Читать книгу Der Sonderling - Wilhelm König - Страница 18
Die erste Uhr
ОглавлениеEwig konnte ich die Zeit aber nicht nur schätzen oder andere nach der Uhr fragen. Ich brauchte einmal eine eigene Uhr, und die kaufte ich mir dann dort von meinem ersten Geld, das ich auf dem Hof bekam.
Im Dorf gab es auch ein kleines Uhrengeschäft mit einem Schaufenster neben dem Eingang, kaum größer als ein Zimmerfenster. Der Meister war allein, so wie der unsere hier, mit dem Unterschied, daß der in Niedersachsen keinen Dauerlauf zum Sportplatz und zurück machte. Auch habe ich ihn nie auf dem Fahrrad gesehen, auf das sich unser Uhrmachermeister zur Abwechslung schwingt und dann genauso auffällt wie zu Fuß.
Diesen kleinen Laden habe ich eines Tages betreten und mir meine erste Uhr gekauft, so als hätte ich mir das schon lange vorgenommen. Vielleicht kam in mir der Wunsch auf, nachdem ich das Geschäft entdeckt hatte. Wahrscheinlicher aber ist: durch unsere Spiele auf den Feldern bin ich erst auf den Gedanken gekommen, mir doch einen richtigen Zeitmesser anzuschaffen, und dieser Gedanke wurde immer stärker. Oder habe ich damals schon gewußt, daß ich den Hof bald wieder verlassen würde – in Freundschaft natürlich‒, zusammen mit Ludwig, meinem zweiten Zimmergenossen, und noch einem vom Dorf, auch einem Knecht auf einem anderen Hof, der sich uns kurz vor der Abreise anschloß?
Jedenfalls hatte Ludwig die Idee, bald wieder auf Wanderschaft zu gehen. Er stammte zwar aus Bayern, hatte aber angeblich Bekannte in Frankfurt. Dahin möchte er, und ich solle doch mit ihm kommen. In so einer Großstadt gäbe es doch ganz andere Möglichkeiten als auf dem Land.
»Ha, wenn du meinst«, sagte ich.
»Ich meine es, und es ist wahr mit den Möglichkeiten«, fuhr Ludwig fort. Solche Gespräche über Zukunft und Vergangenheit führten wir in der Regel nachts im Bett. Meistens sprach Ludwig, und Reinhart und ich hörten gespannt zu, wobei sich Reinhart so gut wie nie mit einer Zustimmung oder Ablehnung beteiligte. Das überließ er ganz mir.
Das war fast wie später nachts in der Burg: Da war auch ein Hesse, der erzählte bis zum Einschlafen Filme nach, die er einmal gesehen hatte – und wir sahen sie nun noch einmal im Dunkeln vor unserem geistigen Auge ablaufen. Es waren sehr schöne Augenblicke.
In Frankfurt oder Umgebung könnten wir über den Sommer bleiben, und im Herbst ginge es dann ab an den Rhein zur Traubenlese.
»Zur Traubenlese?« fragte ich.
»Ja. Kennst du das nicht?«
»Freilich kenne ich das: Ich bin ja im Wengert – das heißt im Weinberg aufgewachsen und habe mit der Rätsch die Staren vertrieben.«
»Aber am Rhein ist das alles viel größer als in Württemberg.«
»Das will ich dir glauben.«
»Und da verdienst du auch mehr als hier: bei der Traubenlese am Rhein kriegst du in vier Wochen mehr als hier in einem Vierteljahr. Und du hast noch ein besseres Essen. Die am Rhein verstehen zu leben ...«
Mir lief schon das Wasser im Maul zusammen.
»Und du, Reinhart?« fragten wir.
»Ohne mich!«
»Gut, dann bleibst halt da«, entschied Ludwig. »Vielleicht kriegst mal die Rösser vom Fritz, wenn der nicht mehr da ist und der Chef keinen anderen findt!«
»Mir auch egal«, murmelte Reinhart. Und damit hatte er bei diesen Nachtgesprächen seinen längsten Wortbeitrag abgeliefert. Am Tag war das anders. Da schwätzte er mir manchmal etwas zuviel.
Und nun?
Was, und nun?
Wo ist die Uhr?
Die Uhr? Die ist weg – einfach weg! Weg wie’s Kächeles Katz!
So sagt man in diesen Fällen.
Aber die kann doch nicht einfach wegkommen ...
Doch, sie kann!
Wie?
Zum Beispiel, wenn man sie verliert oder verkauft. Aber es gibt noch weitere Möglichkeiten.
Zum Beispiel?
Dummheit oder Gutgläubigkeit. Wir haben ja damals Frankfurt am Main wirklich erreicht, Ludwig und ich. Und dann habe ich ihm meine Uhr ausgeliehen – in meiner Dummheit und Gutgläubigkeit. Er wollte irgendwohin, wo er eine Uhr brauchte. Und dann ist er gegangen, aber nicht wiedergekommen. Dann war ich wieder allein.
Im Moment habe ich keine Uhr – auch im Heim hatte ich keine. Hier brauche ich im Moment auch keine. Ich blicke auf die Kirchenuhr, und wenn ich sie nicht sehe, nachts meinetwegen: dann lausche ich ihren Schlägen, die Fenster und Türen durchdringen und weit im Dorf zu hören sind.