Читать книгу Psychologie der Eigensicherung - Uwe Füllgrabe - Страница 24
3. Die Vernetzung psychologischer und körperlicher Faktoren
ОглавлениеDieses Buch ist kein Ersatz für ein Training von realistischen Situationen für die Eigensicherung; die Survivability ist aber die psychologische Grundlage und sogar Voraussetzung für die Umsetzung dieser Techniken. Durch eine passive Haltung, Angst usw. kann nämlich die Umsetzung dieser Techniken in der Praxis verhindert werden.
In vielen sportlichen und polizeilichen Handlungen sind psychologische und körperliche Faktoren oft eng vernetzt.
Beispielsweise erschuf Jigoro Kano, der Vater des modernen Judo, keineswegs nur eine Sportart, sondern formulierte auch das Prinzip der drei Kulturen: der intellektuellen, moralischen und körperlichen Kultur. Die Bedeutung der Erziehung liegt in der Harmonie dieser drei Kulturen (s. Maekawa & Hasegawa, 1963). Und die von Kano gegründete Institution KODOKAN gab mehrere Bücher heraus, in der zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen veröffentlicht wurden. Die Bandbreite dieser Untersuchungen reicht von physiologischen und röntgenographischen Untersuchungen verschiedener Judotechniken bis hin zu Befragungen, welche Motivation jemand hat, Judo zu betreiben. Sie reichen von den Verletzungen, die durch Judo auftreten können, bis hin zu philosophischen und pädagogischen Fragen. Man sieht hier also auch deutlich, dass Judo ein Gesamtsystem darstellt, das nicht nur die körperliche Betätigung umfasst, sondern auch psychologische, pädagogische, ethische und philosophische Gebiete und Themen beinhaltet.
Für das polizeiliche Handeln ist eine Untersuchung von McKee (2000) von allergrößter Bedeutung. Er stellte nämlich fest, dass bei drei psychomotorischen Fähigkeiten, die bei einer Verhaftung eine wichtige Rolle spielen – Handschellen anlegen, Durchsuchung, Kontrolltechnik (z. B. Armhebel) – nach 2 Jahren nur noch 31–36 % der Techniken beherrscht wurden.
Die Konsequenz kann nur lauten: Psychomotorische Fähigkeiten müssen so lange geübt werden, bis sie automatisiert sind, bis sie auch „im Schlaf beherrscht“ werden. Dadurch gewinnt man in Gefahrensituationen ein „Zeitguthaben“: Man muss nicht nachdenken, sondern kann sich voll auf das wirkungsvolle Handeln beschränken.
Auch das sachgerechte Fallen auf den Boden ist nämlich keineswegs nur eine rein körperliche, sondern auch eine psychologische Angelegenheit. Für einen Judoka, der den Judo-Bodenkampf gewohnt ist, hätte Fallen die Wirkung, dass er jetzt auf dem Boden weiterkämpft. Für denjenigen, der weder sachgemäß Fallen gelernt hat, noch weiß, was er in dieser Lage tun soll, hat diese Situation wohl eine lähmende Wirkung, da er von dem Gefühl der Hilflosigkeit beherrscht wird. Deshalb weist DuCharme (2001) auf die Notwendigkeit hin, dass Polizisten auch auf ungünstigen Bodenverhältnissen und mit behindernder Kleidung (Schutzweste usw.) sachgemäß fallen lernen, z. B. bei schlechten Bodenverhältnissen das Abrollen wie bei einem landenden Fallschirmspringer.
Der entscheidende psychologische Faktor besteht nun darin, wie man die Situation des Fallens bewertet. Viele Ungeübte sehen dies so, dass sie jetzt auf der Verliererstraße sind. Der Geübte sieht dagegen das Fallen völlig anders, nämlich lediglich als eine weitere Möglichkeit zu kämpfen, und zwar in einer Lage, wo vermutlich die meisten Gegner ungeübt sind und daher dem Experten auch psychologisch unterlegen sind.
Anschaulich hat dies Alain Valin in dem Titel seines 1959 in Paris erschienenen Buches formuliert: Maitrise et Puissance par le JUDO au sol („Meisterschaft und Stärke durch das Judo am Boden“), wobei die beiden Wörter maitrise und puissance dem tieferen Sinn nach das Gleiche ausdrücken: Ich beherrsche die Situation. Und in seinem davor veröffentlichten ersten Band zum Judobodenkampf schildert Valin ausschließlich die vielen Verteidigungsmöglichkeiten, wenn man sich in der unterlegenen Position befindet.
Falls die polizeilichen Techniken nicht richtig beherrscht werden, kann also ein gefährlicher Domino-Effekt auftreten: Wenn man die sachgerechten Techniken bei einer Durchsuchung/Festnahme nicht beherrscht, gerät man leicht ins Straucheln und fällt auf den Boden. Dort entsteht bei einem Untrainierten leicht das Gefühl, „auf der Verliererstraße zu sein“, er empfindet Hilflosigkeit und bleibt eher passiv. Wenn der Untrainierte dann auch noch gewürgt wird, wird dies seine Gefühlslage noch steigern, und die Situation wird lebensbedrohlich. Deshalb ist es wichtig, sich auch auf derartige Extremsituationen geistig vorzubereiten und auch auf die Körpergefühle, die in solchen Situationen auftreten können. Dazu ist ein realistisches Training notwendig, wobei die Techniken automatisiert werden müssen.
Eigensicherung hat also als Voraussetzung, dass man nicht passiv bleibt oder hofft, dass einem schon nichts passieren wird. Gefordert sind vielmehr aktives Denken und eine sachgerechte Vorbereitung auf mögliche Gefahren.