Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 15
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ОглавлениеEs war Sommer, als wir wieder nach Dreililien kamen. Auf den Feldern reifte das Korn, Heureiter standen auf den Wiesen, und auf den Berghängen weideten die Kühe.
Mein Vater hatte einen Lastwagen für den Umzug gemietet. Bei der dritten und letzten Fuhre saß ich neben ihm im Führerhaus, sah aus dem Fenster und dachte ein wenig verwirrt, wie schnell doch alles gekommen war, und daß jetzt alles anders werden würde.
Schon waren die Dörfer von Touristen mit Shorts, Schirmmützen und Sonnenbrand übervölkert, doch nicht einmal sie konnten die schläfrige, friedliche Stimmung stören. In Mariabrunn läuteten die Mittagsglokken, als wir über die Hauptstraße fuhren. Durch die offenen Wagenfenster kam der Geruch von Heu, Kuhmist und Sommerblumen.
Was für ein gottverlassenes Nest! dachte ich unwillkürlich wieder. Vater aber atmete tief ein und sagte: „Herrgott, ist das ein Paradies!“
Ich erwiderte nichts. Meine alte Angst war zurückgekehrt. Ich kannte hier ja nur Matty und Jörn, sonst niemanden. Wenn die beiden nichts mehr von mir wissen wollten, war ich ganz allein in dieser abgeschiedenen Gegend. Vater zählte ja nicht mehr – er hatte Kirsty. Und wie würde es hier erst im Winter sein . . .
An der Wegkreuzung, wo sich die Auffahrt von Dreililien und der Pfad zum Kavaliershäusl gabelten, stand Matty und winkte.
Meine Ängste verflogen, und mir wurde warm ums Herz. Ich war plötzlich wieder sicher, daß ich mich auf Matty verlassen konnte. Auf Matty, ja – aber wie war es mit Jörn? Warum war er nicht gekommen?
Mein Vater hielt an, rief Matty einen Gruß zu, während ich ausstieg, und fuhr das letzte Stück allein weiter. Einen Moment lang standen Matty und ich stumm voreinander. Dann sagte er: „Du bist also doch gekommen. Ich dachte bis zuletzt, du würdest es dir vielleicht noch anders überlegen.“
Ich erwiderte ehrlich: „Als wir durchs Dorf gefahren sind, wäre ich am liebsten ausgestiegen und wieder nach Hause gelaufen.“ Dabei fiel mir ein, daß ich ja jetzt in der Stadt kein Zuhause mehr hatte.
Matty sah mich an. „Es wird schon eine Weile dauern, bis du dich richtig eingewöhnt hast“, sagte er. „Aber dann wirst du gar nicht mehr von hier fort wollen, ich schwör’s dir.“
Ich lächelte. „Gut“, sagte ich. „Schwöre.“
Er hob feierlich die Hand zum Schwur, und ich lachte mit ihm, obwohl mein Lachen ein bißchen zittrig klang.
„Du siehst blaß aus, Nell“, sagte er.
„Hm. Ich hatte bis Anfang letzter Woche eine teuflische Sommergrippe. Wahrscheinlich wollte ich mich einfach vor allem drücken und nur noch die Bettdecke über den Kopf ziehen.“
„Das kenne ich“, versicherte Matty. Langsam begannen wir den Weg zum Kavaliershäusl einzuschlagen. „Du, soll ich dir beim Einrichten helfen? Ich mache so was gern, und dein Vater ist sicher froh, wenn er die Möbel nicht allein ins Haus schleppen muß. Jörn wollte auch helfen, aber er mußte Vater zum Arzt fahren.“
Ich war richtig erleichtert. „Ach so“, erwiderte ich. „Er ist weggefahren! Ja, es wäre echt nett, wenn du mir helfen würdest. Ich möchte nicht, daß Kirsty bei meinen Sachen mit anpackt, weißt du.“
Matty nickte. „Verstehe schon. Du willst ihr nicht verpflichtet sein. Da hat sich also noch immer nichts geändert, wie?“
„Nein“, sagte ich. „Hat sich nicht.“
Wir erreichten den Koppelzaun. Weit drüben am Waldrand standen die Pferde im Schatten unter den Bäumen und dösten. Eines aber hob bei unserem Auftauchen den Kopf und sah herüber. Sein Fell leuchtete wie eine reife Kastanie.
„Hazel“, sagte ich leise und blieb am Zaun stehen. „Habt ihr inzwischen Pferde verkauft?“
Matty vergrub die Hände in den Hosentaschen und sah auf seine bloßen Füße in den Sandalen nieder. „Ein Dutzend genau“, erwiderte er. „Jetzt haben wir noch vierzig. Natürlich ist’s weniger Arbeit, aber . . .“
Er zögerte. „Ein paar waren dabei, die ich besonders gern hatte. Sie sind hier geboren und aufgewachsen. Jetzt werden sie wohl für Wettkämpfe ausgebildet – für Reitund Springturniere und so was.“
Er sah so traurig aus, daß ich ihn gern getröstet hätte. „Aber so schlimm ist das doch nicht“, sagte ich. „Da haben sie es sicher nicht schlecht. Sie werden gepflegt und gut behandelt . . .“
Matty lachte kurz und ziemlich bitter. „Gut behandelt!“ wiederholte er. „Nennst du das eine gute Behandlung, wenn sie die Tiere über immer höhere Hindernisse treiben, bis sie sich die Beine brechen und erschossen werden müssen? Sieh dir doch mal so ein Turnier im Fernsehen an, das ist kein Sport mehr, das ist Tierquälerei! Ein Pferd würde nie freiwillig über eines dieser Hindernisse springen, wie sie sie da zu Dutzenden aufbauen! Und die Leute sehen zu und finden’s spannend, und keiner denkt darüber nach, wie das für die Pferde ist. Sie müssen einfach mitmachen, sie sind uns ja ausgeliefert!“
Er stockte und sah mich fast anklagend an, so, als hätte ich das alles verschuldet; und ich schämte mich, weil auch ich nie darüber nachgedacht hatte.
Da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, schwieg ich und wich Mattys Blick aus. Über die Koppel kam das braune Pferd vom Waldrand her. Sein Fell schimmerte in der Sonne. Es war wirklich Hazel.
Sie hatte den Kopf hoch erhoben und die Ohren gespitzt, und während sie sich näherte, sagte ich: „Ob sie mich wohl wiedererkennt?“
„Klar“, erwiderte Matty. „Pferde haben ein gutes Gedächtnis. Außerdem hat dich Hazel gleich von Anfang an gemocht.“
Mir war zumute, als hätte ich ein Geschenk bekommen. Hazel erreichte den Zaun, beschnupperte meine ausgestreckte Hand, hob dann den Kopf und kam mit den Nüstern ganz dicht an mein Gesicht heran. Sie blies mir ins Haar, wie sie es immer machte, und ich streichelte ihren Hals und legte meine Wange an ihre unsagbar weiche Nase.
Eine Weile blieb ich so stehen, ganz still, und dachte daran, wie ich beim Abschied geweint hatte, ohne zu ahnen, daß ich so bald schon zurückkehren würde, und zwar für immer. Für immer – wie endgültig das klang!
Hazel folgte uns noch ein Stück den Koppelzaun entlang, als wir schließlich unseren Weg zum Kavaliershäusl fortsetzten. Es stand klein wie ein Hexenhaus im Halbschatten unter der Eiche, der Kletterrosenstrauch um die Eingangstür blühte, und Kirsty hatte Geranien in die Fensterkästen gepflanzt.
Sie war schon seit zwei Wochen hier. Das Haus sah richtig bewohnt aus, ganz anders als im Frühling. Vor der Gartenpforte stand der Lastwagen. Mein Vater saß auf der Bank unter der Eiche und trank ein Bier.
Plötzlich kam Herr Alois aus dem Haus gestürmt und raste uns bellend wie ein Höllenhund entgegen. Als er mich erkannte, zögerte er, sprang ein paarmal an mir hoch und knurrte Matty pflichtgemäß ein bißchen an.
„Bist ein feiner Wachhund!“ sagte Matty besänftigend.
Herr Alois hörte zu knurren auf und beschnupperte ihn voller Interesse. Wahrscheinlich roch er, daß Matty auch einen Hund hatte. Wir gingen durch den Garten, in dem Wicken, Rosen, Klematissterne und Malven wild durcheinander blühten. In einem Beet hatte Kirsty Salat und Küchenkräuter angepflanzt, und der Sommerflieder an der Hausmauer war von Schmetterlingen und Hummeln umschwirrt.
„Es sieht fast wieder so aus wie früher, als Karen noch lebte“, sagte Matty nachdenklich. „Ich bin gern hergekommen. Es war immer so friedlich hier.“
Auch ich spürte die friedliche, heitere Stimmung. Doch als Kirsty aus dem Schuppen kam, in Shorts aus abgeschnittenen Jeans und einem verklecksten Herrenhemd, war ich sofort wieder voller Anspannung und Abwehr.
Sie begrüßte uns freundlich, versuchte aber nicht, mir die Hand zu geben. Matty erklärte, er wäre mitgekommen, um zu helfen. Jetzt tauchte auch mein Vater auf, die leere Bierflasche in der Hand. Er sagte, er wolle nur rasch seine Badehose anziehen und eine kalte Dusche unter dem Gartenschlauch nehmen, dann könnten wir mit der Arbeit beginnen. Und es klang, als gäbe es für ihn nichts Schöneres auf der Welt, als Möbel über eine steile Treppe durch ein enges Haus zu schleppen.
Wir schufteten zwei Stunden lang, bis wir meine Möbel, Bücherkisten, Kleiderkartons und die Matratzenliege in die Mansarde geschafft hatten. Dann kamen Vaters Sachen an die Reihe. Er sollte das Zimmer im ersten Stock neben dem von Kirsty bekommen; einen kleinen, aber hellen Raum mit Blick auf den Wald.
Wir bugsierten zuerst seinen großen, schweren Schreibtisch aus dem Lastwagen. Als wir damit zur Gartenpforte kamen, sagte Matty keuchend: „Das geht nicht. Das Ding ist zu breit, oder vielmehr ist die Pforte zu schmal; wie man’s nimmt.“
Mein Vater sah nicht gerade sehr glücklich aus, mußte aber zugeben, daß Matty recht hatte. Wir überlegten hin und her. Dann kam Kirsty dazu, sah sich die Sache an und sagte: „Hinter dem Haus ist der Zaun sowieso an einer Stelle ziemlich wackelig. Vielleicht kann man das morsche Stück herausnehmen und später ein paar neue Latten einsetzen. Dort bringt ihr den Schreibtisch sicher am besten durch.“
Vater und Matty gingen mit Kirsty ums Haus herum. Ich blieb allein beim Schreibtisch zurück, legte mich ins Gras am Wegrand, verschränkte die Hände hinter dem Nacken und sah in den Himmel. Da segelten weiße Wölkchen auf blauem Grund, wie sich das für einen bayerischen Himmel gehört, und Lerchen schwirrten zwitschernd über den Koppeln.
Das Licht war so grell und strahlend, daß ich die Augen schließen mußte. Es tat gut, nach all der Schlepperei ein bißchen auszuruhen. Hinter meinen geschlossenen Lidern tanzten Lichtpunkte, und ich hörte die Bienen und Hummeln im Garten summen.
Plötzlich mischte sich ein anderes Geräusch in die friedlichen Laute: Schritte knirschten auf dem Kies. Ich dachte, daß es Vater und Matty waren, die zurückkamen, um den Schreibtisch zu holen.
Als ich die Augen öffnete, sah ich ein Gesicht über mir, doch es war nicht das von Vater oder Matty. Es war Jörn. Seine Augen waren sehr blau, fast wie der Himmel, und ich sah, daß er ein Grübchen im Kinn hatte, das ich nie zuvor bemerkt hatte.
Ziemlich verwirrt richtete ich mich auf und strich mir das Haar aus der Stirn. Jetzt erst bemerkte ich, daß er ein wunderschönes indianisches Hemd aus Rehleder trug, das mit Perlen, Bändern und kleinen blauen Federn verziert war.
„Hallo, Bärentöter!“ sagte ich.
Er lachte mich an. „Hallo“, sagte er. „Bist du unter den Schreibtisch geraten?“
Ich schüttelte den Kopf, noch immer ziemlich verwirrt. „Ich warte bloß, bis Matty und Vater zurückkommen. Wir konnten das Ungetüm nämlich nicht durch die Gartenpforte bugsieren, weißt du, und jetzt wollen sie versuchen, ein Stück Zaun auszuhängen . . .“
Ich stockte, weil ich merkte, daß ich zu viel und zu rasch redete, und fügte ruhiger hinzu: „Herrje, hast du ein schönes Hemd!“
„Eigenbau“, sagte er.
„Was?“ Ich starrte ihn an. „Das hast du selbst gemacht?“
„Nein, ich nicht, so geschickt bin ich leider nicht. Aber eine Freundin hat’s gemacht, ein Mädchen aus meiner Schule.“
Es versetzte mir einen Stich, das zu hören. Jörn hatte also eine Freundin, die kunstvolle indianische Hemden für ihn nähte. Doch was hatte ich anderes erwartet? Bei seinem Aussehen liefen ihm die Mädchen sicher dutzendweise nach.
„Das Hemd ist eine Art Bezahlung dafür, daß ich ihr ab und zu Reitstunden gebe“, erklärte Jörn; und das machte die Sache aus irgendeinem Grund etwas besser für mich.
Ich sagte: „Ich hätte auch gern Reitstunden, aber mit solchen Sachen kann ich nicht aufwarten. Ich könnte nicht mal einen Pullover stricken.“
Jörn grinste. „Man kann alles lernen, wenn man will – nicht nur Reiten, sondern auch Stricken. Aber Matty wird dir bestimmt nur zu gern umsonst Reitunterricht geben.“
Matty . . . Das hieß wohl im Klartext, daß Jörn sich nicht mit mir herumplagen wollte, wenn ich ihm nichts dafür gab.
„Sicher“, sagte ich kühl. „Matty würde für seine Freunde eine ganze Menge tun, ohne etwas dafür zu erwarten.“
Er warf mir einen Seitenblick zu. Wieder spürte ich jene kriegerische Stimmung, die so leicht zwischen uns aufkam.
„Soll das eine Anspielung sein?“ fragte er. „Schon recht, ich gebe ja zu, daß ich nicht so selbstlos bin wie mein Bruder. Im übrigen kannst du von uns beiden jede Menge Reitstunden beanspruchen, falls du vorhast, wieder im Stall zu helfen.“
„Beanspruchen?“ wiederholte ich hitzig. „Vielen Dank, aber ich beanspruche gar nichts. Ich gehöre nämlich auch zu den Dummköpfen, die anderen helfen können, ohne gleich etwas dafür zu verlangen.“
Möglicherweise fühlte sich Jörn auch jetzt nur dazu verpflichtet, uns beim Einzug zu helfen, weil ich während der Osterferien im Stall von Dreililien gearbeitet hatte. Dieser Verdacht ging mir durch den Sinn, als Vater und Matty gleich darauf zurückkamen, und Jörn beim Schreibtisch mit anpackte, nachdem er sein kostbares indianisches Hemd ausgezogen hatte.
Ich dachte, der Tag wäre verdorben, doch so war es nicht. Es gab zu viel zu tun, um meiner Enttäuschung über Jörns Egoismus nachzuhängen. Nachmittags hatten wir den Lastwagen ausgeräumt und die Möbelstücke auf die verschiedenen Zimmer verteilt. Ich kochte Kaffee, und wir setzten uns unter die Eiche und aßen Johannisbeerkuchen. Herr Alois kauerte unter dem Tisch und fraß mit – ausnahmsweise, zur Feier des Einzugs, wie Kirsty sagte. Eigentlich durfte er keinen Kuchen bekommen, sonst wurde er zu fett.
Vater gönnte sich nur eine kurze Pause, ehe er wieder losfuhr. Er mußte den Lastwagen in die Stadt zurückbringen, da er ihn nur bis zum Abend gemietet hatte.
Wir blieben noch eine Weile sitzen, Matty, Jörn und ich, während Vater aufbrach und Kirsty sich in die Hängematte legte, die zwischen den Bäumen im Obstgarten hing. Jörn streckte sich im Halbschatten im Gras aus, seufzte tief und sagte: „Jetzt wäre ein Bad im Weiher recht. Kommt ihr mit?“
„Wir wollten doch zuerst noch Nells Zimmer einrichten“, erwiderte Matty.
Ich sagte rasch: „Unsinn, dabei braucht ihr mir nicht auch noch zu helfen. Ich mache das mit meinem Vater, wenn er zurückkommt.“
„Seid doch nicht so umständlich“, murmelte Jörn. Seine Augen waren geschlossen, und er kaute an einem Grashalm. „Die Sache ist ganz einfach: Wir reiten jetzt zum Weiher und baden. Später, wenn es nicht mehr so heiß ist, kommen wir zurück und richten Nells Bude ein. Was haltet ihr davon?“
„Schwimmen wäre jetzt göttlich“, gab ich zu. „Aber hast du vergessen, daß ich noch nicht reiten kann?“
„Ach was, das macht doch nichts“, sagte Jörn träge. Dabei öffnete er die Augen und sah mich von unten herauf an. „Wir setzen dich auf Hazel. Die ist so lammfromm, daß dir überhaupt nichts passieren kann. Sie wird einfach nur hinter Matty hertrotten, und für dich ist’s eine gute Vorübung.“
Ich warf Matty einen Blick zu. Er nickte und bestätigte: „Mit Hazel brauchst du keine Angst zu haben. Wir reiten ohne Sattel, und du hältst dich einfach an ihrer Mähne fest. Bis zum Weiher sind’s sowieso nur ungefähr zehn Minuten.“
„Aber wenn sie zu galoppieren anfängt?“ sagte ich schwach.
„Wenn wir im Schritt reiten, tut Hazel es ebenfalls“, beruhigte mich Matty.
Ich dachte an alles, was ich von scheuenden Pferden gelesen hatte, die über irgend etwas erschrocken waren und durchgingen. Wenn uns jetzt ein Hase über den Weg lief oder irgendwo im Wald ein Schuß erklang?
Die Vorstellung jagte mir einen kalten Schauder über den Rücken, aber ich sagte nichts mehr. Ich wollte vor den beiden nicht wie ein Feigling dastehen, besonders nicht vor Jörn. Es war ein Risiko, doch wenn ich jemals reiten lernen wollte, mußte ich es wohl eingehen.