Читать книгу Die Vergessenen - Teil 1: Gefangen - Werner Diefenthal - Страница 23
ОглавлениеVirginia, Dezember 1652
»So werden wir unsere Schulden wohl nie los.«
Bidelia seufzte. Seit sie auf der Plantage angekommen waren, hatten sie im Grunde genommen nichts anderes getan als gearbeitet. Hauptsächlich auf den Feldern. Die Männer mussten Baumstümpfe ausgraben und die schweren Steine tragen, die Frauen Unkraut ausreißen und verbrennen. Bidelia hatte mehr Glück gehabt, sie war als Bedienstete für die Frau des Gutsbesitzers eingeteilt worden. Wobei man das nicht unbedingt als Glück bezeichnen konnte, denn Mary Rose Stewart war eine strenge Frau. Wenn die Arbeit nicht zu ihrer Zufriedenheit erledigt wurde, gab es Strafen. Meistens Lohnabzug für die Weißen. Die Schwarzen hingegen wurden selbst für kleinste Vergehen geschlagen. Das übernahm der Aufseher, der Bidelia und die anderen abgeholt hatte.
Jeden Abend weinte sie sich in den Schlaf. Bisher mussten alle in der Scheune leben, denn Hütten für sie gab es nicht. Giles Stewart hatte ihnen die Erlaubnis erteilt, welche zu bauen, aber dies nur nach Feierabend. Das Material dazu mussten sie von ihm kaufen. Da niemand genug Geld hatte, wurde alles fein säuberlich in Listen eingetragen und zu ihrer Schuld hinzuaddiert. Die Preise waren astronomisch hoch. Selbst dem ewig optimistischen Farrell dämmerte es langsam, dass er nach fünf Jahren niemals schuldenfrei sein würde.
Jeden Sonntagmorgen war Kirchgang. Gemeinsam ging es etwa drei Meilen weit in den nächsten Ort, in der das Gotteshaus von Pfarrer George Winterstone stand. Der ältere Geistliche mit schütterem weißen Haar hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Wort Gottes auch in Virginia zu verbreiten. Dementsprechend hielt er seine Predigten mit flammenden Worten, welche keinen Zweifel daran ließen, dass er die Eingeborenen und auch die Schwarzen für Heiden hielt, die es zu bekehren galt.
Und wenn man sie nicht bekehren konnte, dann musste man sie zur Not zwingen, den christlichen Glauben anzunehmen.
Auch Giles Stewart und seine Frau waren von ihren Eltern streng katholisch erzogen worden und zeigten dies auch nach außen. Beziehungen zwischen Männern und Frauen, welche nicht miteinander verheiratet waren, wurden von ihnen nicht geduldet. Vor und nach der Arbeit wurde gemeinsam gebetet, um den Schutz des Herrn und eine gute Ernte zu erbitten.
Der Sonntag war im Allgemeinen arbeitsfrei. Nur am Nachmittag durften die weißen Arbeiter ihre bescheidenen Gärten bestellen, an den Hütten durfte nicht gebaut werden. Das bedeutete, dass die Arbeit an den neuen Heimstätten noch langsamer voranging.
Als sie an diesem Sonntag wieder auf dem Gut ankamen, spürte Bidelia, dass etwas anders war als sonst. Im Haus arbeiteten sonntags nur die schwarzen Frauen, doch heute wurden zwei der Weißen zur Arbeit geholt. Sie fragte sich, warum das so war, und erhielt gleich darauf die Antwort. Alle mussten sich vor dem Haupthaus auf dem freien Platz aufstellen.
Getuschel erfüllte die Luft. Was war geschehen?
Richard Campbell trat auf die Veranda. Alleine seine Präsenz sorgte dafür, dass alle verstummten. Bidelia zuckte zusammen, als sie die Peitsche in seiner Hand sah. Er blickte sich um.
»Etwas Ungeheuerliches ist geschehen! Wir haben euch alle hierhergeholt, damit ihr eines Tages euer eigenes Land bestellt. Als freie Menschen in einem freien Land! Wir schenken euch allen eine gesicherte Zukunft. Wir haben euch vertraut. Und wie wird es uns gedankt?« Er sah die Menge an. »Mit Diebstahl! Ja, gestern Nacht wurde gestohlen. Euer Master Giles, der euch ein Heim gibt, Arbeit und Brot, wurde bestohlen. Und damit«, er zeigte mit dem Knauf der Peitsche auf die wartenden Menschen, »ihr alle! Wir waren gut zu euch. Doch ihr scheint es nicht zu begreifen. Und darum werden wir euch zeigen, was mit denen geschieht, die sich am Eigentum des Masters vergreifen.«
Vier bullige Männer kamen um das Haus herum, jeweils zwei zerrten eine Gestalt in ihrer Mitte mit sich. Farrell schluckte. Er kannte zumindest den Mann. Owen, rief er sich ins Gedächtnis. Ein kleinerer Ire, wildes, rotes Haar und ungepflegter Bart, ziemlich schmächtig. Er hatte sich mit ihm unterhalten und er erinnerte sich, dass Owen nur den Kontrakt unterschrieben hatte, um dem Gefängnis zu entgehen. Er war ein kleiner Taschendieb und nicht der Hellste.
»Was zum Teufel hast du angestellt, Junge?«, murmelte Farrell erschüttert.
Die anderen beiden Männer zerrten eine sich heftig wehrende schwarze Frau hinter sich her. Bidelia hatte sie mehrmals gesehen, aber nie mit ihr geredet. Es war ihnen unter Strafe verboten, sich mit den Schwarzen zu unterhalten, außer die Arbeit erforderte es.
Man schleifte sie in die Mitte des Platzes. Dort waren mehrere Pfähle aufgestellt, an denen eiserne Ösen befestigt waren. Von ihnen hingen Seile herab, die man den beiden um die Handgelenke schlang und dann nach oben zog, bis sie mit den Zehen gerade noch den Boden berührten.
»Ihr fragt euch bestimmt, was die beiden gestohlen haben.« Der glatzköpfige Aufseher ging auf der Veranda hin und her. »Die Antwort ist: Zeit! Statt zu arbeiten, wurden sie erwischt, wie sie es in der Scheune miteinander getrieben haben! Und damit haben sie die Zeit verschwendet, die ihr alle«, er zeigte wieder mit dem Peitschenknauf in die Runde, »aufholen müsst. Zeit, die euch jetzt für den Bau eurer Hütten fehlt! Zeit, die ihr hättet dafür verwenden können, euch ein Zuhause zu schaffen. Stattdessen müsst ihr alle jetzt die Arbeit der beiden nachholen! Die nächsten vier Samstagnachmittage werdet ihr also, statt für euch zu arbeiten, für die beiden Tagediebe die Zeit erarbeiten, die sie euch gestohlen haben!«
Richard grinste. Mit dieser manipulativen Aussage, mit der er Giles Stewart und sich zu Wohltätern und den Iren und die Sklavin als Übeltäter erklärte, konnte er sich sicher sein, dass die Arbeiter ihre Wut an Owen und der Schwarzen auslassen würden.
»Doch der Master ist gnädig. Ich konnte ihn dazu überreden, sie nicht zu töten, was sein gutes Recht gewesen wäre. Diebstahl, gleich welcher Art, wird unbarmherzig bestraft. Unzucht wird bestraft! Und Unzucht von weißen Männern mit schwarzen Frauen ist eine Todsünde! Nur Gott weiß, welche Missgeburten aus einer solchen Vereinigung entstehen.« Er nickte den Männern zu, die noch neben den beiden an den Pfählen stehenden Menschen standen. Sie rissen Owen das Hemd vom Oberkörper und der Schwarzen das Kleid herunter.
»NEIN!«, ertönte auf einmal ein Schrei. Alle zuckten zusammen. »BITTE HERR! GNADE!«
Eine weitere Frau, die der am Pfahl erschreckend ähnlich sah, stürmte nach vorne, wurde jedoch von Thaddeus Adams abgefangen, der ihr eine Ohrfeige gab, sodass sie von den Beinen gefegt wurde und im Staub landete.
»Ach, wen haben wir denn hier?« Campbells Augen glitzerten. »Sally, wenn ich mich nicht irre. Nun, du hättest vielleicht besser auf deine Schwester achten sollen.«
Jetzt erst wurde Bidelia klar, wer da am Pfahl stand. Es war Lily, die jüngere Schwester von Sally und Kindermädchen bei den Stewarts. Sie hatte sie täglich im Haus gesehen, aber niemals auf sie geachtet.
»Bitte, Herr. Sie ist noch ein Kind«, wimmerte die ältere Sklavin.
»Kind?« Der Glatzkopf schnaubte. »Sie hat sich nicht wie eines verhalten, als der Bastard sie von hinten bestiegen hat. Nun, sie werden beide ihre Strafe erhalten. Owen erhält fünf Schläge mit der Peitsche.« Seine Augen strahlten jetzt den reinen Sadismus aus. »Und Lily, nun, als Erstes wird sie aus dem Haus verwiesen. Der Master kann nicht dulden, dass eine solche Person weiter mit der Betreuung seiner Kinder betraut wird. Wer weiß, welche unzüchtigen Gedanken sie weitergibt. Zusätzlich wird sie mit zwanzig Schlägen bestraft.«
Er stellte sich in Position, holte aus und ließ die Peitsche auf Owens Rücken knallen. Sofort platzte die Haut auf, Blut floss. Der Mann schrie ohrenbetäubend.
Bidelia war einer Ohnmacht nahe. Aus dem Traum, den sie mit ihrem Mann gehabt hatte, war mittlerweile ein Albtraum geworden. Sie hoffte, dass sie jeden Moment erwachte, aber mit jedem neuen Peitschenknall wurde ihr bewusster, dass es kein Erwachen gab. Im Gegensatz zu Owen ertrug Lily die Schläge, die Richard ihr verpasste, stumm. Ihr Rücken sah aus, als hätte man ihr die Haut abgezogen. Was Bidelia allerdings mehr verwunderte, war die Tatsache, dass einige der schwarzen Sklaven zu singen schienen. Oder waren es Gebete? Sie bewegten die Lippen, aber es war kein Ton zu hören. Endlich war der brutale Aufseher fertig mit dem Auspeitschen. Doch um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, ließ er sich zwei Eimer mit Salzwasser bringen, die er den Geschundenen über die Rücken goss. Das Salz biss in den Wunden, Owen schrie erbärmlich, Lily verdrehte die Augen und fiel in Ohnmacht.
Schließlich band man sie los und ließ sie einfach auf den Boden fallen. Um Owen kümmerte sich niemand, Richard hatte Recht behalten, man verachtete den Mann, überließ ihn sich selber. Sally stürzte zu ihrer Schwester, versuchte, ihre Blöße zu bedecken, und hielt sie weinend im Arm. Eine Frau mittleren Alters löste sich aus der Menge der Schwarzen und ging gemessenen Schrittes zu den beiden Mädchen hinüber. Bidelia erschauerte. Irgendetwas an ihr verwirrte sie. War es der Respekt der anderen Schwarzen, den man spüren konnte? Oder war es einfach nur die Art, wie sie sich bewegte? Sie war sich nicht sicher.
»Du!«
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen und sah in das Gesicht von Richard Campbell.
»Ich?«
»Ja. Du hast bisher in der Küche gearbeitet, oder?«
Sie senkte den Kopf.
»Ja, Master.«
»Ab sofort wirst du Kindermädchen sein. Du wirst von der Herrin alles erfahren, was du wissen musst und was du zu tun hast.« Campbell grinste. »Freu dich, es ist eine Beförderung. Wenn du gut arbeitest und die Herrin zufrieden ist, wirst du einen halben Penny mehr die Woche erhalten.«
»Danke Master.«
Campbell packte sie am Arm.
»Du kannst mir später danken. Jetzt ab mit dir, die Herrin wartet.«