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Was Paul dazu sagt 1

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Herr Hofer – (Herr Kommissar, wo sind Sie eigentlich?) –, hören Sie mich? Ich greife meinen Erzählungen jetzt etwas voraus. Ich spreche nun vom Heim, wohin ich im Oktober 1954, nach Verbüßung einer Jugendstrafe und »auf Bewährung« kam. Neben anderen Männern und Jugendlichen traf ich dort auf Paul. Ich habe Ihnen den Namen schon genannt. Das war kein Mann wie wir, auch wenn es von weitem so aussehen könnte. Das war eine Respektsperson, und ich gestehe, daß ich, trotz meiner unüberhör- und auch unübersehbaren Großmäuligkeit, bis zuletzt so etwas wie Angst vor ihm hatte. Auch jetzt noch steht er bedrohlich über mir – ganz im Gegensatz zu Ihnen! Nicht, daß ich zu Paul kein Vertrauen gehabt hätte – soviel wie zu Ihnen: aber es war immer ein Abstand da, der vermutlich von seiner häufig allzu sehr zur Schau getragenen Bildung herkam. Und das förderte meine Angriffslust – aber auch meine Unterwürfigkeit!

Ich konnte mich Paul nie ganz öffnen, weil ich befurchten mußte, von ihm völlig eingenommen zu werden. Nicht daß er es darauf anlegte, den anderen zu besiegen – im Gegenteil, der Sieg war ihm geradezu lästig –: aber er befriedigte ihn auch. Diese Lust am Untergang des anderen – am Ausspielen der eigenen Fähigkeiten – konnte ich lange nicht verstehen, verstehe sie im Grunde heute noch nicht. Aber – Paul war notwendig im Heim! Er verkörperte hier etwas, das uns allen verlorengegangen war oder das wir nie gehabt hatten – wenigstens die meisten von uns. Ich könnte es auch eine Freiheit nennen, die er sich nicht allein verschafft oder erstudiert hatte: Da stehen ganze Generationen und Armeen dahinter.

Weil er doch der einzige war, dem man so etwas erzählen konnte, habe ich ihm viel von mir erzählt. Aber eigentlich wußte er schon alles. Daher das Gefühl der Unzulänglichkeit – auf meiner Seite natürlich!

Übrigens das »Du« war, mit wenigen Ausnahmen, zu denen der Doktor gehörte, unter den Heimbewohnern üblich. Paul gehörte nicht zu diesen Ausnahmen. Darin war er also wieder ein Gleicher unter Gleichen, fest eingebunden in die Schicksalsgemeinschaft.

»Wie kommst du auf den Namen Friedrich Klein?«

»Klein, so hieß meine Kindergartentante.«

»Und?«

»Sie wurde abgeholt!«

»Wie abgeholt?«

»Na, während des Kriegs – von der Gestapo.«

»Ach so.«

»Und Friedrich hieß ihr Mann.«

»Wurde der auch abgeholt?«

»Schon vor seiner Frau.«

»Was ist ihnen passiert?«

»Du fragst, Paul ...«

»Ja, ich frage: Entschuldigung! Und nun fühlst du dich verantwortlich?«

»Nein; ich habe sie gemocht. Beide. Hauptsächlich Frau Klein. Sie mußte vorher schon leiden, hatte ein böses Bein.«

»Schön! Diese Haltung ehrt dich. Dann hast du den Namen einfach angenommen nach deiner Flucht aus Zwiefalten – in einer Art Patenschaft?«

»Ja.«

»Toll! Aber du hast dem Polizisten da auf der Autobahn einen Ausweis gezeigt?«

»Meinen Ausweis, ausgestellt –«

»– auf den Namen Friedrich Klein?«

»Ausgestellt auf den Namen Friedrich Klein.«

»Woher hattest du den? Der fand sich doch nicht im Aschen-Nachlaß des Mannes – und an den wärest gerade du herangekommen?«

»Nein, das behaupte ich auch gar nicht.«

»Wie bist du dann an den Ausweis gekommen?«

»Das war ein neuer!«

»Ein neuer Ausweis?«

»Ein neuer Personalausweis vom Rathaus. Von mir selber ausgefüllt. Ha, ich konnte doch nicht länger als Karl Simpel durch die Gegend dackeln! Mit diesem Namen hätte ich zu Hause bleiben müssen. Aber ich wollte raus, nicht nur aus dem Ort, nicht nur aus dem Tal, nicht nur aus dem Land: vielleicht auch aus meiner Haut.«

»Du gefällst mir, Karl Fritz, Fritz Karl, Simpel-Klein, KleinSimpel. – Und es hat nicht wehgetan?«

»Was?«

»Die Verrenkungen beim Aus-der-eigenen-Haut-Schlüpfen ...?«

»Es schmerzt immer noch! Wie bei Verbrennungen ersten oder zweiten Grades ...«

»Nur weil man dich wieder zurückgeschoben hat?«

»Ja. Wie in den Mutterleib –«

»Um noch einmal geboren zu werden ...«

»Den Geburtstag habe ich unverändert gelassen.«

»Das mußtest du ja! Du konntest dich doch nicht noch jünger oder älter machen.«

»Ich hätte es zu gern getan. Es pfufferlete mich schon in jener Nacht auf dem Rathaus.«

»Pfufferlete? Wie hast du gesagt?«

»Es hat mich gereizt.«

»Ah! Schwätz Deutsch!«

»Das ist doch Deutsch!«

»Ja, freilich. Aber weiter: wie kommst du nachts auf das Rathaus?«

»Es war das Rathaus in unserem Dorf in dem Tal. Ich bin da eingebrochen. Ich kannte mich da ja aus, sozusagen von Kindheit an.«

»Ich kenn mich auch an vielen Orten und in vielen öffentlichen und privaten Gebäuden aus: darf ich deshalb aber da gleich einbrechen?«

»Ich wollte es gar nicht. Aber ich mußte. Wegen dem neuen Namen. Sie haben doch nur gespottet und gelacht. Früher habe ich das gar nicht gemerkt. Aber jetzt. Und es hörte nicht auf. Es wurde jeden Tag schlimmer. Der erste Urlaub wieder daheim bei meiner Mutter: das war Terror! Im Vergleich dazu war Zwiefalten das reinste Erholungsheim. Jetzt sagst du nichts mehr, Paul?«

»Da kann man auch nichts mehr sagen.«

»Ich hatte niemand, an den ich mich wenden konnte; bei dem ich mich beschweren konnte. Und meine Mutter ...«

»Deine Mutter – ja? Was hat denn die dazu gesagt? Der hast du doch von dem Hof in Niedersachsen aus nicht als Friedrich Klein schreiben können und sie konnte auch einem gewissen Friedrich Klein bei Familie Reiner nicht antworten ...«

»Doch! Doch, sie konnte es. Und sie hat es getan. Sie hat niemand gesagt, wo ich bin, weder der Polizei noch den Leuten in Zwiefalten. Der Anstalt hat sie nur gemeldet – einen ersten Entwurf zu diesem Brief habe ich später gefunden: Werte Herren, ich teile Ihnen mit, daß mein Sohn verschwunden ist. Weiß selber nicht, wohin. Vielleicht ins Ausland. Er hat mir aber vorher nichts gesagt und mir auch nicht geschrieben. Am besten, Sie lassen ihn einige Zeit in Ruhe. So wird es am besten sein. Ich denke, daß er dadurch wieder normal wird und eines Tages wieder ganz von selber vor der Haustüre steht. Dann sage ich es Ihnen selbstverständlich.«

»Du hast eine Mutter!«

»Ja, ich habe eine Mutter. Gott sei Dank. Und du, Paul, hast du keine?«

»Ach, stell keine solchen Fragen!«

»Warum denn nicht? Das interessiert mich. Du bist auch nicht vom Himmel gefallen. Hast du wirklich keine Mutter – keine mehr? Ist sie gestorben?«

»Ich weiß nicht.« Paul wurde ärgerlich; sein rechter Armstumpf zuckte: »Schließlich waren wir bis zum Ende des Krieges im zugigen Ostpreußen und nicht im warmen Württemberg, so wie du und deine Familie.«

»Ohne den Vater – Oh, Paul, so warm ist Württemberg gar nicht. Vielleicht für ein paar, heute wie früher. Aber nie für alle. Meine Mutter, meine Schwester und ich haben in dieser Zeit oft gefroren und gehungert, glaube es mir!«

»Aber das war nicht korrekt, was deine Mutter da auf deinen Brief hin aus Niedersachsen gemacht hat. Das war illegal –«

»Was war das? Wie lautet das Wort?«

Paul beugte sich zu mir herüber: »Illegal – das heißt ungesetzlich! Und leichtsinnig war es zudem.«

»Ich bin aber heimgekommen, einmal, während der Kirschenzeit, mit meinem Freund Hans –«

»Hans?«

»Hans – der Berliner, den ich auf meiner zweiten Hofstelle 1953 in Hessen kennengelernt habe. Bald nach unserer Verabschiedung von dem Hof in Niedersachsen. Unserer – damit meine ich Ludwig, noch einen und mich! Zwei Tage später sind wir wieder weiter.«

»Siehst du? Das hätte sie anzeigen müssen, deine Mutter.« »Anzeigen?«

»Anzeigen! Melden! Und wohin seid ihr wieder weiter?«

»Mit einer 125er-NSU-Fox Richtung Frankreich. Mein Lieber – neunzig Sachen lief die!«

»Jetzt mal der Reihe nach, du Heißsporn. Da kommt ja niemand mit bei deinen verschiedenen Ausbrüchen und Einbrüchen –«

»– oh, da gibt es noch viel mehr!«

»Bei deinen verschiedenen Aufenthalten, Einkehren und Wanderungen – nicht durch die Mark Brandenburg allein: sondern quer durch die Bundesrepublik. Und durch dein Hirn!«

»Ja, durch mein Hirn – aber auch tatsächlich ...«

»Wo habt ihr eigentlich das Motorrad hergehabt?«

»Das Motorrad? Das Motorrad ... Ja, deswegen das eine Jahr Gefängnis und der Rest auf Bewährung!«

»Was hast du dir dabei nur gedacht?«

»Wohl nichts! Vielleicht hat sich Hans etwas dabei gedacht. Er war auch um einige Jahre älter, hatte einen Führerschein und konnte Motorrad fahren. Wir haben nie darüber gesprochen. Wir hatten auch nie Zeit dazu.«

»Tippelbrüder – und keine Zeit!«

»Wir hatten uns in eine verzweifelte Lage gebracht. Wir Dackel hatten am Abend unsere Höfe verlassen. Mit dem Zug kamen wir in Fulda an, trieben uns planlos und ziellos in der Stadt umher, hatten Hunger, waren müde – warum sind wir nicht am Tag, am Morgen losgegangen?«

»Ja, warum nicht?«

»Ja, warum nicht – so darf man fragen! Jetzt erinnere ich mich: Hans sprach von Bekannten, die er in Fulda hatte, und da könnten wir übernachten und für die nächsten Tage planen. Dann waren, wie du sicher schon erraten hast, diese Bekannten nicht da, und wir standen auf der Straße.«

»Das zu erraten war wohl nicht schwer!«

»Ich verließ mich ganz auf Hans – dann war ich verlassen! Mit zunehmender Helligkeit schöpften wir wieder Hoffnung, verschwand wenigstens die Müdigkeit. Nur der Hunger ließ sich nicht vertreiben. Schließlich genehmigten wir uns in der ersten Bäckerei, die aufmachte, pro Mann zwei Weckle und einen Kaffee. Natürlich hatte jeder etwas Geld. Doch wir wollten damit sparsam umgehen, um so weit wie möglich damit zu kommen – frag mich aber nicht, bis wohin. Auch die Frage wozu – warum ich wieder abgehauen bin, ist nicht zu beantworten. Ich könnte sagen: ich bin verführt worden; der Altere hat mich überredet: er wollte selber fort. Da war ja auch etwas dran! Hans war aus einem anderen Grund heimatlos und fühlte sich umhergetrieben: Er war geschieden, irgendwo wohnte die Frau mit einem Kind, und er wollte sich vor dem Unterhalt drücken. Ja, wohin? Zuerst in die Caritas, eine Baracke in der Nähe des Hauptbahnhofs; die kannte ich schon. Da bekam man einen Teller Suppe. Eine Suppe gab es auch im Kloster, und zwar für jeden — kostenlos –, der dahin kam und wollte.«

»Und das Motorrad?«

»Das Motorrad stand da am Straßenrand. Wir hatten noch eine Nacht in einem städtischen Obdachlosenasyl verbringen können. Aber dann wurde es Zeit.«

»Das Motorrad stand da am Straßenrand«, wiederholte Paul; er war wütend geworden.

»Und der Schlüssel steckte. Hans hatte es sofort erkannt. Er setzte sich drauf, und er hieß mich aufsteigen, und ich stieg auf den Sozius und klammerte mich an Hans, folgte ihm wie unter Hypnose. Dann gings auf die Autobahn, Richtung Frankfurt. Aufenthalt in Frankfurt. Abends weiter nach Stuttgart. Das war wieder eine Idee von Hans! Er sagte: Können wir nicht zu dir nach Hause, bevor wir nach Frankreich weiter fahren? Das können wir, sagte ich ...«

»Das wär doch die Gelegenheit gewesen, abzuspringen?«

»Oh, Paul – aus heutiger Sicht! Aus heutiger Sicht hätte ich auf dem Hof bleiben sollen. Auch Hans. Und wenn man noch weiter zurückgeht, dann hätte ich gar nicht aus Zwiefalten fortdürfen. Aber da ist das Problem. Wenn ich drandenke, merke ich, wie etwas in mir zerfließt. Ich lebe auf einer Eisdecke; die Eisdecke zerspringt. Ich treibe auf einer der kleinen Eisschollen. Aber das ist gar kein Wasser; das ist gar kein Eis. Und es ist auch nicht kalt. Im Gegenteil: Es ist heiß, und ich schwitze – schwitze vor Angst, daß es mir gehen könnte wie dem Eis: es schmilzt, und ich mit ihm. Und dann bin ich nichts mehr und niemand oder werde erst in den Händen anderer und im Umgang mit ihnen wieder jemand.« »Einen wirklich schlechten Umgang hattest du da«, bemerkte Paul, nun schon wieder etwas milder gestimmt.

»Wie gesagt, aus heutiger Sicht! Damals war es der mir scheints einzig zugängliche Umgang. Als wir dann in Stuttgart ankamen, war es spät, und ich sagte, jetzt können wir nicht mehr heimkommen, meine Mutter würde der Schlag treffen. Also morgen früh. Und die Nacht schlugen wir uns im Wartesaal des Hauptbahnhofs um die Ohren, eine Nacht, die ich nie vergesse. Es gab da einen Vorfall; ich habe jemand einfach den Koffer weggenommen und ihm den unseren gegeben ... Es war Blödsinn. Denn in dem anderen wären nur Schuhbändel, der unsere enthielt dagegen unsere ganzen Habseligkeiten. Nein, in einer solchen Verfassung konnte ich nirgends bleiben. Ich mußte fort, um mir die Hörner abzustoßen; um Haut zu verlieren. Und das ging nur in Reibereien, in Zusammenstößen. Ein bißchen ging es mir da wie dem Germanengott Wotan in der Sage: der hat doch auch ein Auge geopfert für ein Stück Weisheit.«

Jetzt aber lachte mein Tischnachbar laut: »Wo hast du denn das her?«

»Irgendwo zwischen Zwiefalten und Burg aufgelesen; vielleicht hat es mir auch der Lehrer Hofer schon als Kind erzählt.«

»Hofer? Lehrer? Das muß auch so einer gewesen sein.«

»Sage nichts gegen Herrn Hofer – das war auch so ein Opfer!« –

Der Sonderling

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