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6. Das dynamische Weltbild

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Es wird also deutlich, dass falsche Denkmuster leicht zu Gewalt und zur Gefährdung des eigenen Lebens führen können. Deshalb muss sich das Denken an den richtigen Theorien vom menschlichen Verhalten orientieren, d. h. an Theorien, die nicht nur am grünen Tisch entworfen wurden, sondern sich aus der Beobachtung der Realität geformt haben. Derartige Theorien sind deshalb notwendig, weil sie das Wissen systematisch und übersichtlich darstellen und gleichzeitig praktische Hinweise für das richtige Handeln liefern. Eine bloße Ansammlung von Tipps hat dagegen mehrere Nachteile: Sie ist unübersichtlich, der innere Zusammenhang der Tipps wird nicht deutlich; es ist nicht erkennbar, ob der Tipp tatsächlich nützlich ist oder sogar gefährlich werden kann (s. z. B. Stalking, s. Kap. 14).

Welche Theorien und Paradigmen beispielsweise für die Eigensicherung wichtig sind, ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen: Die Betrachtungsweise und sachgemäße Steuerung eines Gesamtsystems (hier das System Polizist – Interaktionspartner) und die zwischenmenschliche Spieltheorie. Dies sind aber nicht nur einfache Theorien, die nebeneinanderstehen. Vielmehr kann man sie zu einem übergeordneten Paradigma, Denkmodell zusammenfassen: Einem dynamischen Weltbild (Füllgrabe, 2005). Dieses Weltbild ist für die Eigensicherung wichtig, im Gegensatz zu dem Weltbild des geschilderten Polizisten bei der Verfolgung. Dieses war

egozentrisch: Er sieht nur sich selbst als Handelnden und

statisch: Er berücksichtigt nicht, dass der Zustand der Nichtaggression plötzlich in den Zustand der Gewalt gegen ihn umschlagen könnte (= Status quo-Denken im Sinne Dörners, 1989).

Konkret beinhaltet das dynamische Weltbild (Füllgrabe, 2005) unter anderem folgende Paradigmen, die anschaulich darstellen, was man bedenken muss, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen, auszuweichen und zu bewältigen:

Waddingtons epigenetische Landschaft

Ein Ball rollt einen Abhang mit verschiedenen Tälern hinab. Deshalb muss sich der Ball an verschiedenen Abzweigungen „entscheiden“, in welches der Täler er weiterrollen will, ob er sich nach links oder rechts bewegen soll. Bei der nächsten Abzweigung muss er sich erneut entscheiden, ob er nach links oder rechts weiterrollen soll (s. a. Füllgrabe, 1997, 2016). Es gibt also höchst unterschiedliche Laufrichtungen für den Ball. Damit wollte Waddington (1957, S. 29) zeigen, dass sich die gleiche Erbanlage je nach Situation im Laufe der Zeit völlig anders entwickeln kann. Aber auch das Schicksal des Polizisten kann sich völlig anders entwickeln: Er kann plötzlich angegriffen und verletzt oder getötet werden.

Katastrophentheorie

Ein Zustand kann plötzlich in einen völlig anderen umschlagen, wenn sich vorher eine Phase der Instabilität entwickelt hat (Davies, 1988). Durch eigene Unvorsichtigkeit kann der Polizist z. B. bei der Verfolgung eine Situation aufbauen, in der er dem Täter die Möglichkeit verschafft, ihn leicht anzugreifen.

Chaostheorie

Bereits kleine Abweichungen von einem Zustand können völlig andere Endzustände bzw. Entwicklungen des Schicksals bewirken („Schmetterlingseffekt“, Davies, 1988). Kleine Störungen der Aufmerksamkeit können den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Deshalb helfen oft zwei einfache Grundprinzipien, Gefahren zu überleben: Den Gefahrenradar einschalten (z. B. sehen, was der andere mit den Händen macht) und eine Reaktionsdistanz bewahren (s. Mentales Judo, Kap. 8).

Puffersysteme

Dies ist das dem Schmetterlingseffekt entgegenwirkende Prinzip: Die Wirkung negativer Ereignisse kann abgemildert oder sogar aufgehoben werden. Beim Menschen ist z. B. die psychische Belastbarkeit ein derartiges Puffersystem, d. h. die geistige Verarbeitung eines Erlebnisses. Dazu ist z. B. eine Stressimpfung notwendig (s. Kap. 11).

Die Steuerung eines sozialen Systems

Man muss damit rechnen, dass man zu bestimmten Zeitpunkten an einen kritischen Punkt kommt, wo sich das Schicksal in die eine oder andere Richtung entwickeln kann. Deshalb muss man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und es in Richtung Frieden steuern (s. Kap. 7). Wichtig ist dazu ein aktiver Lebensstil und aktives Denken (s. Gefahrenradar). Warum überlebten einige Polizisten einen Angriff, während andere in vergleichbaren Situationen starben? Weil Polizisten, die einen Angriff überlebten, z. B. ihr Eigensicherungstraining ernst genommen und in ihrer Freizeit oder sogar auf eigene Kosten trainiert hatten (Pinizzotto, Davis & Miller, 2000).

Soziale und psychologische Fallen

Die sorgfältige Steuerung sozialer Systeme ist auch deshalb wichtig, weil es in der epigenetischen Landschaft soziale und psychologische Fallen geben kann. Derartige Fallen bewirken, dass Menschen oder Organisationen in eine Richtung gehen oder bestimmte Beziehungen entwickeln, die zunächst positiv und verlockend erscheinen, sich später als unangenehm oder sogar tödlich erwiesen. Es geht also nicht nur um konkrete Fallen, in die ein Polizist z. B. bei einer Verfolgung geraten kann. Typisch für psychologische Fallen sind z. B. die Opfer von Betrügereien oder Frauen, die sich in gefährliche Beziehungen einbeziehen lassen, etwa Frauen, die bei einem Mann bleiben, der sie schlägt (Füllgrabe, 1996), oder Frauen, die Mörder lieben (Füllgrabe, 1997).

Die zwischenmenschliche Spieltheorie

Im Gegensatz zu Waddingtons epigenetischer Landschaft läuft im menschlichen Leben nicht ein Ball in der Situation, sondern auch viele andere Bälle. Dieses Bild der vielen interagierenden Bälle entspricht z. B. auch dem Schicksal, das ein Polizist erleiden kann. Viele Begegnungen mit Bürgern verlaufen problemlos, aber gelegentlich treten Entscheidungspunkte (Krisen) auf, wo sich sein Schicksal in die eine oder andere Richtung neigen kann. Dies gilt spezifisch für die Begegnung mit extrem Gewaltbereiten. Hier wird auch der Denkfehler eines Polizisten deutlich, der sagt: „Warum muss ich mir eine schusssichere Weste anziehen, mir ist noch nie etwas passiert?!“ Dass die bisherigen Interaktionen gewaltfrei waren, besagt doch nicht, dass auch die nächste Interaktion ebenfalls gewaltfrei sein wird.

Diese Erkenntnis führt zu der im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtigen Frage: Wie kann man den Zusammenstoß verhindern oder abmildern? Diese Frage wird durch ein wichtiges Paradigma beantwortet, das bei zwischenmenschlichen Begegnungen eine wichtige Rolle spielt: Die zwischenmenschliche Spieltheorie. Denn die Interaktion zweier Menschen erfolgt wie bei einem Schachspiel: Zug um Zug, jeder beeinflusst den anderen, und jeder hat seine Chancen, wie auch sein Gegenüber (Füllgrabe, 1994, 1995, 1997, 2016). Deshalb muss man die Regeln der Interaktion kennen, man muss auf Täuschungen, Lügen, Ablenkungsmanöver, Angriffe usw. achten, und man muss ein Verhalten zeigen, das freundlich und kooperativ ist, gleichzeitig aber auch dem Interaktionspartner unmissverständlich signalisiert, dass man sich gegen Ausbeutung und Gewalt zur Wehr setzen wird. Dies ist besonders wichtig gegenüber einem Vergewaltiger. Viele benutzen nämlich die Strategie „TESTER“ (Axelrod, 1991), d. h. sie stellen zuerst fest, ob die Frau ängstlich oder unterwürfig reagiert (Füllgrabe, 1997, 2016). Deshalb muss eine Frau sofort zu Beginn dieser Interaktion „Nein!!!“ oder „Stopp!!!“ sagen (TIT FOR TAT-Strategie, s. a. Kap. 6). Die Vorsicht der TFT-Strategie schützt auch vor der Strategie „Tranquilizer“ (Axelrod, 1991), die zuerst eine pseudovertrauensvolle Kommunikation zeigt, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, und dann zuschlägt, wie z. B. der Serienmörder Ted Bundy.

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