Читать книгу Die Vergessenen - Teil 1: Gefangen - Werner Diefenthal - Страница 12
ОглавлениеCounty Cork, September 1652
Die Sonne war bereits vor einer Stunde untergegangen und Conor war immer noch nicht zurückgekommen. Schon als die Dämmerung eingesetzt hatte, waren ungute Gefühle und Sorgen wie Schatten in Laoises Bewusstsein gekrochen.
Mittlerweile war das Abendessen kalt geworden, das Feuer im Kamin heruntergebrannt und die junge Frau fast krank vor Angst. Es musste irgendetwas passiert sein! Conor war nicht der Typ Mann, der bei einem Ausflug zum Markt in einem Wirtshaus verloren ging und erst am nächsten Morgen nach Hause gewankt kam.
Bis vor einer Weile hatte Laoise sich mit dem Flicken ihrer schäbigen Arbeitskleidung ablenken können, aber seit das letzte Licht des Tages am Horizont verschwunden war, konnte sie nicht mehr stillsitzen. Unruhig wanderte sie von einem Fenster zum anderen und spähte hinaus in der Hoffnung, ihren Verlobten über den Hof kommen zu sehen, aber draußen blieb alles dunkel und leer. Schließlich verließ sie das Haus, wanderte den schmalen Weg bis zu der niedrigen Mauer entlang, die ihren Hof vom Umland abtrennte und blickte die Hügel in Richtung Cork hinauf. Aber auch von dort näherte sich keine Fackel.
Der Sturm war stärker geworden, wehte die ersten losen Herbstblätter vorüber und ließ die nahen Bäume knarren. Fröstelnd zog Laoise ihren Umhang enger um die Schultern. Ihr Herz schlug laut in den Ohren, Brust und Kehle waren eng. War ein Rad des Karrens zerbrochen und hielt Conor auf? Oder war gar etwas Schlimmeres passiert? War er gestürzt, lag hilflos irgendwo und konnte nicht mehr aufstehen?
Laoise gab sich einen Ruck. Was auch passiert war, sie musste los und ihm helfen! In fliegender Eile hastete die brünette Frau in die heruntergekommene Bauernkate zurück, die sie mit Conor bewohnte und holte eine Fackel. Der Himmel war wolkenverhangen und sie wollte nicht riskieren, vielleicht ebenfalls zu stürzen.
Sich tapfer gegen den Wind stemmend machte Laoise sich auf den Weg Richtung Cork, obwohl ihr eine Stimme im Hinterkopf zuflüsterte, dass sie vollkommen verrückt war und besser bis zum nächsten Morgen warten sollte. Das aber hätte sie nicht gekonnt! Jetzt, mit dem Gefühl, etwas zu unternehmen, war die lähmende Angst erträglich.
Dann jedoch brach direkt vor ihr ein morscher Ast von einer alten Eiche, die am Weg stand, ab und stürzte ihr vor die Füße. Mit einem erschrockenen Aufschrei sprang Laoise zurück. Das war knapp! Ihr Herz raste und sie begriff, dass sie nicht nur Conors Leben riskierte, wenn sie kopflos allein in die Nacht hinaus ging, sondern auch ihr Eigenes. Sie würde ihm nicht helfen können, wenn ihr bei dem Rettungsversuch etwas passierte und niemand wusste, dass sie hier draußen war.
Ein schwacher Lichtschein, der ein wenig vor ihr links vom Weg flackerte, brachte die rettende Lösung. Laoise hatte in ihrer Angst gar nicht bemerkt, dass sie schon bis zum Hof der Murphys vorgedrungen war.
Die älteste Tochter der Familie, Orla, war in Laoises Alter und die Familien hatten sich immer gut verstanden. Man sah sich seltener, seit es so schwer geworden war, zu überleben, aber wenn Not am Mann war, half man sich noch immer gegenseitig.
Mit schnellen Schritten hastete Laoise auf den Hof zu, klopfte beherzt an die Tür. Eine Weile rührte sich gar nichts und sie fürchtete schon, dass trotz des Lichtes im Innern niemand zu Hause sein könnte. Dann aber wurde die Tür einen winzigen Spalt geöffnet und das Auge von Sean Murphy erschien. Seine buschige Braue zog sich zusammen.
»Laoise. Bist du das?«
Die Angesprochene holte die Fackel näher an ihr Gesicht, damit sie im Lichtschein besser zu sehen war.
»Ja, Sean, ich bin es. Bitte macht auf, ich brauche eure Hilfe!«
Das Auge wurde noch mehr zusammengekniffen.
»Bist du allein?«
Laoises Verwirrung wuchs.
»Ja, natürlich. Deshalb bin ich hier!«
Endlich wurde die Tür ganz entriegelt und Sean Murphy nahm ihr die Fackel ab, warf sie achtlos auf den Boden, wo sie erlosch und zerrte die junge Frau förmlich ins Innere des Hauses, spähte noch einmal misstrauisch in die Dunkelheit, bevor er den Eingang wieder verrammelte.
Die Murphys waren nicht allein. Ein Mann, den Laoise flüchtig vom sonntäglichen Kirchgang als Daniel Sheffield kannte, saß am Tisch. Er war ganz grau im Gesicht.
Sean Murphy hielt sich nicht mit Floskeln auf.
»Sag schon, Laoise, was treibt dich so spät noch zu uns?«
Verwirrt sah die Brünette von einem zum anderen.
»Conor ist heute Morgen zum Markt gegangen und immer noch nicht zurückgekommen.«
Ein erschrockenes Keuchen ging durch den Raum und Sean trat zornig gegen den Schrank, ließ Laoise heftig zusammenzucken.
»Verdammt. Hörst du das, Daniel? Dein Junge ist nicht der einzige, der vermisst wird!«
Laoise spürte, wie eine eiskalte Hand nach ihrem Herz griff.
»Es ist noch jemand verschwunden?«
Daniel Sheffield fuhr sich über die Augen.
»Mein ältester Sohn. Er wollte … Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Sean, denkst du, die beiden könnten zusammen …?«
»Ich habe keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden!«
Mit großen Augen sah Laoise zu, wie der kräftige Bauer auf die Knie ging und ein Brett aus dem Boden hebelte. Darunter befand sich ein ganzes Arsenal von Schusswaffen.