Читать книгу Psychologie der Eigensicherung - Uwe Füllgrabe - Страница 26
5. Überlebenswichtig: Das richtige Weltbild
ОглавлениеPinizzotto, Davis und Miller (2002) stellten bei Interviews mit Polizisten fest, dass diese bei Verfolgungen von Tätern zu Fuß die Verfolgung aufnehmen, ohne nachzudenken und ohne einen Verfolgungsplan zu formulieren. (Ähnliches gilt auch für die Verfolgung eines Autofahrers.) Warum handeln die Polizisten oft so gedankenlos, ohne nachzudenken? Weil – wie Pinizzotto, Davis und Miller (2002) betonen – bei Verfolgungen ihrem Denken und Handeln auch einige unangemessene Annahmen zugrunde liegen. Diese Annahmen verraten außerdem – aus höherer Sicht – auch ein falsches Weltbild.
Typisch ist z. B. folgender Gedanke: Wenn ich den Verdächtigen schnell verfolge, werde ich Erfolg haben, ich kann ihn nämlich festnehmen. Die Handlung des Polizisten wird also durch das Ziel ausgelöst, den Täter zu fassen. Pinizzotto et al. (2002) wiesen aber darauf hin, dass es nicht nur darum geht, den Täter zu fassen, sondern den Täter sicher zu fassen.
Hier wird ein gefährlicher Denkfehler deutlich: Der Polizist sieht nur sich selbst als Handelnden und berücksichtigt nicht, dass der Verfolgte ebenfalls handeln und zur Gewalt greifen kann. Er berücksichtigt nicht das Gesamtsystem der Handelnden: Er selbst und der Verfolgte. Was er unter dem Gesichtspunkt seines Erfolgs oder Misserfolgs sieht, kann etwas ganz anderes sein, nämlich ein Rennen in das Verderben, wie es auch Bohrer, Davis und Garrity (2000) im Untertitel ihres Artikels formulierten: „Running into danger“.
Man beachte: Wenn der Täter versucht hat, wegen eines (evtl. nur aus der Sicht des Polizisten) relativ kleinen Delikts im Rahmen einer Verfolgung zu Fuß oder mit dem Auto zu entkommen, hat er damit bereits seine Bereitschaft zum Widerstand angekündigt. Der Grund für die Flucht ist wohl meistens ein größeres Delikt, als der Polizist vermutet, z. B. illegaler Drogen- oder Waffenbesitz oder eine Leiche im Kofferraum. Deshalb wird wohl der Widerstand größer sein, als der Polizist vermutet.
Noch problematischer ist, dass der Verdächtige die Führung der Situation übernehmen kann. Er lockt den Polizisten z. B. in ein Gebiet, das für ihn vorteilhaft ist, das er besser kennt als der Polizist, oder in ein dunkles oder bewaldetes Gebiet, wo der Polizist desorientiert ist und seinen Kollegen seine Position nicht mitteilen kann. Der Täter kann den Polizisten auch in das Gebiet seiner Gang führen, wo er Komplizen hat, oder er leitet ihn in eine Sackgasse oder einen Tunnel, wo er sich plötzlich umdreht und den Polizisten angreift. Gefährlich wird es auch, wenn ein Polizist – ohne auf einen Kollegen zur Sicherung zu warten – sich dazu verleiten lässt, dem Täter in ein leerstehendes Gebäude zu folgen.
Ein weiterer Denkfehler lautet: Wenn ich friedlich bin, provoziere ich den anderen nicht, und der andere bleibt auch friedlich. Diese Denkweise hat aber eine (manchmal gefährliche) Schwachstelle: Sie gilt nicht für alle Situationen, gegenüber allen Menschen. Darüber kann sie – wie Beispiele in Rollenspielen, aber auch in der Realität belegen – Passivität oder unangemessenes Verhalten selbst dann auslösen, wenn aktives Handeln zur Gefahrenbeseitigung notwendig wäre.
Bei der Analyse zwischenmenschlichen Verhaltens wies Leary (1957) darauf hin, dass grundsätzlich eigene Freundlichkeit bei einer anderen Person Freundlichkeit auslöst, dass es aber Persönlichkeitsstrukturen (z. B. autoritäre) gibt, die Freundlichkeit als Schwäche deuten und ausnutzen bzw. als unausgesprochene Aufforderung, die Führung in der Situation zu übernehmen (s. a. Füllgrabe, 1982, S. 99). Diese Beobachtung von Leary (1957) weist auf die Notwendigkeit hin, Interaktionen gemäß einer zwischenmenschlichen Spieltheorie zu betrachten (Füllgrabe, 1997, 2016).
Zahlreiche spieltheoretische Untersuchungen kommen nämlich immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Wer sich bedingungslos kooperativ verhält, wer von Beginn an mitteilt, dass er auf keinen Fall Gewalt benutzen werde, wird ausgebeutet oder aggressiv behandelt, und die Mitspieler sind immer über ein derartig bedingungslos kooperatives und/oder gewaltfreies Verhalten erstaunt (Reychler, 1979). Dies ähnelt dem Erstaunen von Tätern, die Polizisten töteten, darüber, dass der Polizist nicht die Führung der Situation übernahm oder den Täter nicht daran hinderte, in das Polizeiauto zu gelangen und das Gewehr zu bekommen, dem Polizisten die Dienstwaffe aus der Hand zu nehmen usw. (FBI, 1992).
Shure, Meeker und Hansford (1965, S. 116) zogen aus ihren Untersuchungen die Erkenntnis: Wer nicht bereit ist, sich zu wehren, lädt zu Ausbeutung und Aggression ein, selbst diejenigen, die nicht zu Beginn der Interaktion diese Absicht haben.
Shure et al. (1965) finden dieses Ergebnis deshalb so bemerkenswert, weil es sich bei den Versuchspersonen um Studenten handelte, die keine extrem unkooperative Gruppe darstellten. Man kann sich deshalb vorstellen, wie gefährlich eine falsche Strategie sein kann, wenn sie gegenüber gewaltorientierten Personen gezeigt wird (s. z. B. das „Gesetz der Straße“, Anderson, 1994, 1999).
Manche zwischenmenschlichen Begegnungen sind also keineswegs nur einfache Interaktionen, sondern Machtspiele! Wie kann man aber den Zustand des Friedens bewahren? Reychler (1979) weist deshalb darauf hin, dass es nicht ausreicht, nur ein Image des Pazifisten (der Gewaltfreiheit) zu präsentieren. Damit eine friedliche Strategie erfolgreich ist, muss das Bild, das der andere von einem hat, auch noch beinhalten, dass man aufgeschlossen (für die andere Person, Ideen usw.), intelligent, aktiv und ehrlich, aufrichtig ist, aber nicht starrsinnig, dumm und nur jemand, der Eindruck schinden will.
Deshalb kann ein Polizist – wie dieses Buch zeigt – durchaus gewaltfrei auch mit gewaltbereiten Personen umgehen, wenn er gemäß der TIT FOR TAT-Strategie (s. Kap. 6) handelt: Grundsätzlich freundlich und kooperativ sein, aber sofort auf den anderen reagieren und sich zur Wehr setzen.
Man beachte, dass der wichtigste Faktor der Gewaltvermeidung und Kooperationsförderung in der Untersuchung von Reychler (1979)„receptivity“ war, was man übersetzen kann mit aufgeschlossen, beweglich, aufnahmebereit (für Eindrücke, Reize, Ideen, Anregungen usw.) sein. Mit anderen Worten: Man darf nicht statisch sehen und denken, sondern muss in der Situation die Dinge ständig neu bewerten und sofort darauf reagieren können. Diese Reaktionsfähigkeit, die ein wesentlicher Faktor der TIT FOR TAT-(TFT-)Strategie ist, ist übrigens nicht nur wichtig für Eigenschaften und Gewaltvermeidung, sondern auch für Lügenentlarven und sachgemäße Vernehmungen (Füllgrabe, 1995). Denn dort muss ich ebenfalls auf Veränderungen des Verhaltens meines Gegenübers achten, weil diese wegen der Mehrdeutigkeit von Gestik, Mimik usw. besonders aufschlussreich sind. Und dies gelingt nur, wenn ich durch eine TFT-Strategie die gleiche Situation so gestalte, dass ein Unschuldiger keine Angst vor falscher Beschuldigung empfindet, ein Schuldiger dagegen den Druck vor Entdeckung fühlt.
Im polizeilichen Bereich hat Schmalzl (1999) die TIT FOR TAT-Strategie in seinem Begriff „Strategie der bedingten Freundlichkeit“ für deeskalierendes Einschreitverhalten umgesetzt: Ich bin freundlich, geht der andere auf Konfrontation, zeige ich ihm sofort seine Grenzen auf. Lenkt der andere ein, kehre ich zur freundlichen Grundhaltung zurück (= Versöhnlichkeit von TFT).