nicht leicht für dich ist, Elinor.“ Er sprach jetzt ganz schnell, als müßte er etwas Unangenehmes möglichst rasch hinter sich bringen. „Aber ich kann es nicht ändern.“
„Heißt das, daß sie in unsere Wohnung ziehen wird?“ fragte ich. „Oder willst du, daß wir zu ihr ziehen? Ich werde jedenfalls nicht mitkommen, Vater.“
Ich wunderte mich selbst, wie ruhig ich sprechen konnte. Dabei war mir zumute, als fiele ich in ein tiefes, dunkles Loch.
„Nein“, sagte Vater. „Weder das eine noch das andere. Es ist . . . Wir möchten aufs Land ziehen, Kirsty und ich. In Tante Karens Haus. Wir waren so glücklich dort. Du weißt ja, daß ich mich in der Stadt nie sehr wohl gefühlt habe. Und Kirsty hat beschlossen, ihre Arbeit in der Keramikfabrik aufzugeben und sich eine eigene Töpferwerkstatt einzurichten. Sie hat schon ein paar Abnehmer, für die sie arbeiten kann. Und ich habe mit meinem Chef gesprochen. Er meint, ich könnte einen Teil unseres Rosenheimer Bezirks betreuen. Unsere Versicherung hat dort eine Niederlassung, weißt du. Beruflich würde sich der Umzug also bei uns beiden machen lassen.“
Er sprach schnell. Seine Worte überstürzten sich förmlich. Ich ließ den Kochlöffel los und drehte mich zu ihm um. Sein Gesicht war ängstlich und bittend, aber auch voller Hoffnung. Ich begriff, wie wichtig ihm das alles war. Er wollte sein Leben verändern, wollte mit Kirsty eine neue Existenz beginnen – doch wo blieb ich bei all diesen Plänen?
„Und ich?“ fragte ich fast tonlos.
Mein Vater holte tief Atem und kam auf mich zu. Er legte die Arme um meine Schultern. Ich machte mich ganz steif, und er merkte es auch, das sah ich an seinen Augen; doch er ließ mich nicht los. Die Ravioli im Topf begannen anzubrennen, aber keiner kümmerte sich darum.
„Und du, du wirst jetzt eine Entscheidung fällen müssen, Elinor“, sagte er leise. „Du mußt dich entscheiden, ob du mit uns kommen oder hierbleiben willst. Ich habe mich erkundigt. Es gibt hier ein sehr gutes Internat, wo du bis zum Abitur bleiben könntest. An den Wochenenden könntest du uns dann immer besuchen, wenn du möchtest.“
Ich machte mich von ihm los. „Das willst du also!“ sagte ich feindselig. Meine Augen brannten. „Du willst mich abschieben! Ich bin dir unbequem geworden, du kannst mich nicht mehr brauchen. Du willst mit Kirsty ein neues Leben anfangen, in dem ich keinen Platz habe. Jetzt möchtest du mich in ein Internat abschieben!“
Ich wandte mich ab; er sollte mein Gesicht nicht sehen. Doch er kam mir nach, hob mein Kinn mit der Hand hoch und sah mir in die Augen.
„Du weißt genau, daß das Unsinn ist!“ sagte er langsam. „Wir gehören doch zusammen, und ich möchte dich nicht verlieren! Aber Kirsty ist mir auch wichtig. Ich will nicht für den Rest meines Lebens Junggeselle bleiben, ich mag nicht allein leben müssen. Du wirst bald deine eigenen Wege gehen, Elinor, und was wird dann aus mir? Kirsty ist die richtige Frau für mich, ich habe sie lieb. Bitte versuch mich zu verstehen.“
Die Ravioli rauchten und stanken fürchterlich. Ich streckte die Hand aus und stellte die Herdplatte ab.
„Schon gut“, sagte ich.
Mein Vater schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er. „Ich habe das ernst gemeint, als ich vorher sagte, du müßtest dich entscheiden. Mir wäre es am liebsten, wenn du mit uns aufs Land ziehen würdest, weil ich die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben habe, daß du dich eines Tages doch noch mit Kirsty verstehen wirst. Nein, sag jetzt nichts!“ Er stockte einen Augenblick und fuhr dann fort: „Es wäre sicher nicht einfach für dich, auf dem Land zu leben und in eine neue Schule zu gehen. Wenn du lieber hierbleiben willst, muß ich das akzeptieren. Aber abgesehen von den Schwierigkeiten, die wir dort wegen Kirsty miteinander hatten, hat es dir doch gar nicht so schlecht gefallen, nicht? Du warst oft mit den Söhnen von Dreililien zusammen; ich weiß das, obwohl du nie darüber gesprochen hast. Vielleicht würdest du dich dort auf die Dauer sogar wohler fühlen als hier in der Stadt.“
Er sah mich voller Eifer an. „Kirsty meint, du könntest mit den Söhnen von Mobergs im Auto zur Schule fahren – wenigstens im Winter, wenn du mit dem Fahrrad nicht bis zum Dorf durchkommst.“
Da war es wieder: Kirsty meint. Immer nur Kirsty. Es gellte mir richtig in den Ohren und schien alles andere zu übertönen, was er sagte.
„So, so, das meint Kirsty also“, murmelte ich spöttisch.
Mein Vater sah verletzt aus und sagte nichts mehr. Eine Weile schwiegen wir. Mein Kopf war ein einziges Knäuel wirrer Gedanken; ich konnte einfach nicht mehr klar überlegen. Von hier weggehen – aufs Land oder in ein Internat – alles würde anders werden . . .
Während ich mit hängenden Armen vor meinem Vater stand, glaubte ich plötzlich den Spruch auf dem Zettel aus dem Wahrsageautomaten wieder zu sehen: Ihr Leben wird bald eine einschneidende Wendung nehmen.
Da begann sich das Knäuel in meinem Kopf zu lösen, und mir wurde klar, daß es stimmte. Mein Leben würde sich verändern, so oder so; und ich mußte herausfinden, welchen Weg ich einschlagen wollte: allein in der Stadt, ohne meinen Vater, oder mit ihm und Kirsty im Tal von Dreililien. Das war die Entscheidung, die ich fällen mußte.
„Laß dir Zeit“, hörte ich Vater sanft sagen. „Du kannst dir Zeit lassen und es dir in aller Ruhe überlegen. Wenn du mit uns kommen willst, warten wir mit dem Umzug noch bis zum Sommer, damit du das Schuljahr hier beenden kannst.“ Er stockte und fügte hinzu: „Wenn nicht, ziehen wir schon im Mai um.“
Ich nickte stumm. Er ging zum Herd, sah auf den Topf mit den angebrannten Ravioli nieder und sagte mit gekünstelter Munterkeit: „Na, das Abendessen ist jedenfalls im Eimer. Wie wär’s, wenn wir zum Italiener an der Ecke gehen würden? Ich lade dich zu einem guten Essen und einem Glas Wein ein.“
„Nein, danke“, erwiderte ich. „Ich habe keinen Hunger. Du kannst zu Kirsty fahren – das ist dir doch sicher am liebsten. Ich möchte allein sein.“ Und ich ging in mein Zimmer.
Noch am gleichen Abend schrieb ich an Matty. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich nur ihm sagen konnte, was da über mich hereingebrochen war. Eigentlich wollte ich keinen Rat von ihm. Es war mir nur wichtig, einen Menschen zu haben, dem ich alles anvertrauen konnte.
Und während ich schrieb, legte sich auf geheimnisvolle Weise der Aufruhr meiner Gefühle, all die Angst, Empörung und Hilflosigkeit. Zwar zitterte meine Hand während des Schreibens, doch ich wurde mit jeder Seite ruhiger. Der Zwang, einem anderen Menschen zu erklären, wie ich mich fühlte und in welcher Lage ich mich befand, half mir selbst, alles klarer zu sehen.
Als ich den Brief beendet hatte, war es schon spät. Ich hatte sechs Seiten eng beschrieben; der Umschlag platzte fast aus den Nähten. Ich klebte Briefmarken darauf, zog meinen Mantel an, nahm den Schlüssel und ging aus der Wohnung. Vater war noch nicht zurück.
Im Treppenhaus roch es dumpf, und als ich die Haustür öffnete, hörte ich zwei Betrunkene vor der Pizzeria an der Ecke grölen, wo der Briefkasten war.
Ich wartete eine Weile im Hauseingang, bis sie verschwanden. Es war kühl, ein Auto jagte mit heulendem Motor über die Kreuzung. Die Straßenbeleuchtung flakkerte. Zwischen Licht und Dunkelheit sah ich eine Plastiktüte im Luftzug über den Asphalt streifen.
Für einen flüchtigen Moment meinte ich, zwischen dem Gestank von Abgasen, Küchendünsten und Benzin einen Hauch Frühlingsluft zu spüren. Ich glaube, das war der Augenblick, in dem ich mich entschied.