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Es war Jörn und nicht Matty, der mir am nächsten Tag die erste richtige Reitstunde meines Lebens gab.

Matty saß im Stall und hielt Wache. Er nahm an, daß eine der Stuten in Kürze ihr Fohlen bekommen würde. „Mit der Zeit würde es stimmen“, sagte er, „und außerdem ist sie seit gestern abend so unruhig. Beim letzten Fohlen hatte sie ziemliche Schwierigkeiten. Besser, jemand ist bei ihr, ehe es richtig losgeht, dann können wir den Tierarzt rechtzeitig holen.“

Er saß auf einem dreibeinigen Hocker vor der Boxtür, ein Buch auf den Knien. Ich warf einen Blick über die Trennwand. Die Stute trampelte unruhig hin und her, schnaubte auch immer wieder aufgeregt. Ihre Augen waren unnatürlich geweitet. Sie hieß Isabell, das wußte ich. Matty hatte mir erklärt, daß ihr Name mit der Farbe ihres Felles zu tun hatte, das isabellfarben war: das Deckhaar fahlgelb, Stirnhaar, Schweif und Mähne hell.

„Sag mir Bescheid, wenn’s soweit ist“, bat ich. „Ich möchte zusehen, wenn das Fohlen kommt.“

Matty nickte, und ich ging mit Jörn über die Stallgasse. Außer Isabell stand nur noch Hazel in ihrer Box. Alle anderen Pferde hatten wir bereits auf die Koppel gebracht.

Sie wieherte vorwurfsvoll, als sie uns kommen sah, und Jörn sagte: „Es paßt ihr nicht, daß sie nicht mit den anderen rausdurfte. Schon gut, Mädchen, jetzt bringen wir Nell das Reiten bei.“

Ich hatte bereits ein paarmal zugesehen, wie Matty oder Jörn ein Pferd sattelten, doch diesmal mußte ich es selbst versuchen. Es war gar nicht so einfach, wie es ausgesehen hatte. Daß der Sattel genau mit dem Haarstrich aufgelegt werden muß, hatte ich nicht gewußt. Jörn achtete streng darauf, daß sich kein Mähnenhaar verklemmen konnte.

Zum Glück war Hazel freundlich und geduldig wie immer und nahm meine stümperhaften Versuche, ihr die Trense anzulegen, nicht übel. Sie öffnete sogar freiwillig das Maul und zuckte nur ein paarmal mit den Ohren, als würde sie von einem lästigen Insekt umschwirrt. Auch Jörn erwies sich als überraschend geduldig und erklärte mir jeden Handgriff genau.

„Wenn du das ein paarmal gemacht hast, beherrschst du’s im Schlaf“, sagte er tröstend, als ich niedergeschlagen meinte, ich wüßte nicht, ob ich mir das alles je merken könnte.

Dann führten wir Hazel aus dem Stall. Matty nickte mir noch zu und wünschte mir Hals- und Beinbruch, und in meinem Magen breitete sich ein sinkendes Gefühl aus, das ich schon von Prüfungen her kannte.

Ich glaube, ich hatte hauptsächlich Angst, mich vor Jörn zu blamieren, wenn ich mich dumm anstellte. Bei Matty hätte mir das bestimmt nichts ausgemacht, doch mit Jörn war es anders. Ich wollte um keinen Preis, daß er mich für begriffsstutzig oder tölpelhaft hielt.

„Wir gehen auf die Schwammerlwiese“, sagte Jörn, als wir auf den Hofplatz kamen. „Die nennen wir so, weil dort ab und zu Wiesenchampignons wachsen. Sie ist hinter dem Obstgarten. Und mach nicht so ein Gesicht, als müßtest du zum Zahnarzt, Nell!“

Ich lachte kläglich. „Mir ist schon ein bißchen mulmig“, gab ich zu. „Dabei bin ich doch gestern schon geritten. Aber ich glaube, ich hab kein Talent“, fügte ich düster hinzu.

Jörn schob den Balken des Gatters zurück, das die Schwammerlwiese verschloß, und Hazel ging von selbst voraus. „Talent?“ wiederholte er und sah mich an. Die Sommersprossen in seinem Gesicht waren während der letzten Monate zahlreicher geworden. Ich hatte sie im Frühling kaum bemerkt. Er sah lustiger damit aus.

„Wichtig ist, daß man Pferde mag und das richtige Gespür für sie hat, und das hast du schon“, sagte er dann. „Außerdem bist du schlank und recht geschmeidig, auch darauf kommt’s an. Ob du eine leichte Hand hast, muß sich erst noch herausstellen. Aber ich glaub schon, daß du gute Voraussetzungen fürs Reiten hast. Und jetzt reden wir nicht so lange drumherum. Versuchen wir’s einfach mal.“

Ich freute mich. Jörn hatte gesagt, ich hätte das richtige Gespür für Pferde; das war ein großes Kompliment aus seinem Mund. Es machte mir Mut, und ich kam überraschend leicht in den Sattel, weil ich plötzlich eine ganze Menge Schwung hatte.

So machte ich meine ersten Reitversuche auf der Schwammerlwiese von Dreililien, in Jörns alter Latzhose und zu großen Gummistiefeln und mit einer ausrangierten Reitkappe von Matty auf dem Kopf.

Hazel war bestimmt das beste Pferd, das sich ein Anfänger nur wünschen kann. Und Jörn war geduldiger, als ich es ihm je zugetraut hatte. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, mich furchtbar ungeschickt anzustellen und wie ein Mehlsack im Sattel zu hängen. Ich war richtig erleichtert, als nach einiger Zeit plötzlich eine Gestalt auf einem Fahrrad zwischen den Obstbäumen auftauchte und sich dem Gatter näherte.

„Herrje, das ist die Carmen!“ sagte Jörn. „Zum Teufel, ich hab ganz vergessen, daß ich sie heute zum Reiten herbestellt habe!“

Carmen? Ich sah verstohlen zum Gatter. Doch da stand keine südliche Schönheit mit schwarzen Haaren und Glutaugen, sondern ein dickliches Mädchen mit rotblonden Zöpfen, brauner Reithose und karierter Bluse.

„Das macht nichts“, sagte ich hastig. „Wir können aufhören. Für heute ist’s sicher genug.“

Jörn grinste. „Du bist wohl froh, was? In Ordnung, für diesmal können wir Schluß machen. Du wohnst ja jetzt hier, und wir haben jede Menge Zeit.“

Das dicke Mädchen, das Carmen hieß, blieb am Gatter stehen und sah zu uns herüber. Jörn erklärte mir noch, wie ich korrekt vom Pferd steigen mußte. Ich gab mir alle Mühe, es vorschriftsmäßig und elegant zu machen, plumpste dann aber doch recht unrühmlich zu Boden.

Während ich mich wieder aufrappelte und mir den Schmutz vom Hosenboden wischte, sah ich Jörn scharf an und dachte: Wenn er jetzt lacht, hasse ich ihn. Aber er lachte nicht. Sein Gesicht war undurchdringlich, er nickte mir zu und ging zum Gatter voraus. Ich folgte ihm langsamer, Hazel am Zügel.

Carmen hatte die Ellbogen auf den Querbalken gestützt und sah uns ruhig entgegen. Sie erinnerte mich mit ihren Pausbacken und den runden braunen Augen an einen Engel aus einer bayerischen Barockkirche.

„Hallo, Carmen“, sagte Jörn. „Ich hatte ganz vergessen, daß du heute vormittag kommst. Das ist Nell. Sie wohnt jetzt im Kavaliershäusl.“

„Ich weiß.“ Carmen nickte mir zu und musterte mich neugierig. Ihr Blick war prüfend, aber nicht unfreundlich. „Matty hat mir schon von dir erzählt. War das deine erste Reitstunde?“

Ich sagte: „Ja, das war wohl weithin zu sehen. Das Absitzen allein ist eine Katastrophe für sich gewesen.“

Sie lachte gutmütig. „Ach was, so hat jeder mal angefangen. Warum soll’s uns beim Reitenlernen besser ergehen als beim Laufenlernen.“

Carmen sprach ziemlich breiten bayrischen Dialekt, aber irgendwie paßte es gut zu ihr. Sie wirkte offen und ungekünstelt, und ich mochte sie, obwohl ich vom ersten Augenblick an merkte, daß sie in Jörn verliebt war. Ich konnte es an der Art erkennen, wie sie ihn ansah.

Sie wandte sich an ihn und sagte: „Soll ich Joschi gleich von der Koppel holen und satteln?“ Sogar ihre Stimme veränderte sich, wenn sie mit Jörn redete.

Seine Stimme veränderte sich jedenfalls nicht, wenn er mit Carmen sprach; auch das merkte ich. Ich ging mit Hazel in den Stall zurück, wo Matty noch bei Isabell saß. Die Stute wieherte bei unserem Eintritt schrill, und Matty sah von seinem Buch auf und fragte verwundert: „Seid ihr schon fertig mit dem Unterricht?“

„Carmen ist gekommen. Jörn hatte sie herbestellt.“

„Ach so.“ Matty nickte. „Na ja, morgen werde ich hoffentlich Zeit haben, dir eine Reitstunde zu geben. Bis dahin müßte das Fohlen auf der Welt sein.“

Er half mir, Hazel abzusatteln. Dann führte ich sie auf die Koppel am Waldrand, wo die anderen Stuten friedlich im Schatten grasten.

Als ich wieder zur Schwammerlwiese kam, schwang sich Carmen gerade auf Joschis Rücken. Diesmal blieb ich am Gatter stehen und sah zu, wie sie ritt, während Jörn die Kommandos gab.

Für einen blutigen Anfänger wie mich sah es so aus, als hätte Carmen gar keinen Unterricht nötig. Ich fand, daß sie schon perfekt reiten konnte. Sie saß trotz ihrer plumpen Figur gut im Sattel und bewegte sich mit einer gewissen Anmut, und die Stute ließ sich willig von ihr lenken.

Jörn brauchte sich nicht sonderlich anzustrengen. Er stand an den einzigen Baum gelehnt, der am Rand der Schwammerlwiese wuchs, gab zeitweise ein paar lässige Anweisungen und rief einmal scharf: „Was machst du da mit den Zügeln, Carmen? Verdammt, ein Pferdemaul ist schließlich kein Lenkrad!“

Doch das war auch die einzige Kritik, die ich im Laufe dieser Stunde hörte; und ich beneidete Carmen richtig um ihr Können. Das sagte ich ihr auch, als sie schließlich abgestiegen war und Joschi von der Wiese führte.

„Das hat einfach perfekt ausgesehen“, sagte ich ehrlich. „Wozu brauchst du überhaupt noch Reitunterricht?“

Da merkte ich, daß Carmen errötete und Jörn verstohlen einen Seitenblick zuwarf. Sie erwiderte nichts, doch Jörn meinte nüchtern, sie hätte noch eine ganze Menge zu lernen; vor allem, daß ein Vollblüter kein Haflinger sei, was ich nicht so ganz verstand.

Ich ging nochmals mit in den Stall. Bei Isabell tat sich noch immer nichts. Matty saß geduldig auf seinem Hocker. Er unterhielt sich gerade mit Schorsch, dem Stallknecht, der sich auf eine Mistgabel stützte.

„Soll ich dir das Essen herausbringen?“ fragte Jörn seinen Bruder. Erst da wurde mir klar, daß ja schon Mittagszeit war, und daß Vater beim Frühstück angekündigt hatte, er wolle heute versuchen, Marillenknödel zu machen. Ich hatte ihm versprochen, pünktlich zum Essen zu kommen.

Ich blase ins Kuhhorn, wenn’s bei Isabell soweit ist“, sagte Matty. „Dann kannst du herüberkommen, Nell.“

Auch Carmen mußte wieder nach Hause. Wir gingen das Stück bis zur Wegkreuzung miteinander. Sie schob ihr Fahrrad neben sich her und erzählte, daß ihren Eltern der Bauernhof gehörte, der auf der Anhöhe über dem Dorf stand. Ich hatte den Hof schon von weitem gesehen – drei große Ziegelgebäude, hufeisenförmig angelegt, mit Kühen und Pferden, die ringsum auf dem Hügel weideten.

„Aber ihr habt doch selbst Pferde?“ sagte ich. „Wieso bringst du dann nicht dein eigenes Pferd zum Reitunterricht mit?“

„Ach, unsere sind Haflinger, und Haflinger benutzt man eigentlich zur Arbeit, sie sind keine richtigen Reitpferde“, erklärte sie lachend. „Aber zum Reitenlernen sind sie jedenfalls nicht schlecht. Sie lassen sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen und sind unheimlich gutmütig. Ich bin schon als kleines Mädchen immer auf unseren Haflingern geritten.“

Sie erzählte mir auch, daß sie die einzige Tochter auf dem Bergerhöf war. Ihre Eltern erwarteten natürlich von ihr, daß sie eines Tages einen Bauern heiratete und den Hof übernahm.

„Dabei möchte ich viel lieber Tierpflegerin werden“, sagte Carmen und seufzte.

„Na, wenn du Bäuerin bist, hast du doch auch mit Tieren zu tun!“ wandte ich ein.

Wir hatten die Weggabelung erreicht. Sie blieb stehen und sah mich an. „Freilich“, bestätigte sie. „Aber das ist doch etwas anderes. Als Bauer weißt du, daß deine Tiere dazu da sind, um dir Geld einzubringen. Du bist dir darüber klar, daß du sie schlachten oder verkaufen mußt. Da darf man eigentlich gar kein persönliches Verhältnis zu seinen Tieren haben, sonst ist’s viel zu schwer. Wenn ich eines Tages meine eigenen Kühe und Schafe und Schweine und Hühner habe, bringe ich’s bestimmt nicht übers Herz, sie in den Schlachthof zu schicken. Ich bin ja jetzt schon jedesmal ganz krank, wenn der Metzger eines von unseren Stierkälbchen holt.“

Ich begegnete ihrem Blick und begriff, wie ernst es ihr mit dem war, was sie da sagte. Wieder dachte ich, daß ich sie mochte. Wenn ich ihr irgendwo in der Stadt begegnet wäre, hätte ich sie vermutlich überhaupt nicht ernst genommen. Vielleicht hatte ich sie sogar lächerlich gefunden, ein plumpes, pausbäckiges Mädchen vom Land, mit dem ich nichts gemeinsam hatte. Doch ich hatte sie hier kennengelernt, unter anderen Umständen und in ihrer natürlichen Umgebung, und ich mochte sie auf Anhieb.

Spontan sagte ich: „Genauso würde es mir auch gehen. Aber dann müßten wir ja eigentlich auch Vegetarier werden, wenn wir das ernst nehmen würden, meinst du nicht?“

Sie lachte etwas kläglich. „Ich weiß. Ich hab’s auch schon oft genug versucht, aber es nützt nichts – wenn es ums Essen geht, werde ich immer schwach, da helfen die besten Vorsätze nicht. Aber das brauche ich wohl nicht zu sagen, man sieht es mir ja an.“

„Ach was“, sagte ich. „So wichtig ist das doch nicht mit der Figur. Es kommt schließlich darauf an, wie ein Mensch ist, und nicht, wieviel er wiegt.“ Und ich schämte mich plötzlich ein wenig, weil ich mich selbst schon dabei ertappt hatte, wie ich mich über dicke Mitschüler lustig gemacht hatte.

Carmen schwang sich auf ihr Fahrrad und erwiderte: „Das sagst du so einfach, weil du keine Probleme mit deiner Figur hast. Aber glaub mir, man wird nur zu oft ausgelacht, wenn man dick ist. Mit Jungen ist das besonders schlimm – die nehmen einen einfach nicht ernst. Wenn man Glück hat, wird man als guter Kumpel behandelt, mehr aber nicht.“ Sie stockte. „Na, jetzt muß ich aber losradeln, bei uns wird pünktlich gegessen. Vielleicht sehen wir uns am Donnerstag, da gibt mir der Jörn wieder Unterricht. Servus, Nell!“

„Tschüs, Carmen“, sagte ich. Sie fuhr los, und ich blieb einen Augenblick stehen und sah ihr nach. Dabei überlegte ich, ob sie wohl Jörn gemeint hatte, als sie sagte, daß Jungen sie nicht ernst nahmen oder als Kumpel behandelten.

Dann ging ich weiter und fragte mich, wie er mich eigentlich behandelte. Kumpelhaft nicht; wohl eher vorsichtig. So ganz ernst nahm er mich jedenfalls auch nicht. Er wußte wohl noch nicht so genau, woran er mit mir war; und ähnlich erging es mir mit ihm. Manchmal mochte ich ihn – sehr sogar. Rein äußerlich fand ich ihn anziehend. Doch dann benahm er sich wieder so aufreizend, daß ich ihn am liebsten verprügelt hätte. Manchmal verstand ich ihn ganz einfach nicht. Mit Matty war das etwas anderes. Matty war geradlinig und offen; bei ihm gab es keine Zweifel und kein Versteckspiel.

Beim Kavaliershäusl kam mir Herr Alois aus dem Garten entgegengelaufen, sprang an mir hoch und wedelte heftig mit dem Schwanz. Er mußte im Bach gebadet haben, denn sein dunkelbraunes Fell glänzte vor Nässe. Er sah wie das Krümelmonster im Fernsehen aus.

Ich bückte mich, streichelte ihn und dachte dabei: Ja, Matty kann man vertrauen. Aber in Jörn könnte ich mich verlieben.

Reiterhof Dreililien Sammelband

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