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Die Grundrechte jedes Deutschen oder Schwierigkeiten beim Schreiben

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Beim Schreibenlernen hatte ich natürlich meine Schwierigkeiten, vorher schon in Zwiefalten und nachher noch im Gefängnis, in der »Burg«. Die Lehrlinge mußten alle in die Berufsschule. Das waren zwei Räume neben der Verwaltung beim Tor. Zweimal in der Woche kamen wir hier zusammen: Die Schreiner, die Sattler, die Schlosser, die Schuhmacher. Und von draußen herein kamen die Lehrer und übten mit uns den Stoff. Eine Anstrengung war es auch für die Lehrer: die mußten auch. Aber wenn einer nur muß und nicht will, und der andere will nur, kann aber nicht – weil der andere nicht so richtig mitmacht –, dann ist es auch nichts!

Es war aber auch manchmal zum Verzweifeln. Es gibt Wörter und Buchstaben, die liegen mir wie Steine im Maul; sie kommen erst gar nicht in meinen Magen, wo sie ihr Gewicht nur vergrößern würden. Sie bleiben mir im Maul, aber ich kann sie nicht ausspucken oder beißen. Lange Zeit konnte ich nicht einmal richtig Württemberg mit »m« schreiben; ich habe immer Württenberg mit »n« geschrieben. Das konnte mir der Lehrer hundertmal ankreuzen – ich habs einfach nicht gefressen! Das Schlimme war, der Lehrer stammte nicht einmal von Württemberg – aber er wußte, wie man es richtig schreibt.

Und dann war da noch das Wort Alb wie Schwäbische Alb. Daß es auch Alpen gibt und daß die nicht mit einem weichen, sondern mit einem harten »p« geschrieben werden, das habe ich lange nicht gewußt. Dabei seien die noch viel höher wie die Schwäbische Alb, und Schnee hätte es da das ganze Jahr; vielleicht komme ich in meinem Leben noch da hin, dann werde ich es ja sehen.

Und dann mußten wir Aufsätze schreiben – also Aufsätze! Aufsätze über alles Mögliche und Unmögliche. Ich habe geschwitzt und nachts in der Zelle phantasiert, so daß mich die Mitgefangenen, solange ich noch in einer Gemeinschaftszelle untergebracht war, aufwecken mußten.

Einen Aufsatz habe ich doch von allen aufgehoben. Es ging da um unsere Rechte: als Deutsche und als Gefangene. Der Lehrer hat mit uns gesprochen, hat aus einem Gesetz vorgelesen, und dann sollten wir schreiben über das, was wir gehört hatten und was wir uns dabei dachten. Dann kam bei mir das heraus:

Die Grundrechte jedes Deutschen!

Jeder Deutsche hat das Recht, sich frei zu bewegen, sofern er nicht in Staatsgewalt ist. Er hat ferner das Recht, sich niederzulassen, wo er will, kann glauben, was er will (evangelisch oder katholisch).

Er hat Recht auf seine Freiheit. Die Person des einzelnen ist unverletzlich.

Vor dem Gesetz sind alle gleich, ob arm oder reich, ob angesehen oder verachtet. Er hat Einspruch zu erheben, wenn durch polizeiliche Gewalt, ohne richterlichen Befehl, seine Wohnung verletzt oder durchsucht wird.

Er hat Recht auf Arbeit, Unterkunft und staatlichen Schutz. Die Ehe steht unter dem besonderen Schutz des Staates. Jeder Deutsche kann Gesellschaften gründen, kann ein Geschäft eröffnen. Kein Deutscher darf einer fremden Macht ausgeliefert werden. Jeder Deutsche darf seine Meinung in Wort oder Schrift frei äußern. Er hat auch Recht auf Einhaltung des Briefgeheimnisses. Er darf an Beruf und Schaffen nicht gehindert werden.

Die Berufswahl steht ihm frei. Er hat auch Recht auf ärztliche Behandlung und, im Falle der Arbeitslosigkeit, Recht auf Arbeitslosenunterstützung. Keiner darf zu etwas gezwungen werden, was gegen seine Person geht.

Karl Simpel

Der Lehrer hat in Rot darunter geschrieben: befriedigend! Mehr konnte ich damals halt nicht bieten. Aber es war doch wenigstens etwas: es kann bei mir also immer nur noch besser und kaum schlechter kommen.

So habe ich dann auch meinen Lebenslauf geschrieben; zuerst in Zwiefalten und dann später noch in der Burg. Die habe ich alle weggeschmissen. Vielleicht war es ein Fehler. So setze ich mich jetzt hin und suche, suche und besinne mich. Und wenn man es genau nimmt, so ist das Ganze hier eigentlich ein langer Lebenslauf und Aufsatz in einem.

»Willst du heut nicht aufstehen, Karl?« Meine Mutter stand vor meinem Bett.

»Jao, jao«, fuhr ich erschreckt hoch: »Doch! Wie spät ist es denn?«

»Zehn. Wir müssen in den Wengert und grasen.«

»Ich zieh mich gleich an. Ich brauch heut kein Kaffee – als Strafe dafür, daß ich verschlafen hab. Denn ich wollt früher aufstehen. Ich muß doch schreiben.«

»Ja, ja, und wir müssen aufs Feld. Ich mach uns ein Vesper, das nehmen wir dann mit.« Mit diesen Worten verließ meine Mutter wieder das Zimmer. Ich sprang aus dem Bett und schlüpfte in die Hose, die über dem Stuhl neben der Bettlade hing. Mein Zimmer ist unter dem Dach des kleinen Hauses an der Straße. Vom einzigen Fenster aus überblicke ich die Gartenlandschaft, die sich hier im Rücken der Häuser ausbreitet. Da kann ich auch oft stundenlang stehen und träumen, kann nur lauschen. Oft ist es eine Flötenmelodie, die mich lockt; sie kommt aus einem der Häuser da hinten. Ich spiele ja kein Instrument. Vielleicht würde ich gern Klavier spielen. Aber das ist auch so ein Wunsch – und vielleicht gar nicht wahr. Ich möchte mir aller meiner Erinnerungen sicher sein: das ist wahr! Denn allein das macht mich glücklich: das genaue Erinnern, auch an Unangenehmes – nicht das Verschweigen.

Ich komme ins Wohnzimmer. Meine Mutter hat schon den Handwagen aus dem Schopf vor die Haustüre geschoben: zwei Hauen und ein Sack liegen drin. Jetzt lädt sie noch einen Henkelkorb ein, in dem das Vesper und zu trinken ist. Das heißt jetzt können wir gehen. Und damit ist dieser Tag auch herumgebracht: mit laufen, schaffen und wieder heimlaufen. Ich mache die Feldarbeit jetzt nicht mehr so gern. Aber ich begreife immer noch – oder immer mehr: Es muß sein, schließlich leben wir davon, und es lebt das Land von schönen, fruchtbaren Wiesen und Ackern.

Aber der nächste Tag gehört wieder ganz mir, mir und der kurzen Vergangenheit. Dem Xaver habe ich ja damals gesagt, mein Vater sei im Krieg gefallen, freilich habe ich mich dann verbessert.

Mein Vater lebt wirklich noch: im gleichen Dorf, in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin; im Haus seiner Eltern, in das meine Mutter hineingeheiratet hat. Er lebt jetzt da mit einer anderen Frau und anderen Kindern, die ich nicht kenne und von denen keiner genau weiß, ob sie von ihm sind oder ob sie die andere Frau von einem anderen mitgebracht hat. Die Ehe meiner Eltern wurde 1948 geschieden – aber das wissen Sie ja alles, Herr Kommissar. Aber ob Sie es wissen, Herr Hofer; ob Sie das alles mitbekommen haben, neben Ihren eigenen Sorgen, das ist die Frage. Freilich hätte es Sie interessieren können und interessieren müssen auf Grund der Beziehung – der guten Beziehung – zwischen unseren Familien.

Nun, das ist jetzt alles Geschichte: Wir leben alle nach wie vor hier, im gleichen uralten Dorf und alten Tal – aber wir kennen uns nicht mehr! Wir reden nicht mehr miteinander — wir gehen einander aus dem Weg. Vielleicht ist es ganz gut so, denn oft packt mich der Zorn, dann möchte ich meinen Vater erschlagen für alles, was er uns gegenüber versäumt hat und was er und seinesgleichen Ihnen, Herr Hofer, und anderen angetan haben. Aber dann überwältigt mich auch wieder ein unerklärlicher Wunsch, alles zu vergessen und zu vergeben.

Der Sonderling

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