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Kapitel 3 Gewaltentwicklung und Gewaltvermeidung 1. Gewalt – spieltheoretisch gesehen
ОглавлениеBei der Analyse von gewalttätigen Männern und spezifisch von direkten Gewalttätigkeiten von Personen gegen Polizeibeamte benutzt Toch (1969) die Betrachtungsweise der Spieltheorie (s. a. Füllgrabe, 1997, 2016). Diese Betrachtungsweise sieht menschliches Verhalten so, wie es z. B. bei einem Schachspiel der Fall ist. Dort ist jeder Zug die rationale Reaktion eines Spielers auf den Zug des anderen Spielers. Beim menschlichen Verhalten sind, im Gegensatz zum Schach, diese „Spielzüge“ (= Verhaltensweisen) nicht immer rational (im Sinne von „vernünftig“), sondern manchmal sogar selbstschädigend oder eigentlich gegen die eigenen Interessen gerichtet. Solche Fälle können sein: Durch rechthaberisches Verhalten oder wegen der Bewahrung seines Selbstbildes (man will z. B. nicht als schwach erscheinen) provoziert man einen Streit, bei dem man leicht selbst zu Schaden kommen kann. Viele der von Toch (1969) beschriebenen Konflikte von Polizisten entsprechen diesem Muster.
Aber selbst wenn im Gegensatz zum Schach die einzelnen „Züge“ im menschlichen Verhalten nicht immer rational, also „vernünftig“ durchgeführt werden, entsteht das gleiche Muster: Wie beim Schach entwickeln sich die einzelnen Verhaltensweisen der handelnden Personen und die jeweiligen Reaktionen der jeweils anderen Personen allmählich in eine bestimmte Richtung, ähnlich der Endstellung beim Schach. Und dieses Endergebnis ist nicht „irgendwie“ plötzlich da, sondern hat sich in einem mehr oder minder langen Zeitraum entwickelt. Doch oft berücksichtigt man nicht die Interaktion, die gegenseitige Beeinflussung zweier Personen und den „Zeitpfeil“ und ist dann völlig von dem Endzustand eines zwischenmenschlichen Ereignisses, wie z. B. einer Gewaltsituation, überrascht. Eine Betrachtungsweise gemäß der zwischenmenschlichen Spieltheorie schärft dagegen den Blick dafür, was sich in der Situation abspielt, warum es sich so abspielt, wie es sich abspielt, und warum es sich in eine bestimmte Richtung hin entwickelt. Dies verhindert nicht nur Überraschungen, sondern es zeigt auch die Möglichkeiten, die Entwicklung in eine positivere Richtung (z. B. Gewaltfreiheit) zu lenken. Toch (1969, S. 35) hat es anschaulich formuliert: „In gewaltorientierten Begegnungen finden wir, dass Gewalt eher eingebaut ist als beabsichtigt.“ „Eingebaut“ bedeutet, dass die Art und Weise der zwischenmenschlichen Handlungen in eine bestimmte Richtung gehen können, hier z. B. Gewalt.
Gewalt muss also nicht unbedingt anfänglich beabsichtigt sein. Aber der Vorfall selbst entwickelt sich zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung, weil die Person(en) aufgrund ihrer Persönlichkeit die entsprechenden „Spielzüge“ dazu macht/machen. Die persönlichen Orientierungen bewirken charakteristische „Eröffnungszüge“ (Toch, 1969, S. 35), deshalb entwickelt sich die Interaktion in eine bestimmte Richtung. Man könnte bei jedem weiteren Zug die Richtung ändern, d. h. Gewalt vermeiden. Doch viele Menschen haben ein zu statisches Weltbild und betrachten nur sich selbst als handelnde Person und übersehen damit den Einfluss der Interaktion. Rational mag dies vielen Menschen einleuchten, taucht aber dann doch nicht in ihrem Denken und Handeln auf. Dies hat negative Folgen, z. B. bei der Gewaltentstehung. Wenn den „Spielern“ nicht bewusst wird, dass es ein „Spiel“ ist, wenn auch ein gewaltorientiertes, weil sie die „Spielregeln“ nicht kennen (z. B. das Gesetz der Straße), sehen sie die Veränderungsmöglichkeiten nicht. Deshalb eskaliert die Situation zur Gewalt. Es ist wie beim Untergang der TITANIC (1912): Die Schiffskatastrophe war keineswegs unvermeidlich. Aber allmählich hatte sich schrittweise eine gefährliche Situation aufgebaut, die dann nach und nach zur Katastrophe führte (Füllgrabe, 1994b).