Читать книгу Eingriffsrecht Brandenburg - Viktor Nerlich - Страница 14
1.3 Der Begriff der Gefahr
ОглавлениеGefahr ist neben der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung das zweite Tatbestandsmerkmal von § 1 Abs. 1 BbgPolG. Gefahr kommt in verschiedenen Formen vor. Unter einer konkreten Gefahr, die u. a. für Maßnahmen gemäß § 10 Abs. 1 BbgPolG vorliegen muss, ist eine Sachlage oder ein Verhalten zu verstehen, die bzw. das im Einzelfall, d. h. „hier und jetzt“, tatsächlich oder jedenfalls aus der Ex-ante-Sicht des gewissenhaft und besonnen handelnden Beamten bei verständiger Würdigung in naher, d. h. überschaubarer Zukunft bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die öffentliche Sicherheit oder Ordnung schädigen wird.32 Im Gegensatz dazu ist die abstrakte Gefahr eine mögliche, d. h. gedachte Sachlage oder Verhaltensweise ohne Bezug zu einem konkreten Einzelfall, die nach allgemeiner Lebenserfahrung oder aufgrund fachkundiger Erkenntnisse typischerweise die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts in sich birgt. Sie liegt vor, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung eines bestimmten Verhaltens oder Zustands zu dem Schluss führt, dass bei ihnen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden zu erwarten ist, ohne dass in diesem Moment eine Gefahr im Einzelfall vorliegen müsste. Sie genügt gemäß § 1 Abs. 1 BbgPolG für die Bejahung der Zuständigkeit der Polizei.33 Darüber hinaus verwendet das Polizeigesetz folgende weitere Gefahrenbegriffe:34
– eine gemeine Gefahr ist eine konkrete Gefahr, die dann vorliegt, wenn einer Vielzahl von Personen ein Schaden an Leib oder Leben oder bedeutenden Sachenwerten droht (z. B. bei Naturkatastrophen, Großbränden oder anderen Havarien);
– eine gegenwärtige Gefahr ist eine konkrete Gefahr, die dann vorliegt, wenn der Schaden an der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar, d. h. in allernächster Zeit bevorsteht oder bereits eingetreten ist und andauert (im letztgenannten Fall spricht man auch von einer Störung);
– eine erhebliche Gefahr ist eine konkrete Gefahr, die bedeutende Rechtsgüter wie Leib, Leben, Freiheit, erhebliche Vermögenswerte (ab etwa 500,- Euro) oder den Bestand des Staates zu schädigen droht; sie deckt sich weitgehend mit der dringenden Gefahr, die ebenfalls eine konkrete Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut ist;35
– Gefahr im Verzug liegt vor, wenn zur Schadensverhinderung das sofortige Eingreifen der unzuständigen Behörde erforderlich ist, weil ein Tätigwerden der an sich zuständigen Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint.36
– Neuerdings hat in die Polizeigesetzgebung die drohende Gefahr Eingang gefunden. Der Sache nach kennt auch das brandenburgische Polizeigesetz diese Gefahr, auch wenn es sie (anders als z.B. Art. 11 Abs. 3 BayPAG) begrifflich so nicht bezeichnet.37 Es handelt sich bei ihr um eine Sachlage, bei der entweder bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise eine Straftat nach § 28a Abs. 1 BbgPolG begehen wird, oder das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, sie werde innerhalb eines übersehbaren Zeitraums eine Straftat nach § 28a Abs. 1 BbgPolG begehen (vgl. § 28b Abs. 3 und § 28c Abs. 1 BbgPolG).38
Ist die Gefahr oder Störung beendet, bleibt für Maßnahmen aufgrund des Polizeirechts regelmäßig kein Raum mehr. Eine beendete Rechtsverletzung kann aber ggf. als Ordnungswidrigkeit oder Straftat verfolgbar sein, wofür die Polizei jedoch aufgrund anderer Vorschriften zuständig ist.
Beispiel
A geht in die B-Bank mit dem Vorsatz, sie zu überfallen. Bis zum Beginn des Tatversuchs i. S. des § 22 StGB liegt polizeirechtlich eine Gefahr in Form einer drohenden Rechtsverletzung (z. B. § 255 StGB) vor. Maßnahmen hiergegen ergeben sich aus dem Polizeigesetz. Mit dem Versuch schlägt die Gefahr in eine Störung um, denn die Rechtsverletzung ist eingetreten und dauert an. Maßnahmen hiergegen ergeben sich ebenfalls aus dem Polizeigesetz (Gefahrenabwehr in Form der Störungsbeseitigung). Nach dem Überfall (Beendigung der Straftat) ist die Störung in Form der Rechtsverletzung abgeschlossen. Sie muss nun als begangene Straftat aufgeklärt und verfolgt werden, was auf der Grundlage des Strafverfahrensrechts erfolgt. (Unabhängig davon können gleichzeitig noch andere Gefahren bzw. Störungen vorliegen wie bspw. verletzte oder gefesselte Personen. Maßnahmen hiergegen sind wiederum präventiv.)
Zur Gefahr gehört auch die Anscheinsgefahr. Diese liegt vor, wenn sich am Ende zwar herausstellt, dass eine Gefahr tatsächlich gar nicht vorlag, der drohende Schadenseintritt aber aufgrund einer verständigen und vertretbaren Prognose eines gewissenhaft und besonnen handelnden Polizeibeamten angenommen wurde. Unter diesen Voraussetzungen liegt eine „echte“ Gefahr i. S. des Polizeigesetzes vor, so dass Maßnahmen aufgrund einer Anscheinsgefahr rechtmäßig sind. Das ergibt sich direkt aus dem oben definierten Begriff der konkreten Gefahr.
Beispiel
M steht in den Abendstunden vor dem Geschäft des Juweliers J und blickt durch die Schaufensterscheibe angespannt in den Ladenraum. Seine Hände sind in der Tasche und scheinen einen größeren Gegenstand zu greifen. Plötzlich läuft er auf den Laden zu. Polizist P hat alles beobachtet und hält ihn an, weil er davon ausgeht, M wolle den Juwelier überfallen. Tatsächlich wollte M nur seine Freundin F in Empfang nehmen, die gerade aus dem Geschäft kam.
Im Gegensatz dazu liegt eine Schein- oder Putativgefahr vor, wenn eine Gefahrenlage allein in der subjektiven Vorstellung des Beamten bestand, also objektiv kein Anlass vorlag, von einem drohenden Schaden für polizeiliche Schutzgüter auszugehen. Die Scheingefahr ist daher keine Gefahr und kann deshalb nicht zur Grundlage für polizeiliche Maßnahmen gemacht werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Polizei schuldhaft gehandelt hat. Zu fragen ist lediglich, ob ein gleichsam objektivierter Beamter aufgrund der Umstände von einer Gefahr ausgehen konnte.39