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Meine Pferde

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So, das sind deine Pferde, erklärte mir Herr Renz, der Verwalter, am nächsten Tag, also an dem zweiten Tag meines Aufenthalts auf dem Hof in Niedersachsen in aller Frühe. Insgesamt gab es drei Gespanne und drei Gespannführer, und ich war einer davon – der jüngste: heute achtzehn Jahre alt geworden.

Der Stall ging zur Straße, der Hauptstraße des kleinen Dorfes in flachem, weitem Land. In diesem Stall war außer meinem Gespann noch ein Schimmel untergebracht. Den versorgte aber die Bäuerin oder der Verwalter selbst. Der Schimmel war ausschließlich zum Reiten, für die Herrschaft und für Gäste. Natürlich hatte ich mich später auch darauf gesetzt und ihn dann dafür ab und zu mitbetreut. Und die mußt du von nun an versorgen, mußt sie füttern, tränken und striegeln, fuhr der Verwalter, ein noch jüngerer Mann, fort. Er selbst fuhr meistens mit dem Motorrad: einer 125-Kubikzentimeter-NSU. Die habe ich ebenfalls gefahren. Aber nur einmal – die Dorfstraße hinauf und herunter. Doch dann nie wieder. Mit dem Motorrad kam er auch auf die Felder: weite, große Felder. Alles ganz anders als in Württemberg und zum tief Luftholen. Kannst auch mal drauf reiten, sagte Herr Renz mit einem Augenzwinkern. Fällst halt beim ersten Mal sofort wieder herunter, versprach er. So war es dann auch. Ich hatte Hella, die Leitstute, vor aller Augen vor dem Hof auf die Straße gestellt. Reinhard, zwei Jahre älter als ich und mein Bettnachbar in dem Verschlag hinter dem eigentlichen Stallgebäude, mit Scheuer, Bahrn, Kuh- und Schweineboxen, hielt das Pferd am Zaum und lachte schon, so wie nachher die Zuschauer, als ich mit einem Satz von der einen Seite auf das Pferd sprang und auf der anderen sofort hinunterglitt. Das war aber nur am Anfang; später konnte ich mich oben halten, ob das Pferd nun einen Sattel trug oder nicht.

Auf den Hof kam ich als Anhalter. In Einbeck wars. Ich hatte nach einer Jugendherberge gesucht oder nach einer anderen Übernachtungsmöglichkeit, doch nichts gefunden. Da es aber noch etwas hell war, wollte ich weiter. Dann bin ich einfach gegangen: heraus aus der Innenstadt, durch eine Siedlung. Häuser reihten sich an Häuser in kleinen Gärten an der Straße. Und es wurde immer dunkler. Ich war noch gut bei Kräften. Einigen Leuten war ich bis zu dieser Stelle begegnet. Auch Autos kamen mir entgegen, fuhren in meine Richtung. Natürlich hob ich den Arm. Aber es hielt keiner. Es wurde nicht nur dunkler: es wurde auch stiller. Ich hörte meine Schritte auf dem Trottwar. Ich begann sie schon zu zählen, so wie ich die Sekunden zählte zwischen den Autos auf der Straße. Aber im Grunde hörte ich das alles schon nicht mehr. Es gehörte dazu und mußte so sein: weshalb sollte ich mich weiter daran aufhalten? So wurde es immer stiller um mich, und jeder Lärm gehörte dazu: als Stein in der Mauer um mich. So hätte es wirklich noch weitergehen können – wenn auch nicht bis Hamburg.

Dann plötzlich dieser Krach hinter mir. Kam da ein Panzer? Nein, kein Panzer: ein Auto, Blechbüchse, Marke Gutbrot. Grün, und ich hob die Hand. Noch im Fallen meiner Hand ratterte dieses kleine Ungeheuer an mir vorbei. Bremslichter blitzten auf, brannten. Das Fahrzeug wippte erst nach vorn und wieder zurück und kam zum Stehen, die Reifen scharf an der Bordsteinkante. Ich rase los. Ich registriere: die Beifahrerseite wird aufgestoßen. Bevor ich frage, schaue ich und entdecke einen Riesen in einem grünen Kittel oder Mantel, der hinter dem Lenkrad eingeklemmt ist. Motor und Auspuff des Wagens lärmen immer noch, aber ich höre den Mann schnaufen – oder sehe ich es nur und sage mir dann: der schnauft, als ob er Asthma habe! Der Kopf berührte den Dachhimmel; jetzt neigt er sich zur Seite und bekommt nach oben mehr Spielraum.

»Wohin, junger Mann?«

»Ja, ich ... Können Sie mich mitnehmen?« Ich mußte schreien, vielleicht mehr als notwendig. Der Mann lächelte: es war ein freundlicher Mensch, das sah ich sofort.

»Steigen Sie ein«, sagte er.

Und ich stieg ein, warf meine Tasche erst auf den Rücksitz; da lag schon etwas, und ich warf mein Gepäck einfach darüber oder dazwischen. Dann nahm ich Platz und schlug neben mir die Tür zu. Das Auto startete.

»Wo solls denn hingehen?«

»Nach Hamburg zu meiner Tante.«

»Nach Hamburg zu Ihrer Tante? Ha, ha: so weit fahre ich nicht.«

»Es ist mir schon recht, wenn ich heut noch ein Stück vorankomme.«

Vielleicht war es ein Jäger: es sah ganz so aus. Er trug einen grünen Kittel und drunter die passende Hose. Er atmete schwer zwischen den Schaltvorgängen.

Jetzt machte er Licht, das Auto stocherte mit den Scheinwerfern in der Nacht herum. Aber es kannte sicher seinen Weg, so wie zwei Kühe oder ein Gaul vor dem Wagen, wenn der Bauer schon eingeschlafen ist zwischen seinen Säcken, auf seiner Ernte.

»Ist denn das so eilig, der Besuch bei Ihrer Tante in Hamburg?« begann er.

»Nein, das nicht.«

»Nun, dann können Sie doch eine Zeitlang bei mir bleiben. Ich habe einen Hof – Sie verstehen doch etwas von Landwirtschaft? –«

»Natürlich!«

»Dann bleiben Sie doch vorerst bei mir, Hamburg läuft Ihnen nicht davon. Sie bekommen ein Zimmer, zu essen und zu trinken und ein monatliches Geld. Was halten Sie davon?«

»Ich weiß nicht; das kommt so überraschend.«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie kommen jetzt mit mir nach Hause, lernen meine Frau und den Verwalter kennen, essen gut zu Abend, trinken etwas dazu und schlafen in Ihrem neuen Bett. Morgen früh stehen Sie auf und sehen selber, ob es Ihnen gefallt. Es ist ein großer Hof mit ein paar Knechten und mehreren Pferden.«

So redete er vor sich hin, wurde auch lauter, nachdem er gemerkt hatte, wie angestrengt ich horchte. Vielleicht lag es auch an seiner Sprache.

Ich könnte ein eigenes Gespann bekommen, fuhr er fort: das sei doch ein schöner Umgang für einen jungen Mann, um den würden mich viele im Dorf und auch sonst beneiden. Mit diesem Gespann könnte ich ein paar Tage arbeiten, dann könnte ich mich entscheiden, ob ich dableiben oder doch weiter zur Tante nach Hamburg fahren wolle. Im übrigen könne ich ja der Tante schreiben.

»Und Ihre Mutter? Weiß die Bescheid? Ihrer Mutter müssen Sie doch auch Bescheid geben, wo Sie sind? Sie macht sich bestimmt Sorgen. Das müssen wir gleich morgen früh erledigen. Sie kriegen Papier und Schreibzeug, dann schreiben Sie ihr mit einem schönen Gruß von uns. Vielleicht sucht man Sie dort schon? Wo sind Sie eigentlich zu Hause?«

»Wo ich zu Hause bin? Zu Hause bin ich; also zu Hause bin ich ... Ja, so können wir es machen. Gleich morgen früh!«

Wie lang ich denn schon unterwegs sei? Zehn Tage? Ach, das sei doch kein Leben immer auf der Straße: kein Essen, kein Bett.

»Nein, das ist nichts auf die Dauer.«

»Sehen Sie! Wie alt sind Sie denn?«

»Siebzehn.«

»Siebzehn Jahre?«

»Morgen werde ich achtzehn.«

»Morgen werden Sie achtzehn? Jetzt hätte ich beinahe die Herrschaft über den Wagen verloren! Dann haben Sie ja morgen Geburtstag? Ein Grund mehr, zu uns zu kommen und bei uns zu bleiben.«

»Jawohl«, nickte ich: was wollte ich im Moment mehr sagen oder tun? Ich fühlte mich ertappt, jetzt erst und hier in dieser Blechkiste, aber unter keinem Heuhaufen und in keinem Weizen-, Haber- oder Roggenfeld.

Der Motor brüllte wie ein Besoffener. Der Mann steuerte nach links unter Obstbäumen hindurch, die mit ihren Ästen auf Haube und Frontscheibe klatschten. Von der Asphaltstraße gings auf einen Feldweg: wir sackten in Schlaglöcher ein und wurden auf unseren Sitzen hin und her geworfen. Und die Scheinwerfer tasteten sich an den Baumstämmen entlang, so als suchten sie einen rettenden Griff. Aber da war nichts. Das schwache Licht glitt von den Stämmen ab und landete wieder auf dem Boden, von wo es sich nur mühsam wieder aufrichtete. Der Untergrund wurde glatter, gleichmäßiger: wir wurden auf eine neue Straße gespuckt. Endlich wieder auf Asphalt, der Mann hatte nur eine Abkürzung von der Stadt zu seinem Hof genommen.

»Wir sind gleich da«, sagte er. »Meine Frau wird sich freuen. Sie bekommen zuerst etwas zu essen, dann bringen wir Sie auf Ihr Zimmer, und Sie können sich ausschlafen. Morgen früh werden wir uns dann aussprechen. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Sie werden es gut bei uns haben!«

»Wir sind da«, keuchte der Mann, als wir von der langgezogenen Dorfstraße in einen großen dunklen Hof rollten, das heißt das Auto stieß uns da hinein, und der Mann hatte Mühe, es in die geplante Richtung zu dirigieren.

Ein letzter Schlag ins Kreuz, dann kamen wir vor einer Häuserwand mit Fenstern und Türen zum Stehen. Der Mann drehte dieser Höllenmaschine endlich den Kragen ab und löschte die Scheinwerfer. Zu gleicher Zeit flammte über einem Eingang in der Häuserecke eine Lampe auf und gab die weiteren Umrisse von Ställen, Scheuer, Schopf und ausladendem Wohngebäude frei.

»Wir sind da«, wiederholte der Mann. Ich wartete, was er weiter machte. Er wuchtete sich hinter dem Lenkrad hervor und stieg aus. Ich tat es ihm gleich und betrat Pflastersteine; an das Pflaster schloß sich bis zur Häuserwand eine Asphaltdecke an.

Aus dem Eingang, über dem die Birne angegangen war, trat jetzt eine Frau: stämmig, das schwarze Haar streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Buz zusammengefaßt. Die Frau war wesentlich jünger als der Mann – und sicher auch gesünder als er, das sah man sofort!

Aber was war sie: seine Frau? Tochter, Schwiegertochter, Schwägerin?

Die Frau blickte erst auf mich, nickte kurz, aber freundlich: dann ruhten ihre Augen auf dem Mann – Ehemann, Bruder, Schwager. Und der freundliche Herr, der mich von der Straße aufgelesen hatte, sagte: »Der junge Mann hier – wie heißen Sie eigentlich? Das habe ich Sie noch gar nicht gefragt –«

»Klein. Friedrich Klein.«

»Herr Klein will eine Zeitlang bei uns wohnen und arbeiten. Er hat mich unterwegs angehalten, und ich habe ihn mitgenommen, Frau.«

»Schön! Kommen Sie nur herein, Herr Klein.«

»Ich bin so frei«, murmelte ich und schaute mich nach dem Auto um, in dem noch meine Sachen lagen.

»Kannst du ihm ein paar Brote machen, Erika? Und er hat Durst.«

»Aber natürlich! Ich mache Ihnen ein paar Brote, und vielleicht ist noch ein Bier da.«

»Er kann ja heute in dem kleinen Zimmer oben schlafen.«

»Ja, ich mache es gleich frei. Kommen Sie erst einmal herein, Herr Klein. Ich bin Frau Reiner.«

»Ich hab noch ...«

»Ach ja, Ihr Gepäck!«

»Nur eine Aktentasche ...«

»Nehmen Sie heraus, was Ihnen gehört. Holst du auch deine Sachen aus dem Wagen, Alfons; und verschließt ihn dann?«

»Sofort, Erika! Geht ihr nur mal voraus.«

Der Sonderling

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