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Vorwort des Herausgebers

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Als Schriftsteller und als Großneffe des verstorbenen Kriminalhauptkommissars Rudolf Maier mit der Verwaltung seines literarischen Nachlasses betraut, stieß ich bei der Sichtung seiner Unterlagen zum »Fall Karl Simpel« auf ein Manuskript, das uns in den weiteren Lebensweg jenes bemerkenswerten, inzwischen verschollenen schwäbischen Dorfdackels namens Karl Simpel führt, der 1948, im Alter von 14 Jahren, zwei ehemalige Nazis, den Bürgermeister und den Ortsgruppenleiter der NSDAP seines Heimatdorfes am Fuße der Schwäbischen Alb, erschossen hat und dann in eine Heil- und Pflegeanstalt (Zwiefalten auf der Schwäbischen Alb) eingewiesen wurde.

Der Verfasser des nachfolgenden Berichts ist Karl Simpel selbst. Er hat in Zwiefalten und später im Gefängnis lesen und schreiben gelernt. Das Manuskript ist durch Simpels Mutter in unsere Hände gelangt. Sie schickte alles, zusammen mit einem verteidigenden Begleitbrief – »zu Händen Herrn Kommissars Maier, hier« – an die Stuttgarter Kriminalpolizei, bei der Maier zuletzt tätig war und wo er den behinderten Buben verhörte. Die Polizei leitete das Päckchen schließlich an Herrn Maier weiter, der es aber nicht mehr beachtete.

Simpels Bericht umfaßt in etwa den Zeitraum von 1948 bis 1955, also die Zeit von seiner Einweisung nach Zwiefalten, über seine Flucht von dort durch die ganze Bundesrepublik bis zu seiner vorläufigen Heimkehr in das Dorf im Februar 1955. Dazwischen liegen weitere Fluchten und Aufenthalte auf Bauernhöfen, in Gefängnissen und Heimen.

Mit dem Niederschreiben seiner Erlebnisse geschieht auch Verarbeitung, Bewußtwerdung. Simpel zeichnet seine Entwicklung vom unzurechnungsfähigen geistig Behinderten zu einer bewußten Person nach, doch zugleich wird auch seine Auseinandersetzung mit Deutschland, mit dem Deutschland der fünfziger Jahre, mit dem Nachkrieg und der unbewältigt verdrängten Vergangenheit deutlich. Das macht dieses Buch wichtig für uns: Aufarbeitung des Nachkriegs, der Jahre, die unsere ganze Existenz als Bundesrepublik Deutschland (und als DDR) entscheidend prägten, tut uns allemal not. Hier sehen wir die heute oft nostalgisch verklärten und modisch vermarkteten fünfziger Jahre aus einem völlig anderen Blickwinkel. Es geht hier nicht um Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, um Rock’n Roll und Petticoats, um Nylonhemden und Bikinis: Simpels Geschichte spielt sich gewissermaßen auf dem Hinterhof Deutschlands ab, in den Bereichen des Lebens, die die Mehrzahl der Nachkriegsdeutschen verdrängt hat. Er lebt auf der Schattenseite, ein Behinderter und Sonderling unter Aufstrebenden, Erfolgreichen; einer, der sich der Wahrheit stellen muß, wo andere vergessen wollen.

Das letzte Heim im Allgäu, in das er vom Gefängnis aus »zur Bewährung« eingewiesen wird, und aus dem er sich vorzeitig absetzt, stellt ein Panoptikum geschundener, verwaister und verkrüppelter Menschen aus dem ganzen großen, zerbrochenen Deutschen Reich dar. Hier treffen sie sich alle: Versehrte, Arm- und Beinamputierte; Epileptiker – im günstigsten Fall kommen sie zur Umschulung in einen neuen Beruf, weil der alte Beruf, eben aus gesundheitlichen Gründen, nicht mehr ausgeübt werden kann.

So wie zuvor schon in den verschiedenen Verwahranstalten findet Karl in dem Heim alle möglichen Muster früheren oder künftigen Lebens. Paul zum Beispiel, Kriegsteilnehmer wie die meisten, armamputiert, Heimat Ostpreußen, abgebrochenes Studium; die Familie bis auf Reste verschollen oder versprengt.

Oder der Doktor: Bürgermeister einer Gemeinde in Thüringen; im Krieg verschüttet, danach wieder ganz »Kind« – ein weiterer Sonderling!

Doch gerade diese beiden werden Simpels wichtigste Gesprächspartner, und es ist besonders Paul, der durch alle Wirren hindurch eine gewisse Haltung – wenn auch nicht gerade verbindlich – bewahrt hat, die Karl nicht entwickeln konnte und die er nun braucht. Doch die Annahme dieses Vorbilds, dieser Vorbilder – positiv wie negative –, geschieht nicht ohne Widerspruch.

Genauso anwesend und lebendig in Karl Simpels Bericht sind – wie in seinem bisherigen Leben – die Namen Maier und Hofer. Der letztere ist ein ehemaliger Lehrer in dem Dorf, der zuerst Berufsverbot erhielt, dann vermutlich von den Nazis beseitigt wurde — wie so viele Freunde, Lehrer und Vorbilder während der Naziherrschaft.

Zum »Fall Karl Simpel« habe ich nichts Neues beizutragen. Die Tat, der Mord an den beiden Nazis in einem Tal des württembergisch-schwäbischen Voralblands, wurde zwar nicht restlos aufgeklärt, ist aber abgeschlossen. Meiner Ansicht nach kann der Fall nie restlos aufgeklärt werden. Das liegt an der Person oder an der Persönlichkeit des Mörders – nehmen wir weiterhin an, daß es Simpel allein war. Er ist selber ein Opfer: ein Opfer der Zeit und der Umstände; ein Opfer aber auch der Unfähigkeit anderer, »normaler« Menschen, mit der Zeit, mit den wirklichen Massenmördern und ihren Helfershelfern abzurechnen – in Stadt und Land, Hauptstadt und schwäbischem Land.

Da wird diesem Kind eines Tages ein Gewehr in die Hand gedrückt — von irgendwoher. Von einem andern – von der Eingebung; von der Vorsehung; vom Schicksal! Wie friedlich hätte er doch dahinleben können; hätte seine harmlosen Streiche und Dummheiten weiter treiben können, und die Umwelt, die Dorfgemeinschaft hätte ihn gewähren lassen. Sie hätte seine Narreteien, seine nutzlosen und im Grunde niemand schadenden Spiele gebraucht als Gegenstück zu ihren, tatsächlich viel gefährlicheren, Normalitäten – zu ihrem wirklich nutzlosen Ernst.

Zum Dackel ist Karl Simpel durch einen Schlittenunfall geworden, der ihn für die Volksschule untauglich machte. So mußte er nicht gerade zum Feldschütz in die Schule gehen, aber beim Zufall. Und ist dieses neue Leben als Schreibender nicht irgendwie ebenfalls Unfall und Zufall? Karl Simpel muß anders als wir frei werden von seiner Vergangenheit. Doch oft hat man den Eindruck, als befände er sich weiterhin in der Kanalisationsröhre, von der er Maier erzählt. Er ist damals zwar selber hineingestiegen in seiner Dummheit — oder in einem Moment geistiger Klarheit, die ihn andern, normalen Kindern imponieren hieß? Und er kriecht immer weiter in der dunklen Höhle voran, bis es heller wird. Er steht unter einem Schacht. Aber darüber warten schon die Kinder, lachen und verspotten ihn – »scheißen und saichen« auf ihn herab, wie Karl berichtet.

Sein Schreiben ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg von der Dunkelheit und Dumpfheit – ist es nicht die Dunkelheit und Dumpfheit seiner Umwelt, die an ihm offenbar geworden ist? – zur wachsenden Bewußtwerdung. Auch Karls Sprache wird zunehmend klarer und politischer. Sein Schreiben ist ein Innehalten vor dem nächsten großen Schritt – einem Schritt hinaus aus der Heimat, einer politischen und geographischen Grenzüberschreitung.

Der Sonderling

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