Читать книгу Die Vergessenen - Teil 1: Gefangen - Werner Diefenthal - Страница 10
ОглавлениеCounty Cork, September 1652
Conor Shaugnessy schob seinen Handkarren über den staubigen Weg. Auf ihm befand sich ein Teil der kargen Ernte, die er gemeinsam mit seiner Verlobten Laoise O´Shea der Erde abgerungen hatte.
Seit dem Tod von Laoises Eltern lebte sie mit ihm auf seinem kleinen Hof. Sie kannten sich bereits von Kindesbeinen an, hatten gemeinsam gespielt und auch auf den Feldern gearbeitet. Zuerst nur Steine aufgesammelt, später dann gesät und bei der Ernte geholfen.
Conors Eltern waren im Winter 1647 an einer schlimmen Influenza gestorben, er hatte damals, gerade achtzehn Jahre alt, den Hof weitergeführt. Laoise, die zu dem Zeitpunkt fünfzehn gewesen war, unterstützte ihn, ohne dass er darum bitten musste, nach der Arbeit auf den Feldern ihrer Eltern, so weit es ihre Zeit zuließ. Wann genau sie sich ineinander verliebt hatten, wussten sie beide nicht mehr so genau. Aber es war etwa zwei Jahre her, als sie vor einem Gewitter in Conors´ Haus Schutz suchten und am nächsten Morgen nackt und engumschlungen in seinem Bett erwachten. Sie hatten sich zuerst furchtbar geschämt. Beide waren sie katholisch erzogen worden und der Beischlaf vor der Ehe gehörte zu den Sünden, die Gott einem, wenn man den Priestern Glauben schenken wollte, nicht verzieh. Doch Laoises Mutter hatte ihnen nur zugelächelt, als sie auf der Suche nach ihrer Tochter bei Conor geklopft und sie mit Schamesröte auf den Wangen bei ihm gefunden hatte.
»Ich wusste, dass es passieren würde. Nur nicht wann. Jetzt zieht euch was an, ich schaue mal, ob ich ein Frühstück hinbekomme.« Conor hatte mit einer Standpauke und einer längeren Predigt gerechnet, aber Cleena, Laoises Mutter, hatte nur seine Hand genommen. »Weißt du, Conor, von all den jungen Männern, die hier in der Gegend wohnen, bist du derjenige, den ich mir für meine Tochter wünsche. Aber ihr müsst aufpassen. Nicht alle denken so.« Sie hatte Laoise angesehen. »Ich habe mit deinem Vater auch vor der Ehe zusammengelegen. Ich werde es ihm schon schmackhaft machen. Passt einfach auf, dass du nicht auf einmal ein Kind bekommst.«
Und so wurde Conor Laoises Verlobter. Um den Schein zu wahren, lebte sie weiter bei ihren Eltern. Das änderte sich, als im letzten Winter Cleena und ihr Mann ebenfalls an der gefürchteten Grippe starben. Sie alleine konnte den Hof nicht bewirtschaften, also gab sie ihm dem Verpächter zurück und zog zu Conor. Sie hatten nicht viel, aber genug, um zu überleben, sogar ein kleiner Überschuss blieb, nachdem sie die Pacht bezahlt hatten. Und mit einem Teil der Ernte zog Conor jetzt auf den Markt in der Hoffnung, ihn gewinnbringend verkaufen zu können, um damit im Gegenzug wieder die Dinge einkaufen zu können, die sie selber benötigten.
Er seufzte. Es waren schwere Zeiten. Zu gerne würde er Laoise ein besseres Leben bieten. War es bisher schon schwierig genug gewesen, ein wenig Geld zur Seite zu legen, war es jetzt beinahe unmöglich. Nachdem die Engländer in Irland eingefallen waren und einen Krieg gegen die einheimische Bevölkerung führten, waren die Preise für Nahrungsmittel um das Vielfache gestiegen. Die Kämpfe führten dazu, dass immer wieder Felder verwüstet wurden oder man die eingelagerten Vorräte requirierte, sodass kaum etwas für die eigene Familie übrig blieb, geschweige denn genug Saatgut für die nächste Aussaat. Fleisch war inzwischen zum Luxusgut geworden. Conor fiel auf, dass sich die Zahl der Hunde und Katzen in der Gegend erheblich verringert hatte. Er vermutete, dass nicht wenige davon auf den Tellern der armen Familien landeten. Wenigstens das hatte er Laoise bisher ersparen können. In Gedanken ging er die Einkaufsliste durch.
»Vielleicht bleibt genug, um ihr Stoff für ein neues Kleid zu kaufen«, murmelte er.
Wenn ihm das gelänge, dann würde er Laoise bitten, ihn zu heiraten. Das hatte er sich fest vorgenommen. Er war so stolz auf sie! Sie arbeitete härter als drei Männer, hielt immer zu ihm und klagte nie. Darüber hinaus schien sie über eine eiserne Gesundheit zu verfügen, obwohl sie deutlich an Gewicht verloren hatte. Trotzdem war sie stark und muskulös, zweifellos von der täglichen Schufterei auf den Feldern. Er wurde aus seinem Tagtraum gerissen, als er plötzlich Lärm hörte, der sich schnell näherte. Er blieb stehen, sah sich um. Es war zu spät, um sich ein Versteck zu suchen. Vor ihm befand sich eine Biegung, seitlich wuchsen Hecken, sodass er nicht sehen konnte, was oder wer auf ihn zukam. Es wurde immer lauter und er konnte Rufe hören. Auf einmal schoss ein Junge auf ihn zu, rannte ihn fast über den Haufen.
»Bitte, helft mir«, keuchte der Flüchtende.
»Was ist denn passiert?«
Gehetzt sah sich Conor um. Da stürmten schon sechs Soldaten um die Kurve und blieben etwas mehr als eine Armlänge entfernt vor ihm stehen. Sofort erfasste der junge Bauer, dass es englische Soldaten waren. Die hatten ihm gerade noch gefehlt.
»Geh zur Seite«, knurrte der Mann, der Conor am nächsten stand.
»Was wollt ihr von dem Jungen?«
»Das geht dich nichts an. Kümmere dich um deine Angelegenheiten.«
Conor richtete sich zu seiner vollen Größe auf, hielt den Jungen mit einer Hand hinter seinem Rücken. Sein schulterlanges rotes Haar wehte im scharfen Wind, der über die karge Ebene blies.
»Das ist ein Kind. Was kann ein Kind schon getan haben?«
»Kind? Dieser Bursche«, der Mann zeigte mit der rechten Hand auf den Jungen, »ist ein Rebell! Wir haben ihn erwischt, als er Vorräte stehlen wollte, die für die Armee des Königs bestimmt sind. Also händige ihn mir aus, dann geschieht dir nichts.«
Er kniff die Augen zusammen. »Oder bist du am Ende auch ein Rebell?«
Conor schluckte. Das war eine schlimme Anschuldigung. Wenn er sich weigerte, den Jungen herauszugeben, würde man ihn der Rebellion anklagen und nur Gott alleine wusste, ob und wann er Laoise jemals wiedersehen würde. Der Schweiß brach ihm aus und er griff in die Tasche, um ein Tuch herauszuholen und sich die Stirn abzuwischen.
»ER GREIFT ZUR WAFFE!«, war das Letzte, was er hörte, als der vorderste Mann auf ihn zusprang und ihm sein Schwert direkt ins Herz stieß.
Conor war bereits tot, als er auf dem Boden aufschlug. Der Junge stand fassungslos vor der Leiche, brach in Tränen aus. Einer der Soldaten stieß den Toten mit dem Fuß an.
»Der hat es hinter sich.« Er packte den Jungen, der starr vor Schreck nicht in der Lage war, wegzulaufen. »Im Gegensatz zu dir, Bürschchen.«
Er übergab ihn zwei seiner Kameraden, die ihn mit eisernem Griff wegführten, dann durchsuchte er den Karren. Missmutig grunzte er, als er statt der erhofften Waffen nur Gemüse fand.
»Den Karren nehmen wir mit, jeder Proviant ist uns willkommen«, knurrte er.
»Und was machen wir mit dem?«
Einer der Soldaten zeigte auf die Leiche.
»Hängt ihn einfach neben den dreckigen Rebellen, als Abschreckung.«
Wenig später baumelten an einem Baum, der etwas weiter den Weg hinauf stand, zwei Leichen.