Читать книгу Die Vergessenen - Teil 1: Gefangen - Werner Diefenthal - Страница 21

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Virginia, November 1652

Richard Campbell saß auf dem Kutschbock und wartete vor dem Herrenhaus der Plantage auf Giles Stewart, den Besitzer des Anwesens. Der glatzköpfige Mann mit dem stechenden Blick war der oberste Aufseher der Plantage und damit Herr über alle Arbeiter und Sklaven. Er machte kaum einen Unterschied zwischen den freiwilligen Arbeitern und den nach Virginia verschleppten afrikanischen Sklaven. Für ihn zählte nur Leistung! Wer nicht gut arbeitete oder seiner Meinung nach faul war, der wurde von ihm bestraft. Egal, ob Mann oder Frau. Es gab fast niemanden, der nicht mindestens einmal Bekanntschaft mit Gwendolyn gemacht hatte. So nannte er liebevoll seine Peitsche, die er all jene spüren ließ, die ihm unangenehm auffielen.

Heute jedoch musste er sie in seiner Hütte lassen. Gemeinsam mit dem Gutsherrn würde er zum Hafen fahren, um die Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen.

»Frischfleisch«, grinste er diabolisch. »Zeit, dass Gwendolyn neue Haut zu schmecken bekommt.«

Giles kam die Treppe herunter, die zum Gebäude führte und kletterte neben Richard auf den Kutschbock, ließ sich auf die Sitzbank sinken.

»Also los, Richard, lass uns mal sehen, was der König und Cromwell uns Schönes geschickt haben.«

»Ja, Sir. Hoffentlich sind ein paar kräftige Kerle dabei. Es gibt ne Menge Wald, der gerodet werden muss.«

Giles grinste.

»Du meinst die Süderweiterung? Ja, da brauchen wir Männer mit Muskelschmalz, keine Denker. Und vielleicht sind ja auch hübsche Frauen mit an Bord.«

Richard schnalzte mit der Zunge.

»Ja, auch da wäre etwas Frischfleisch gut. Gute, prächtige Stuten, mit denen man eine Zucht aufbauen könnte.«

»Wenn diese verdammten Iren nicht so dickköpfig wären.« Giles kratzte sich am Kinn. »Würde uns ne Menge Zeit sparen, wenn sie mehr arbeiten und weniger auf ihre angeblichen Rechte pochen würden.«

»Gwendolyn ist noch mit jedem fertig geworden«, brummte Richard zurück. »Diese tumben Bauern werden schnell ruhig, wenn man ihnen zu verstehen gibt, dass die weißen Rücken ihrer Frauen mit ihr Bekanntschaft machen werden.«

»Ja, Gwendolyn. Ich fürchte, sie wird wieder viel Arbeit haben.«

Die Männer lachten über ihre derben Scherze. Während sie über die schmalen Wege entlang der Felder und Wälder, die zu Giles Stewarts Anwesen gehörten, fuhren, entging keine Kleinigkeit den wachsamen Augen des Aufsehers. Die Liste derer, die am Abend von Gwendolyn geküsst werden sollten, wurde mit jeder Minute länger. Nach gut drei Stunden erreichten sie den Hafen und hielten vor der großen Lagerhalle an, in denen man die Neuankömmlinge untergebracht hatte. Es standen bereits mehrere Kutschen davor, alles Gutsbesitzer, die sich nach Arbeitskräften umsahen. Mit jedem Schiff kamen Neue an, die ihr Glück in Virginia zu finden hofften. Richard stieg vom Bock, packte einen kleinen, dunkelhäutigen Jungen und sah ihm ins Gesicht.

»Du!«

Der Junge senkte den Kopf, wie er es gelernt hatte, wenn ein weißer Mann ihn ansprach.

»Ja, Master.«

»Du passt auf die Kutsche und die Pferde auf. Sollte bei meiner Rückkehr irgendetwas nicht so sein, wie es jetzt ist, lernst du mich kennen, verstanden?«

»Ja, Master«, flüsterte er mit Angst in der Stimme. »Es wird alles so sein, wie Ihr es erwartet.«

Der Glatzköpfige brummte nur und folgte Giles ins Innere des Lagerhauses. In einem großen Raum, hinter einer Absperrung, standen die Menschen, die vor kurzem noch auf der anderen Seite des Meeres gelebt hatten. Hoffnungsvoll sahen sie die Gutsbesitzer an. Keiner wusste, zu wem er kommen würde. Sie hatten geglaubt, man würde sie freundlich empfangen und sich höflich vorstellen. Aber die Gutsherren standen nur vor einer Art Podest und betrachteten die Menschen, als wären sie Vieh. Vorher war ein grimmiger Mann, allem Anschein nach so etwas wie ein Arzt, durch die Reihen gegangen und hatte sie untersucht. Ein schwarzes Mädchen war bei ihm gewesen und hatte jedem, mit dem er fertig war, ein Stück Stoff an die Kleidung, direkt über dem Herzen, geheftet. Was die Farben zu bedeuten hatten, war niemandem klar, der Mann gab auf entsprechende Fragen keine Antwort. Es war nur auffällig, dass die jungen Frauen fast alle ein blaues Stück Stoff bekamen, die älteren hingegen meist schwarz oder braun. Auf dem Podest stand ein Pult, darauf lagen ein Hammer und, so hatte es den Anschein, eine Liste.

Als ein älterer, kleiner Mann auf das Podest kam, gefolgt von zwei brutal aussehenden Kerlen, wandten sich die Gutsbesitzer ihm zu.

»RUHE!«, brüllte einer der grobschlächtigen Burschen, obwohl es bereits mucksmäuschenstill war.

Der kleine Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

»Ihr kennt das Prozedere«, wandte er sich an die Gutsherren. »Und ihr«, er deutete auf die Neuankömmlinge, »werdet es jetzt kennenlernen. Doktor Clarke hat euch alle untersucht und klassifiziert. Nach diesem Stück Stoff, das ihr tragt, wird sich der Wert berechnen, den ihr für die Plantagenbesitzer habt.«

Die Menschen betasteten die Stoffstücke und verstanden nicht, was das bedeuten sollte. Warum sollte einer mehr Wert haben als sein Nachbar? Warum wurde ihnen überhaupt ein Wert zugeteilt? Sie waren schließlich Siedler!

Der Mann auf dem Podest deutete die verwirrten Blicke richtig und lächelte grimmig.

»Ihr habt einen Kontrakt unterschrieben, der es euch ermöglicht hat, nach Virginia zu gelangen. Damit sind die Krone und die Company in eine nicht unerhebliche Vorleistung getreten. Um die Kosten, die der Krone und damit dem englischen Volk dadurch entstanden sind, wieder auszugleichen, werden diese netten Gentlemen«, er deutete auf die Gutsbesitzer, »die Schulden, die ihr habt, übernehmen und damit auch gleichzeitig in den Kontrakt mit euch eintreten.«

»Aber davon war nie die Rede!«, kam ein empörter Zwischenruf.

Der kleine Mann grinste verschlagen. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er vor Lachen gluckste.

»Es steht genau so in dem Kontrakt. Habt Ihr ihn nicht gelesen?«

»Wer von uns kann schon lesen?«

Der Mann auf dem Podest zuckte mit den Schultern.

»Das soll nicht mein Problem sein. Und jetzt, Ruhe, ich dulde keine Zwischenrufe mehr.«

Wie auf ein geheimes Kommando öffneten sich einige Türen und ein Dutzend kräftige Männer erschienen. Sie stellten sich vor die Absperrung, von der jetzt ein Teil entfernt wurde. Die Neuankömmlinge wurden unruhig, sie begriffen langsam, dass die ganze Angelegenheit bei weitem nicht so vonstattenging, wie man es ihnen vorgegaukelt hatte.

Bidelia ergriff keuchend den Arm ihres Mannes.

»Farrell, was geht hier vor? Werden wir wie Sklaven verkauft?«

Die Blonde hatte in Irland Geschichten gehört, in denen man davon erzählte, dass man Menschen fing und sie in der Neuen Welt verkaufte. Sie hatte diese Erzählungen immer als Unsinn abgetan, aber jetzt war sie nicht mehr sicher. Farrell versuchte, sie zu beruhigen.

»Nein. Sieh mal, das ist doch in Ordnung. Mir ist es egal, für wen ich arbeite, am Ende zählt nur, dass wir das Land bekommen.«

Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder zu dem Podest gezogen. Es wurden Namen aufgerufen, die Personen wurde hinaufgeführt. Die Vorzüge der dort Stehenden wurden gepriesen, dann folgte eine Zahl.

Bidelia drehte sich der Magen um. Es ging zu wie bei einer Schlachtviehversteigerung. Zuerst kamen die Alten, dann Familien mit Kindern. Die Summen, die gezahlt wurden, waren nicht sonderlich hoch. Als man schließlich zu den jungen Paaren oder einzelnen kräftigen Männern kam, stiegen die Preise. Die Gutsherren überboten sich gegenseitig.

Als man Bidelia und Farrell nach oben führte, hatte sie das Gefühl, dass sie ihr Wasser bald nicht mehr halten konnte. Sie klammerte sich voller Angst am Arm ihres Mannes fest und presste ihre Oberschenkel zusammen.

»Hier haben wir jetzt ein kräftiges junges Paar aus dem County Limerick. Sie sind Bauern, an harte Arbeit gewöhnt. Wer das County kennt, der weiß, dass man dort nur mit Zähigkeit und Fleiß dem Boden seine Früchte abtrotzen kann. Sie sind gesund, die Frau im besten gebärfähigen Alter.« Er zeigte auf das blaue Stoffstück. »Und sie werden nur gemeinsam verkauft, bevor jemand meint, er kann nur die Frau haben. Das Mindestgebot steht bei sechs Pence.«

Die Gutsherren betrachteten das Paar. Bidelia kam sich vor, als würde man sie mit den Augen ausziehen.

»Ich biete«, kam eine Stimme von unten.

»Sieben!« »Acht!«

Die Gebote schnellten in die Höhe. Farrell kam sich auf sonderbare Weise stolz vor, dass man ihren Wert so hoch einschätzte, und besah sich die Bieter in der Hoffnung, jemanden ausfindig zu machen, der ihm sympathisch erschien. Allerdings blieb sein Blick an einem kräftigen Glatzkopf und einem diabolisch aussehenden Mann mit schwarzem Haar hängen, der kräftig mitbot.

Bei achtzehn Pence erhielt er den Zuschlag. Bidelia und Farrell wurden vom Podest herunter in eine Ecke geführt, wo sie mit einigen anderen warten mussten. Es dauerte nicht mehr lange und die Versteigerung war beendet. Der Glatzkopf kam zu ihnen.

»Also, Herrschaften, ich mache es kurz, denn es wartet viel Arbeit auf euch: Mein Name ist Richard Campbell, Aufseher auf der Plantage von Giles Stewart. Ihr seid jetzt sein rechtmäßiges Eigentum.«

»WAS? EIGENTUM?«

»Wir sind doch keine Sklaven!«

Unruhe kam auf.

›Es ist jedes Mal das Gleiche‹, dachte Richard.

»Das war so nicht abgemacht«, warf Farrell ein.

»Mir ist egal, was ihr glaubt, was abgemacht ist«, grinste Richard zurück. »Der Kontrakt sagt aus, dass ihr ab dem Zeitpunkt, an dem einer der Plantagenbesitzer eure Verbindlichkeiten übernimmt, sein Eigentum seid, bis ihr alles zurückgezahlt habt. Jeden einzelnen Penny! Ihr könnt gerne zu einem Anwalt gehen. Ich glaube, der Nächste lebt in London.« Sein Grinsen wurde immer breiter. »Und jetzt nach draußen, nehmt eure Lumpen und dann auf die Kutsche.«

Die grobschlächtigen Kerle, die vorher auf dem Podest standen, trieben die jetzt einem Gutsbesitzer Gehörenden an. Wenige Minuten später saßen sie hinten auf der Ladefläche der Kutsche. Es war nasskalt, ungemütlich. Bidelia zog sich ihren fadenscheinigen Umhang enger um den Körper.

Farrell zählte. Es waren insgesamt sieben Personen. Zwei Paare, dazu ein einzelner Mann und zwei Frauen. Ruckelnd fuhr die Kutsche an.

Bidelia hing ihren Gedanken nach. Sie fragte sich, ob es wirklich richtig gewesen war, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Doch jetzt war es zu spät. Achtzehn Pence! So viel hatte der Mann, dessen Name Giles war, für sie und Farrell bezahlt. Sie hatte gerade mal neun Pence im Beutel zwischen ihren Brüsten. Das reichte nur für einen, wenn sie Glück hatten und Giles sich auf ein Geschäft einließ. Aber Bidelia ahnte, dass er es nicht würde. Nicht für neun, nicht für achtzehn und wohl auch nicht für fünfzig Pence.

Sie sah sich die Landschaft an. Hielt die wenigstens, was man ihnen versprochen hatte? Doch je näher sie dem Gut kamen, umso schlimmer wurden ihre Ahnungen bestärkt. Überall Wald, Sumpf und Steine. Und dazwischen Menschen, die sich abmühten, das Land urbar zu machen. Sie sah einige Weiße, aber mehr Schwarze. Bidelia hatte bis auf das Mädchen, das ihr das blaue Stück Stoff angeheftet hatte, noch niemals einen Schwarzen gesehen. Ihre Neugier ließ sie die Kälte und die Umstände vergessen. Sie wusste selber nicht so genau, was sie erwartet hatte, wie sie aussahen.

»Es sind gar keine Ungeheuer«, flüsterte sie zu sich selber.

Sie kannte nur Erzählungen und das, was man aufschnappte. Da war die Rede von haarigen Ungeheuern gewesen, von Monstern mit Klauen und langen Zähnen. Als sie an einer kleinen Gruppe vorbeikamen, sah Bidelia genau hin.

Sie sahen genau so aus wie sie selber, nur mit dunkler Hautfarbe und dunklen, krausen Haaren. Und die Kinder, die sie sah, waren eben auch nur Kinder. Doch dann sah sie immer wieder Menschen, die Gewehre in den Händen hielten und die Arbeiter keinen Moment aus den Augen ließen und auch einige zu schlagen schienen.

Der kleine Sonnenstrahl der Zuversicht, der sie gewärmt hatte, als sie die Kinder gesehen hatte, verschwand wieder aus ihrem Herzen. Als die Kutsche hielt, war Bidelia endgültig klargeworden, dass sie in der Falle saßen. Man ließ sie absteigen und nebeneinander Aufstellung nehmen. Ein kleiner, höchstens sieben Jahre alter schwarzhäutiger Junge kam angelaufen und drückte Richard etwas in die Hand, dann lief er weg, als wenn der Teufel hinter ihm her wäre.

Giles nickte Richard zu.

»Dann weise unsere neuen Gäste mal ein.«

Damit verschwand er im Haus.

»Nun, dann wollen wir mal.«

Richard ging vor den sieben Personen auf und ab.

»Ich mache es kurz: Wer nicht arbeitet, wird nicht essen. Wer faul ist, wird nicht essen. Wer krank ist, wird nicht essen. Und wer meint, er muss hier den Aufstand proben …« Er hob den Gegenstand, den er in der Hand hielt, in die Luft. Entsetzt erkannte Bidelia, dass es eine Peitsche war. »Das ist Gwendolyn«, grinste Richard. »Sie werdet ihr kennenlernen, wenn ihr aufsässig, faul oder zu dumm zum Arbeiten seid.«

Entsetzen breitete sich in den Gesichtern der Menschen aus. Ein weiterer Mann gesellte sich zu Richard. Er war kleiner als dieser, mit langen lockigen, struppigen Haaren, die mehr Grau als alles andere waren, und einem ungepflegten Bart. Ihm folgten drei grobschlächtige Männer, die aussahen, als ob sie geradewegs der Hölle entstammten. Langhaarig, mit Vollbärten und stechenden Augen, an der rechten Seite trug jeder offen einen Revolver und in der linken Hand hielten sie Gewehre. Sie beobachteten die Neuankömmlinge und ließen sie nicht aus den Augen.

»Das ist Mister Adams.« Der Glatzkopf deutete auf den Mann, der vor der Aufsehergruppe stand. »Er wird euch in euer Quartier bringen. Um euch zu zeigen, dass wir es gut mir euch meinen, werdet ihr dort eine Suppe und Brot bekommen. Anschließend werden wir euch zur Arbeit einteilen. Thaddeus, bring die Bande weg. Ich will sie in einer Stunde arbeiten sehen.«

»Aye«, brummelte der Mann. »Los, Abmarsch, da entlang.«

Gehorsam setzten sie sich in Bewegung, flankiert von den schweigsamen Aufsehern. Es folgte ein Fußmarsch von knapp fünf Minuten, dann wurden sie in eine zugige Scheune geführt. An den Wänden waren Pritschen aufgebaut, in der Mitte stand ein großer Tisch mit einigen Bänken. In der Tat gab es Suppe und Brot. Allerdings war diese Suppe genau so dünn wie die, die Bidelia in Irland immer hatte kochen müssen, wenn es fast nichts mehr in der Speisekammer gab.

»Farrell, ich will wieder nach Hause«, winselte sie ihrem Mann zu, bevor sie zusammensackte.

Die Vergessenen - Teil 1: Gefangen

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