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6. Der Verteidigungskreis
ОглавлениеDer amerikanische Psychiater Kinzel untersuchte Häftlinge des Gefängnisses in Springfield, die zahlreiche Gewalttaten begangen hatten. Kinzel (1961) sagte jedem Häftling. „Ich werde mich Ihnen jetzt nähern. Bitte sagen Sie mir, dass ich stehen bleiben soll, wenn Sie glauben, dass ich Ihnen zu nahe bin.“ Kinzel ging auf den Häftling zu: „Hier?“ Der Häftling schüttelte den Kopf. Doch als Kinzel sich ihm noch weiter genähert hatte, veränderte sich dessen Verhalten plötzlich. Der Mann ballte die Hände zu Fäusten, zog sich zurück, wie jemand, der einen Angriff erwartet. Kinzel bemerkte dazu: „Es war fast, als ob er sich innerhalb eines unsichtbaren Kreises befände, in den niemand – auch kein noch so friedlicher Psychiater – ohne Konsequenzen eindringen konnte.“ Kinzel glaubte, dass das bloße Eindringen in den Verteidigungskreis bei bestimmten Männern Angst auslöst, die schnell zu einem irrationalen Angriff führen kann. Er testete seine Theorie an einer Gruppe von Häftlingen, die zu Gewalttätigkeiten neigten, und verglich ihre Reaktionen mit einer Gruppe von Gefangenen, die als friedfertig galten. Die aggressiven Häftlinge stoppten Kinzel durchschnittlich in einer Entfernung von rund 90 cm und zeigten wachsende emotionale Spannung und Feindseligkeit, je dichter er an sie herankam. Die nicht aggressiven Häftlinge hingegen ließen ihn sich auf die Hälfte der genannten Entfernung nähern.
Doch nicht nur die Entfernung unterschied die beiden Häftlingsgruppen, sondern auch die Form des Verteidigungskreises. Während dieser für die nichtaggressiven Häftlinge nahezu kreisförmig war, erschien er für die aggressiven Gefangenen nach hinten ausgebaucht: Näherte man sich ihnen von rückwärts, so fühlten sie sich stärker bedroht, als bei Annäherung von vorn.
Jeder Mensch bevorzugt also eine gewisse räumliche Distanz zwischen sich und anderen Personen. Die Größe dieser „persönlichen Distanz“, auch „persönlicher Raum“, „Verteidigungskreis“ u. Ä, genannt, ist abhängig von der Persönlichkeit, der Sympathie für die andere Person, deren Status und kulturellen Faktoren (Füllgrabe, 1978).
Ich unterscheide bewusst zwischen persönlicher Distanz und Verteidigungskreis. Denn der Verteidigungskreis kann bei einer Person auch schrumpfen, etwa bei Schizophrenen nach einer Psychotherapie oder bei Tätern, wenn sich ihre psychologische Stabilität erhöhte. Andererseits kann er auch wieder größer werden, wenn etwa eine Person feindselige Gefühle entwickelt. Denn die persönliche Distanz hat die Funktion, die Person vor unangenehmen Gefühlen zu schützen, und wird deshalb durch das Ausmaß bestimmt, in dem man eine zwischenmenschliche Situation als Bedrohung empfindet (Wormith, 1984). Zur Größe der Distanz zeigt die Abbildung (S. 57) Durchschnittswerte.
Der Verteidigungskreis spielt auch bei der Reaktion von Schizophrenen eine Rolle. Man muss nämlich zu seiner Eigensicherung vermeiden, dass der Schizophrene eine Reizüberflutung erlebt. Denn man hat häufig bei Schizophrenen festgestellt (und damit auch einige ihrer Symptome erklärt), dass sie im Gegensatz zu normalen Menschen aus der Fülle der auf sie einströmenden Reize, Sinneseindrücke (Geräusche, Bewegungen, Gerüche usw.) nicht die heraussortieren können, die für sie bedeutsam sind (Campbell, 1977).
Anstatt nutzlose Reize auszublenden, werden sie von einer Flut von Eindrücken überschwemmt und erleben dadurch die Welt in chaotischer Weise. Ihr für Außenstehende bizarr und verrückt erscheinendes Verhalten stellt deshalb häufig den Versuch dar, einen Teil der Reize nicht wahrzunehmen und dadurch ihr seelisches Gleichgewicht halbwegs aufrechtzuerhalten. Die Reizüberflutung kann aber auch leicht zu einer Irritation, dem Gefühl des Bedrängtwerdens und dadurch zu einer aggressiven Handlung führen:
„So konnte sich ein Patient bei manchen Mahlzeiten im Speisesaal des Krankenhauses ruhig und umgänglich zeigen, während er ein andermal tobsüchtig und übermäßig erregt wurde. Im ersten Falle war der Patient mit nur einem Tischgenossen zusammen; im zweiten Falle saßen noch weitere Leute am Tisch. Den Ärzten gab er eine vollkommen logische Erklärung für die Gründe seiner Frustration: ,Wenn Leute reden, erfasse ich nur Bruchstücke. Wenn nur eine Person spricht, ist es nicht so schlimm; aber wenn sich andere dazugesellen, kann ich gar nichts mehr verstehen, kann einfach nicht den Faden der Unterhaltung finden. Dadurch fühle ich mich schutzlos – als ob alles um mich herum mich einkreist und ich die Kontrolle verloren habe‘“ (Campbell, 1977, S. 139, 142).