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Wörter oder Schreiben und lesen können

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Ob das Schreiben-und-lesen-Können nun ein Fluch oder ein Segen ist, das wird sich weisen, hätte mein Ahne, der Vater meiner Mutter in dem kleinen Dorf über dem Tal gesagt – und das sage ich jetzt auch! Auch Xaver, der in der Hütte bei Zwiefalten wohnte und vielleicht noch wohnt, von dem ich viel gelernt habe, war dieser Meinung. Xaver hat mir vor allem viel erzählt: von der Welt draußen, vom Krieg und von Abenteuern. Xaver sagte: »Es hat Kulturen gegeben in der Menschheitsgeschichte, die haben keine Schrift gekannt – die Indianer zum Beispiel, und es hat hohe Kulturen gegeben, die haben eine sehr hochentwickelte und komplizierte Schrift gehabt – die Azteken und andere: Alle sind sie untergegangen oder können jederzeit untergehen.«

»Auch Deutschland?« fragte ich dann. »Deutschland?« fragte er zurück. »Das ist doch schon untergegangen; es schwimmt nur noch über Wasser. Und an diesem Untergang sind wir selber schuld. Wir hätten uns niemals mit den Italienern und so Feiglingen einlassen dürfen, dann wäre der Krieg anders ausgegangen!« Xaver war Soldat, und er hat damals den Duce, den Führer der Italiener, zusammen mit anderen aus seiner Gefangenschaft befreit. Das waren schon starke Stücke, die konnte nicht jeder vorweisen in Zwiefalten. »Aber egal, ob Deutschland untergegangen ist oder nicht«, fuhr er fort: »Solange du noch etwas von ihm auf dem Wasser schwimmen siehst, ist es besser, du lernst lesen und schreiben – damit du vom Untergang auch etwas mitbekommst.«

»So ist das?«

»Was?«

»Ha, das: Schreiben und lesen lernt man hauptsächlich, daß man vom Untergang der Welt –«

»– vom Untergang Deutschlands!«

»Daß man vom Untergang Deutschlands etwas mitbekommt?«

»So ist es!«

»Das werde ich mir merken.«

»Hoffentlich!«

Xaver hatte im ganzen zwei Bücher, mit denen er mich traktierte, sobald er gemerkt hatte, daß ich noch nicht lesen und schreiben konnte und damit in der Anstalt, wo sie es mir auch mit Gewalt beibringen wollten, nicht genügend Fortschritte machte. Das erste Buch hieß: »Die Geschäftspraxis in Handel und Gewerbe« und hatte ein Kapitel über Schönschreiben und Rechtschreibung und eine große Zinstabelle am Schluß. Das zweite Buch hieß: »Württembergisches Realienbuch. Große Ausgabe. Bearbeitet auf Grund des Lehrplans für die württembergischen Volksschulen, Stuttgart 1912.« Ich habe ihn nie gefragt, woher er die Bücher hatte. Er hatte sie halt, und mehr brauchte er scheints auch nicht.

Daß er ein Buch von Württemberg hatte, das wunderte mich schon: Denn er war ja nicht aus Württemberg, sondern von Bayern. Das sagte schon der Name Xaver. Xaver – so hat mein Ähne immer von einem gesagt, den er nicht leiden konnte oder der nicht gerade viel vorstellte in der Gesellschaft. Und dann war er sowieso katholisch – bei dem Namen kein Wunder!

Zwiefalten – ich bin ja da nicht in einem »grauen Omnibus« hingekommen, also in einem jener Fahrzeuge, in denen während des Krieges die Dackel und Geisteskranken dort eintrafen. Sondern im gleichen schwarzen Auto – oder auch nur in einem ähnlichen, ich kann das heute nicht mehr so genau sagen –, in dem ich mit dem Kommissar und seinen Polizisten zum Ortstermin in das Dorf fuhr.

Daran erinnere ich mich seltsamerweise heute noch genau. Wir fuhren durch ein großes Tor. Wir stiegen aus und kamen in ein großes Haus. Dort wurde ich von Männern und Frauen in weißen Kitteln in Empfang genommen. Sie waren alle sehr freundlich. Einer der weißbekittelten Männer zeigte mir mein Bett in dem Zimmer, in dem noch andere Better standen, und dann sagte er, ich solle mich ausziehen. Ich müßte oder dürfte zum Baden. Au ja, sagte ich: gegen das Baden hatte ich nichts. Ich hatte Wasser, warmes Wasser, gern. Vorher würden mir noch die Haare geschnitten, sagte der Mann; ich brauchte keine Angst zu haben. Nein, nein; ich hätte keine Angst, sagte ich. Und auch der Frisör war sehr freundlich; er fragte mich, woher ich komme und wie ich heiße. Und ich erzählte ihm alles, und der Frisör lachte und sagte immer nur ja, ja – ja, ja! Und ich sagte zuletzt auch nur ja, ja – ja, ja! In diesen Worten steckte viel und nichts.

Und man sagte mir noch, ich brauche keine Angst zu haben; meine Mutter wüßte, wo ich sei, und sie würde mich auch bald besuchen. Das beruhigte mich wirklich. Und so schlief ich auch sehr tief in dieser Nacht.

Am anderen Morgen wurde ich früh geweckt und in das Zimmer eines ebenfalls weißbekittelten Mannes gebracht. Aber der mußte etwas Höheres sein; denn die anderen verhielten sich ihm gegenüber sehr ehrerbietig. Auch dieser Mann war freundlich zu mir; fragte mich, wie es mir gehe und wie ich mir die Zukunft vorstelle.

»Ha?« fragte ich.

»Na, ja!« Der Mann wurde verlegen: »Ich meine, hast du schon mal einen Wunsch gehabt?«

»Ein Fliegerabzeichen«, rief ich.

»Nein, das meine ich nicht. Hast du dir schon mal einen Beruf gewünscht?«

»Schreiner!«

»Schreiner? Na bitte; das ist doch schon etwas. Und möchtest du alles lernen – rechnen, lesen, schreiben?«

»Alles!« schrie ich.

»Das ist fein. Dann werden wir dich in die Schreinerei geben und anschließend und zwischendurch kommst du immer wieder in die Schule.«

»Zu Herrn Hofer?« fragte ich.

»Wer ist Herr Hofer?«

»Ein Lehrer.«

»Nein, wir haben hier keinen Lehrer Hofer. Aber wir haben andere Lehrer, die dir das Nötige beibringen werden.«

»Fein; kann ich gleich hin?« erkundigte ich mich.

»Sofort«, rief der Mann. »Herr Schneider?«

Ein weiterer Weißbekittelter stürzte herein: »Bringen Sie den Buben zu Meister Kranz. Er soll ihn sich ansehen und sagen, ob er ihn in der Schreinerei gebrauchen kann.«

»Jawoll«, sagte der andere.

»Also, mein lieber Simpel ... ich hoffe, es gefallt dir hier?«

»Ja, das hoffe ich auch, Herr Professor.«

»Direktor bitte! Aber wenn du willst – auch Professor!«

»Jawoll, Herr Führer!«

»Führer?« Der Direktor drohte mir mit dem Finger – »ich habe deine Geschichte gelesen: komme mir nicht auf diese Tour!«

Der Meister Kranz war ebenfalls nicht ohne. Er war bis jetzt der einzige, der keinen weißen Kittel trug – vielmehr eine blaue Schürze, so wie es sich für einen Schreiner gehörte. Er fragte nicht viel, schaute mich nur an, wies auf eine Hobelbank und sagte: »Da!«

»Ha?« fragte ich wieder.

»Nimm den Hobel in die Hand.«

»Was für einen Hobel?«

»Der da über dir in dem Kasten hängt.«

»Aber da hängen mehrere ...«

»Dann nimm einen – Simpel!«

»Gut! Und jetzt?« fragte ich, sah mich auch um, wer mich da noch beobachtete.

»Nimm das Brett, spanne es ein und hoble.«

»Sie verlangen aber Sachen, Herr Kranz.«

»Willst du Schreiner werden oder nicht?«

»Ich will!«

»Na also! Dann spann ein und hoble.«

Einspannen – und hobeln! Au – Ich rutschte mit dem Hobel ab. Das Brett stürzte zu Boden. Herr Kranz und der andere lachten.

»Komm«, hatte der Meister schließlich Mitleid, »ich will dir das Brett einspannen. Aber hobeln und den Hobel halten mußt du allein.«

»So«, sagte der Meister wieder: »Und jetzt komm da rüber.«

»Was ist da?« fragte ich.

»Maul halten, ich erkläre es dir sofort! Das ist der Leimofen. Da sind die Leimhäfen und darunter hängen die Zylinder, die mußt du jeden Morgen mit Hobelspänen vollstopfen.«

»Mache ich glatt!« sagte ich.

»Und jetzt da rüber«, zog mich der Meister fort. Der andere folgte, als sei er an mich angebunden. Wir standen vor einer Maschine: »Was steht da?« fragte der Meister.

»Wo?« grinste ich.

Herr Kranz schaute den anderen an, antwortete dann, nachdem dieser mit den Schultern zuckte, sich selber: »Ach so, kann nicht lesen. Das gehört natürlich dazu, Herr Menk. Das ist Ihre Aufgabe. Schreiben natürlich auch.«

Herr Menk, so hieß er also, der andere, nickte eifrig mit dem Kopf. Der Meister fuhr fort: »Du mußt über alles einen Bericht führen: das ist Pflicht – für die Prüfung!«

»Pflicht? Prüfung?« fragte ich und schaute von einem zum andern.

»Das wär’s ja wohl für das erste«, erklärte Herr Kranz und drehte sich einfach weg. Ich war mit Herrn Menk allein. Er führte mich wieder in den Hof und sagte: »Geh ein wenig spazieren; um zwölf wird gegessen.«

»Jawoll«, sagte ich. War er mir nun böse? Was hatte ich gemacht? Ich wollte doch Schreiner werden. Und ich wollte alles lernen – lesen und schreiben.

Ich wurde dann auch untersucht, vorn und hinten abgeklopft, kam unter eine Maschine, die meine inneren Bewegungen registrierte, und ich traf nur auf zufriedene Gesichter. Ich war gesund, hieß es; das dauerte nur einige Jahre, bis ich völlig gesund war, war damit gemeint.

Dieser Meister Kranz kostete mich dann schon Kraft. Er war ein Dickkopf. Und ich auch. Wir waren nicht die einzigen in der Schreinerei. Außer uns waren noch andere von der Anstalt und Gesellen von draußen da.

Aber alle bleiben blaß. Bis auf den Meister. Er dirigierte mich an den Leimofen, wies mir die Hobelbank an und hieß mich zinken. Und ich zinkte zunächst ohne Sinn, dann aber Schubladen. Und er schaute sie sich an – zufällig vor dem Leimofen – und schüttelte den Kopf.

»Was ist das?« fragte er.

»Was?« fragte ich zurück.

»Das soll halten?« sagte er.

»Das hält«, sagte ich.

»Das hält nicht«, schrie der Meister, warf die Schublade, die ich einige Tage lang mühsam zusammengezinkt hatte, zu Boden und rannte weg.

Im gleichen Augenblick – Gesellen und andere Lehrlinge schauten zu – stürzte ich mich auf die Schublade, ergriff sie und warf sie dem Meister hintendrein. Dazu noch eine Schraubzwinge, die gerade daneben lag. Nichts traf. Zum Glück, sage ich heute. Trotzdem wurde ich von Wärtern ergriffen und in eine Zelle gebracht. »Es ist nichts«, wehrte ich mich.

»Es ist nichts«, sagte auch der Direktor. Ich wollte es nie mehr tun, versprach ich. Und das war mir ernst. So schnell wie möglich lernen, sagte ich mir; so schnell wie möglich gesund werden – und so schnell wie möglich raus, egal wie! Das hier war nicht meine Welt; vielleicht hatte ich mal dazugehört – nun aber nicht mehr. Nun wollte ich auch nicht mehr.

Und im Laufe der Zeit sind immer mehr Leute von draußen gekommen, und ich habe gelernt, zu unterscheiden zwischen Leuten von draußen und drinnen, und ich wollte raus, ich wollte aber auch von drinnen so viel wie möglich mit herausnehmen. Da kamen Leute zu Besuch, zur Besichtigung, starrten uns an, nahmen die Parade ab, und ich wurde immer ärgerlich. Warum bin ich hier? Warum starren die mich so an? Was habe ich getan? Warum wirft man mir das immer noch vor? Und ich wurde befragt und weiterhin abgetastet, und ich gab Auskunft und schwieg. Und ich lernte, das war es vor allem: ich suchte nach Leuten, die mir helfen konnten. Und weil ich mich so gut benahm, nicht auffiel, nicht störte, durfte ich raus – hatte freien Auslauf wie ein Schaf, wie eine Kuh, wie ein Pferd. Und ich wollte das nicht ausnützen – oder doch ausnützen: ich wollte zeigen, daß ich es verdiente.

Dann bekam ich auch Besuch von meiner Mutter. Sie hatte mir zu essen mitgebracht, gerauchte Schinkenwurst und Brot; Äpfel und Schokolade –

»Kriegst du auch genug zu essen, Bua«, fragte sie.

»Jo, Mamma«, anwortete ich.

»Läßt man dich auch raus?«

»Jo! Jeda Daag.«

»Ond wo gohscht noo?«

»Ich gang spaziera. Oder bsuach da Xaver.«

»Wen?«

»Xaver! Des ischt a Einsiedler em Wald. Der verzehlt mir sehr viel.«

»Glaub et älles, waanr sait, Bua. Du woischtjo, wia se schwätzet, dia verzehlat so viel: aber wenn de nooguggescht, no ischt ällas verstonka ond verloga.«

»Der hot a Hütte em Wald.«

»Wissat des dia Herra en dr Anstalt?«

»Dia wissat des.«

»Ond duldats?«

»Ond duldats – sagat sogar, des ischt guat.«

»No willi ao niggs saaga. Do, i hao dr äbbes mitbroocht. Des mogscht doch: grauchta Schenkawurscht ...«

»Ha jo! Nadierlich moge des. Danke, Mamma!«

Der Sonderling

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