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3. Die vermeidbare Entwicklung von Gewalt

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In manchen Fällen entsteht der Konflikt direkt aus der Interaktion. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn sie derartig unangemessen und fehlerhaft ist, bedingt durch den Mangel an entsprechender kooperationsorientierter Einstellung und sprachlicher Kompetenz, dass man den anderen als bedrohlich, Angst einflößend ansieht oder als jemanden, der einen erniedrigt. Wie aus einem harmlosen Ereignis sich stufenweise Gewalt entwickeln kann, zeigt Toch (1969, S. 122 f.) an folgendem Beispiel auf:

Zwei Polizisten werden zu einer Familienstreitigkeit gerufen. Vor dem Haus steht der Verdächtige. Nur einer der Polizisten wird dann in eine sprachliche und körperliche Auseinandersetzung verwickelt. Er sieht das Ereignis so: Der Verdächtige war bösartig und widerspenstig. Er hatte seine Hände in den Taschen seines langen Mantels. Ich war höflich und geduldig. Er nannte weder seinen Namen noch sein Alter. Der Anweisung, die Hände aus der Tasche zu nehmen, kam er nicht nach; er weigerte sich, dies zu tun.

An dieser Stelle kann man den Polizisten eigentlich verstehen. Hier wird von ihm ein wesentlicher Grundsatz der Eigensicherung berücksichtigt. Sobald man nicht die offenen Handinnenflächen eines Menschen sehen kann, kann man nie sicher sein, dass er nicht irgendeine Waffe darin verborgen hält.

Das Interview, das Toch mit ihm führt, enthüllt jedoch einige wichtige konfliktfördernde Faktoren:

Der Polizist wird durch die Dinge irritiert, die er als unverzeihliche Missachtung seiner Autorität ansieht („Seine Einstellung störte mich.“). Auf dieser Grundlage klassifiziert er den Mann als Störenfried („troublemaker“). Er deutete also das Verhalten des Mannes nicht als Reaktion seines eigenen Auftretens, sondern als eine situationsunabhängige Eigenschaft des Mannes.

Das Etikett „Störenfried“ führt zu der Ansicht, dass es große Probleme mit ihm geben könnte und dass er deshalb neutralisiert werden müsse. „Ich dachte, er würde erregter werden. Ich glaubte, dass seine Hände in seinen Taschen eine Bedrohung für mich wären.“

Der Polizist wird unnachgiebig und unflexibel („Sie nehmen Ihre Hände aus der Tasche, das ist überhaupt keine Frage!“), und als dies keine Wirkung zeigt, wird sein Bild von diesem Mann als Störenfried bekräftigt.

Er meint, dass er jetzt die Autorität der Polizei um jeden Preis durchsetzen muss („Ich meinte, dass es zwingend notwendig war, dass ich die Hände des Mannes aus seinen Taschen bekam.“). Er benutzte körperliche Gewalt. Zu diesem Zeitpunkt – und nur zu diesem Zeitpunkt – wurde der Bürger gewalttätig. Als seine gewalttätigen Reaktionen geschahen, sah der Polizist diese nicht gegen sich selbst gerichtet, sondern gegen die Polizei und gegen die Institutionen von Gesetz und Ordnung.

Der zweite Polizist sah aber die ganze Sache völlig anders: Der Mann war in eine für ihn erniedrigende Situation geraten, weil er am Boden liegend durchsucht und in Handschellen gelegt worden war. Seine Reaktion war deshalb lediglich ein Versuch, sein Selbstbild angesichts einer Erniedrigung zu bewahren (s. a. Kultur der Ehre, Kap. 19, 2.1).

Der Bürger sah den Vorfall so: Zunächst hatte ihn der Polizist bereits zum Zeitpunkt des ersten Kontaktes als „Black Muslim“ klassifiziert. Auch betonte er, dass er selbst nur verzweifelt auf seinen Rechten beharrt hätte. Toch stellte ihm dann die Frage, die wohl jeder nachdenkliche Leser des Vorfalls sich stellen würde: Was hätte der Polizist denn in dieser Situation konkret tun sollen?

„Ich weiß es nicht. Wenn sie gekommen wären und mit mir in sensibler Weise gesprochen hätten, ich bin ein Mann. Später hätte ich vielleicht kooperiert, selbst wenn ich gedacht hätte, dass die Dinge, die sie mich gefragt hatten, überflüssig wären“ (Toch, 1969, S. 130–131).

Dies ist eine ehrliche Antwort, denn er sagt nicht, dass er auf jeden Fall kooperiert hätte. Aber viel aufschlussreicher ist, dass er einen wichtigen Sachverhalt aufzeigt. Er durchläuft einen Entscheidungsprozess, er entscheidet, ob er kooperieren wird oder nicht. Hätte der Polizist zuerst einen freundlichen Zug getan, wäre der Gegenzug des Bürgers auch vermutlich freundlich gewesen. Es wäre die typische TIT FOR TAT-Strategie angebracht gewesen: Sei freundlich, mache nie als Erster einen unkooperativen Zug! Wenn der andere unkooperativ reagieren sollte, kann man sich dann immer noch selbst angemessen zur Wehr setzen. Der Polizist hätte also bei einer Weigerung des Bürgers immer noch mit Konsequenz seine Handlungen vollziehen können.

Da der Mann seine Reaktion auf das Verhalten offen gelassen hat, also nicht unbedingt von Anfang an auf Konfrontation aus gewesen wäre, hätte es also der Polizist in der Hand gehabt, wie die Interaktion verlaufen würde. Er bestimmte den Verlauf der Begegnung. Sein Fehler war, dass er einen möglichen zweiten Schritt (deutliche Forderung stellen usw.) als ersten Zug in seiner Kommunikation benutzte. Auf jeden Fall ist es tragisch, dass eine potenziell harmlose Situation in eine gewalttätige Auseinandersetzung mündete.

Psychologie der Eigensicherung

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