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Träume oder Der Blick zurück

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Seit ich wieder zu Hause bin, seit Frühjahr 1955, träume ich sehr viel, und ich kann oft gar nicht genau unterscheiden zwischen dem, was ich wirklich erlebt habe und dem, was ich nur träume. Jedenfalls ist das meiste vergangen, was ich hier erzähle. Ich blicke zurück – blicke zurück auf Wahres und Geträumtes. Alles kommt nun von sehr weit hinten auf mich zu wie eine große Welle, und ich weiß, daß sie mich verschlingen könnte. Und die Welle rollt auf mich zu, reitet über das Meer, über die See, schwillt immer mehr an: kurz vor meinen Füßen bricht sie zusammen. Das hilft mir aber nicht viel. Die Welle kommt immer wieder, und ich stehe dieselbe Angst immer wieder von neuem aus. Es ist die Angst vor mir selber: die Angst vor meinem Leben, jetzt und zuvor; in Zwiefalten und nach Zwiefalten. Wie in dieser Angst bestehen, gar weiterleben und womöglich ohne Angst? Vielleicht durch Schreiben? Im Augenblick sehe ich keine andere Möglichkeit. Zu sehr bin ich auf mich allein gestellt.

Wenn ich das äußere Bild meines Schreibens beschreiben sollte, so würde ich sagen: Rückwärts gehend und gebückt komme ich aus meiner Geschichte heraus. Dabei schreibe ich auf den Boden, male Zeichen, die die Gespenster – die Geister, die Hexen – nicht überschreiten können.

Tragen oder ertragen muß ich schon wieder viel. Nicht daß man mich verspottet; daß mir die Kinder nachlaufen oder nachschreien – schwätzen werden sie über mich, vor allem die Erwachsenen. Aber das meine ich nicht mit Ertragen. Ich meine das Ganze – das Dorf an sich; die Zeit. Alles geht weiter, als ob nichts geschehen wäre. Keiner hat etwas gesehen und gehört – und etwas Unrechtes getan oder geduldet hat gleich gar keiner von denen. Und am wenigsten hatten unsere Gefangenen, die jetzt nach Hause kommen, mit den Nazis etwas zu tun. Das will ich ja noch glauben. Sie wurden in der Hauptsache eingezogen, und wenn sie da, im Ausland oder fern im Reich etwas Böses angestellt hätten, dann hätten sie die Russen oder Amerikaner noch länger behalten. Also, was will man?

Und die, die den Krieg in der Heimat verbracht haben? Auch nichts! Da hat keiner eine Uniform getragen, eine Fahne geschwenkt oder Heil Hitler gebrüllt – alle nur »Grüß Gott«, »Grüß Gott«: »Jo, wennen sieh«, soviel hat einer allenfalls noch riskiert.

Überhaupt: wo sind die vielen Uniformen und Fahnen alle hingekommen? Zerschnitten, umgearbeitet zu bunten Sommerkleidern und Säcken – so muß ich mir das vorstellen. Und ich muß mir weiter vorstellen, daß ich mit meiner »Tat« 1948 zwischen allen Stühlen sitze und zwischen allen Lagern stehe: zwischen denen, die vergessen wollen und denen, die nicht vergessen können sowie zwischen denen, die vergessen haben und denen, die sich wieder erinnern wollen. Ich will mich ja auch wieder erinnern – doch zugleich möchte ich vergessen, freilich möchte ich erst dann vergessen, wenn ich verstanden habe. Bei allen andern kommt das zum Leben oder zum Glück dazu: bei mir ist es aber das Leben – und das Glück!

Der Sonderling

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