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Xaver oder Ich, du, er, sie, es

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Bis ich dahinter kam, daß er auch einer von uns war und in die Anstalt gehörte, da verging einige Zeit. Mehrmals hatte ich ihn schon vor seiner Hütte im Wald am Ortsrand schaffen sehen: er beigte Holz, hängte Wäsche auf und reparierte grad ein Fahrrad, mit dem er scheints seine Ausflüge machte. Ich traute mich nicht sofort zu ihm hin, sondern verschlupfte hinter einer Holzbeige und beobachtete ihn. Das sah alles ganz normal aus; wenn er keinen Besuch bekam, dann war das auch nichts besonderes.

Vielleicht wollte er von den Leuten nichts wissen, so wie ich: ich verließ die Anstalt so oft es mir erlaubt war und streifte lieber durch die Wälder, als mir ständig die anderen Dackel anzusehen.

Dann aber faßte ich mir doch ein Herz und stellte mich vor ihn hin: »Ich heiße Karl, und wie heißt du?«

»Xaver!«

»Xaver? Woher kommst du?«

»Woher kommst du, das sollte ich dich erst fragen!«

»Ich frage aber dich, weil ich komme aus der Anstalt.«

»Ich komme aus Bayern.«

»Bayern?«

»Kennst du das nicht?«

»Nein. Woher soll ich das auch kennen? Was ist das?«

»Das ist ein Land, so wie Württemberg – aber viel schöner!«

»Viel schöner?«

»Ja – zum Donnerwetter!«

»Wie kommst du dann hierher?«

»Durch den Krieg, du Simpel!«

»Simpel? Woher kennst du meinen Nachnamen? Ich habe dir doch nur den Vornamen gesagt?«

»Simpel – so sagt man doch hier! Jetzt aber red nicht so viel; komm rein. Gleich beginnt die Vorstellung!«

»Was für eine Vorstellung? Hast du denn ein Kino in deiner Hütte?«

»Red nicht, sage ich – komm!« Xaver zog mich fast gewaltsam in seine Hütte. Mensch, hatte der einen Griff – ich wollte geschwind schreien, denn es tat mir weh. Ich unterdrückte den Schmerz aber nochmal. Denn was ich nun sah, das beschäftigte mich mehr: Die Hütte war innen eingerichtet wie ein kleines Wohnzimmer mit einem Bett, einem Tisch, einer Lampe unter der Decke und einem kleinen Ofen gleich neben der Tür.

»Da, setz dich hin«, sagte Xaver und deutete auf das Bett unter dem Fenster.

Ich hockte mich brav hin. Xaver ging zur gegenüberliegenden Wand und zog ein Leintuch mit einem Ruck auf die Seite. Dahinter kam nun eine Landschaft zum Vorschein: sie zeigte eine grüne Wiese mit einem blauen Himmel darüber, und in dem blauen Himmel schwammen zwei winzige weiße Wölkchen. Das Bild war auf die Bretterwand gemalt; vielleicht hatte Xaver das selber gemacht. Er band das Leintuch mit einer Schnur an einen Nagel, damit es nicht vorzeitig wieder über das schöne Bild fiel, und setzte sich neben mich.

»Und jetzt?« fragte ich.

»Staad! Halt dei Gosch; gleich geht’s los. Siehst?«

»Noi? Wo?«

»Da! Dort hinten; gleich kommt der erste Panzer über den Berg ... und da ist schon das erste Flugzeug!«

»Ja, ja – du hast recht, Xaver! Jetzt seh ich es auch. Dees kommt aber tief!«

»Tiefflieger!« stöhnte Xaver.

»Panzer! Ond do, die Häuser ... Wo kommet denn zmal die viele Leut her? Ond jetzt brennts! Om Gottas willa — dia Leit! Xaver, dia Leit – die send älle verlora!«

»Dadada! Peng! Huh! ... Sirenen! Geh in Deckung, Simpel!« Xaver hatte sich richtig in die wahre oder eingebildete Situation hineingesteigert. Er schnaufte wieder und sagte: »Jetzt kannst du wieder aufstehen! Sie sind alle weg.«

»Schad om die Wiesa ond Beem; älles hee vo dene verreckte Panzer ond Bomba«, sagte ich.

»Aber wir haben gewonnen!« entgegnete Xaver.

»Alle die Schoof; die viele Gäul – ond die Menscha: Sag mol, Xaver, goht dees jedes Mol von dem Bild weg?«

»Da siehst du nachher nichts mehr. So als wenn nichts gewesen wär: Schwamm drüber und weg, verstehst du, ganz wie im Leben. Aber ich will dich nicht anlügen: die Putzarbeit machen andere für mich.«

»Wer?« wollte ich ernsthaft wissen.

»Das sage ich dir ein andermal. Jetzt aber – Vorhang zu und die Frage: hast du Durst?«

»Ja, und wie! I han scho a ganz babbiga Zong!«

»I hob aber nur Moscht ...?«

»I mog Moscht! Brauchscht aber koine Gläser: i trenk ausem Krug, so wie mei Vadder!«

»Dei Vadder – wo ist der?«

»Gfalla!«

»Gefallen? Das ist doch eine Ehre, für das Vaterland – für Führer, Volk und –«

»– Vaterland zu fallen! Ich weiß, so hat es geheißen! Mei Mutter hot dees aber et so gsäha.«

»Es hat im Krieg oft mehr Feinde hinter der Front gegeben, an der sogenannten Heimatfront, wie davor.«

»So eine aber war meine Mutter nicht, ist sie auch heute noch nicht: Sie ist keine Verräterin!«

»So meine ich das nicht, Simpel! Mein Vater lebt noch. Aber mit dem kann i über so äbbes ao net schwätza.«

»Kannscht du ao schwäbisch?«

»A bißerl!«

»Aber net viel.«

»Vielleicht lerne ichs noch. Man kann alles lernen, wenn man nur will.«

»Auch lesen und schreiben?«

Xaver stellte sich direkt vor mich hin und schaute mich von oben herab an: »Willst du damit sagen, du kannst noch nicht lesen und schreiben?«

»Nein! Das heißt ja. Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Ich habe es nie gelernt ...«

»Das muß aber sofort aufhören.«

»Die en dr Anstalt moenet dees ao.«

»Anstalt?«

Xaver drehte sich herum, machte einen Schritt auf einen kleinen Kasten an der Wand zu, öffnete ihn und entnahm ihm einen offenbar vollen Mostkrug. Und in dieser Bewegung wiederholte er, fast spöttisch: »Anstalt? Kenne ich nicht. Also dann trinken wir erst einmal. Prost, Karl!«

Xaver setzte an, und der Adamsapfel hüpfte an seinem Hals auf und ab. »Jetzt du«, sagte er und streckte mir den Krug hin – er war nicht so schwer wie der damals vom Schäfer. Aber vielleicht täuschte ich mich. Vielleicht war ich inzwischen nur stärker geworden.

Und an den Schäfer mußte ich jetzt denken: der wohnte damals in seinem Karren nicht so bequem wie jetzt der Xaver. Und natürlich fiel mir auch der Hund ein: der tät zur Hütte und zum Wald passen.

»Prost, Xaver«, sagte ich.

»Also saufen kannst – vielleicht auch Bier?«

»Auch Bier, wenns sein muß. Aber nicht so viel.«

»Bevor ich da her kommen bin, habe ich ja nur Bier getrunken. Und ab und zu Zigorekaffee.«

»Zigorekaffee?« hakte ich ein: »Den hat meine Mutter auch gemacht. Der schmeckt aber nicht so gut. Sag mal, Xaver, habt ihr in Bayern denn keinen Most – dann brauchtet ihr nicht so viel Bier trinken?«

»Ich weiß nicht – vielleicht im schwäbischen Bayern. Im Allgäu und im Donauried.«

»Habt ihr auch keine Äpfel?«

»Freilich haben wir Äpfel. Wir haben doch Bäume – da werden wir doch auch Äpfel haben, Simpel!«

»Und was macht ihr dann mit den übrigen Äpfeln?«

»Essen, du Simpel! Apfelkuchen backen und Apfelbrei ...«

»Das machen wir auch – Apfelkuchen und Apfelbrei! Aber man kann doch nicht von allen Äpfeln Apfelkuchen backen – Apfelbrei vielleicht, wenn man genug Zucker hineintut. Aber da gibts Apfel- und Birnensorten bei uns, da kannst du nur Most machen!«

»Bei uns nicht! Oder – ach, ich weiß nicht! Jetzt aber bist ruhig von deinem Most, von deinen Äpfeln und Birnen, und trinkst! Gib her: ich bin wieder dran!« Xaver machte eine Pause; er schien zu überlegen. Dann fuhr er fort, immer noch hoch über mir, denn ich war beim Trinken sitzen geblieben:

»Wenn du brav bist, erzähle ich dir nachher auch noch etwas. Ich bin ja viel rumgekommen in meinem Leben –« Jetzt drehte er sich doch weg, schlurfte zur Filmwand hin und ließ das Leintuch drüberfallen. Das Bild war die ganze Zeit geblieben, doch keiner hatte mehr hingeschaut. Auch jetzt interessierte es mich nicht mehr. Ich lauschte gespannt dem, was Xaver mir jetzt weiter erzählen wollte.

Er lehnte sich gegen die Wand und schaute mit den Augen irgendwohin: » ... rumgekommen! Viel! Nicht nur in Bayern und Württemberg. Ich war in Italien – bei diesen Zigeunern! Ich war in Rußland, Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei ...«

»Tschechoslowakei?« murmelte ich ehrfürchtig. Xaver trat unruhig auf der Stelle, schien jemand anders zu sehen und zu hören. Das gab mir Gelegenheit, den Mann näher zu betrachten. Er war nicht jung und nicht alt – ehrlich gesagt, hatte ich bis dahin keine Vorstellung von Jugend und Alter, was wohl wiederum in meinem Fall normal ist.

Aber soviel nahm ich wahr: Er hatte graue Locken auf dem Kopf – Rollen, wie wir sagen! Er hatte sich nicht rasiert; er hatte aber auch keinen Bart: die Haare im Gesicht waren wohl schon immer so lang. Und nicht nur beim Trinken, auch beim Reden und Denken – so wie jetzt – sprang sein Gurgelknopf an ihm hinauf und hinunter: wie ein Hund – wie Harras ... Aber so groß ist er doch nicht. Xaver machte ein paar Schritte, blieb stehen, sah mich an, machte das Maul auf und wollte etwas sagen. Aber es kam nicht heraus. Dann fiel mir nichts anderes ein als ihn zu fragen:

»Sag mal, Xaver, bist du katholisch?«

»Ob ich katholisch bin?«

»Du hast so ein silbernes Kettchen mit einem Kreuz um den Hals.«

»Ach so, das? Ja, ja, ich bin katholisch. Warum fragst du?«

»Ich frag halt. Ich bin evangelisch, hat meine Mutter gesagt – und haben meine Ahna und mein Ahne gesagt, und so sagt der Pfarrer.«

»Dann wirds stimmen! So«, änderte Xaver seinen Ton, ergriff den nun leeren Mostkrug und stellte ihn wieder in das Kästchen hinein: »Dann haben wir das auch geklärt. Noch etwas?« fragte er.

»Nein! Oder doch – i muaß hoim! Sonscht suachat die mi. I komm aber wieder, gell?«

»Mit Bleistift und Papier«, grinste er. »Das ist wegen der Nachricht, die du mir an der Tür hinterlassen mußt, wenn ich nicht da bin. Und ich bin öfters nicht da; muß weg, muß raus – in den Wald!«

»Gut! Wenn du an dem einen Tag nicht da bist, dann komme ich am nächsten Tag.«

»Dann kommst am nächsten Tag. So machst es, Simpel!«

»Ade«, sagte ich.

»Servus«, hörte ich ihn noch antworten und setzte mich in großen Sprüngen Richtung Anstalt ab.

Der Sonderling

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