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Auf der Flucht

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So wie es mit einem Schlag laut werden kann, wird es plötzlich still, so still, daß man die berühmte Stecknadel zu Boden fallen hört. Und ich lausche, lausche dem Pferdegetrappel auf der Straße.

Ich springe auf, stürze in mein Zimmer unter dem Dach und öffne das Fenster. Von hier kann ich einen Teil des Dorfes samt der Hauptstraße übersehen. Ich muß mich nur etwas recken oder mich auf einen Stuhl oder Schemel stellen. Ich stehe aber nicht sehr oft da; ich bin kein Jäger, der dem Wild auflauert. Eher bin ich das Wild, das sich versteckt vor diesen Jägern. Und fliehen, das gehört doch auch zum sich verstekken – nicht nur vor Jägern, tatsächlichen oder eingebildeten! Da sehe ich die Gäule kommen: ein Bauer mit seinem Fuhrwerk. Ist das nicht der Räber-Schorsch, den meine Mutter schon zum Ackern geholt hat? Es gibt nicht zu viele Pferde und Pferdefuhrwerke im Ort. Es hat mehr Kühe – und ganz früher soll es auch Ochsen und Ochsengespanne gegeben haben. Das ist in manchen Familiennamen – besser Beinamen – überliefert. Weil es so viele mit dem Namen Haas gibt, nannte man diejenigen »Oggsahaasa«, die ihre Wagen von Ochsen anstatt Kühen oder Pferden ziehen ließen. Ochsen und Pferde sind natürlich teurer als Kühe; begnügen sich nicht nur mit Heu und Stroh.

Aber in Niedersachsen gab es sehr viele Pferde, Kühe nur auf der Weide und im Stall, aber keine zum Ziehen. Und in Niedersachsen, auf dem Hof bei Göttingen, begegnete ich im Grunde zum ersten Mal Pferden. Hier erhielt ich zwei zur Betreuung – war über Nacht Gespannführer geworden.

Ich war schon ein paar Tage und ein paar Nächte unterwegs – immer in Richtung Norden – und schon weit hinter Frankfurt und Kassel. Ich hatte Städte, große und kleine, durchwandert, war von der Landstraße auf die Autobahn und von der Autobahn auf die Landstraße gewechselt, so wie es sich ergab: Hauptsache, ich kam meinem Ziel, Hamburg, näher.

Bei mir trug ich eine Aktentasche, die enthielt einen Teppich und ein zweites Paar Schuhe. Der Regenmantel paßte nicht mehr hinein; den warf ich über die Schultern oder band ihn mit einem Gürtel über die Tasche. Wenn es regnete und nicht zu heiß war, konnte ich ihn anziehen: das war das Gute an Hitze und Regen im Freien.

Als ich vor einer Woche in aller Frühe das Haus meiner Mutter in dem Dorf verlassen hatte, war da auch noch ein Vesper drin. Doch das war bald gegessen. Das Vesper hatte meine Mutter am Abend zuvor gerichtet, denn wir wollten am anderen Tag alle drei — meine Mutter, meine Schwester und ich – einen Ausflug machen: nach St. Johann oder auf die Schwäbische Alb, so war es geplant.

Und die anderen Sachen, Aktentasche, Teppich, Regenmantel, Schuhe, die habe ich mir im Laufe der Zeit zusammengetragen, heimlich, nicht offen vor Mutter und Schwester. Ich habe alles auf der Bühne versteckt; in der Nacht noch habe ich alles heruntergeholt und aus dem Fenster hinter das Haus geworfen. Dort wollte ich die Sachen holen. Und wenn meine Mutter aufgewacht wäre und mich gefragt hätte, was ich machte, dann hätte ich gesagt: Ich habe wieder schlecht geträumt; ich brauche frische Luft. Du mit deinen schlechten Träumen, hätte sie vielleicht gesagt; daß das aber auch nicht aufhört!

So hätte ich nicht reden können mit der Aktentasche und mit allem andern in der Hand. Doch meine Mutter ist nicht aufgewacht. Niemand hat mich an jenem hellen Morgen aus dem Haus kommen und fortgehen sehen.

Natürlich hätte mich meine Mutter so fragen müssen. Denn sie hatte Verantwortung für mich. Ich hatte von Zwiefalten für vierzehn Tage mit ihr nach Hause fahren dürfen. Und ich lebte im Dorf schon wieder zehn Tage. Aber es war beinahe die Hölle! Deshalb freute ich mich einerseits, wenn die Vakanz herum war und ich in die Anstalt und zu Xaver zurückkam. Andererseits wollte ich nicht mehr. Ich wollte fort. Fort aus diesem Dorf und fort aus diesem Land. Fort von diesen Menschen.

Sicher hatten die Leute immer über mich gelacht. Aber damals, während des Krieges und kurz danach, hatte ich es nicht so gemerkt. Nun merkte ich es, und es tat weh! Klein und groß trieben das Michele mit mir – »Simpel ist wieder da! Der Simpel«, riefen die Kinder, und die Alten verzogen dazu spöttisch das Gesicht.

»Simpel, bischt jetzt gscheit?« fragten dann sie. Ich drehte mich wortlos um.

»Aber a Dackel bischt ond bleibscht«, hörte ich hinter mir sagen. Sowas mußte ich mir also anhören! Aber wartet nur, dachte ich: das geht nicht ewig so weiter. Und ich habe mich dann auch noch auf andere Weise auf diese Flucht vorbereitet. Mit einem Regenmantel, einem zweiten Paar Schuhe und einem Teppich – zum Übernachten im Freien – war es nicht getan!

Wenn ich mich unsichtbar machen könnte – wenigstens vorübergehend, bis der oder die vorbei sind! Aber was folgt dann? Nein, das hilft nichts. Sowieso gibts das nur im Märchen. Und dies hier ist kein Märchen. Die Leute und das Dorf sind kein Märchen – und ich bin kein Märchen.

Aber etwas muß geschehen – etwas muß weg und etwas muß dazu. Und da fiel mir nur mein Name ein: Wenn ich nicht mehr Karl Simpel hieße, sondern zum Beispiel ... Und ich könnte das beweisen: mit einem Papier; mit einem Ausweis. Bei denen hier war es doch gleich, wie ich mich nannte und was ich vorzeigte: für sie bin ich und bleibe ich der Karl – der Simpel und der Dackel! Aber die Leute draußen – die kennen mich dann gar nicht anders!

Ich habe mir die Strecke nach Hamburg vorher auf der Karte angeschaut und mir die größeren Ortschaften auf der Rückseite der Karte notiert, außerdem habe ich die Tage festgehalten, nach welchen ich sie erreichte. Es war der achte Tag, als ich in der berühmten Universitätsstadt Göttingen eintraf und durch die finsteren Gassen eines Außenbezirks trottete, daran erinnere ich mich noch sehr gut! Ich suchte nach einer Jugendherberge, so wie in allen Dörfern und Städten, fand aber keine. Also wollte ich heute noch weiter: näher zu Hamburg! Die Landkarte – DEUTSCHLAND, Germany, Allemagne – habe ich von dem Lehrer in Zwiefalten geschenkt bekommen. Ich habe ihm gesagt, ich möchte das selber nachschauen, was Sie mir da erzählen von Bergen, Landschaften, Flüssen und Seen. Er hat gesagt: Gut, schau es dir an. Deutschland ist schön; schade, daß immer wieder Leute aufkommen in der Geschichte, die es immer kleiner werden lassen und auch das wenige noch zerstören. Damals reifte in mir schon der Plan, mir dieses Deutschland anzuschauen und dort irgendwo zu bleiben, nur nicht hier in Württemberg, in dem Dorf – in der Anstalt!

Juni – das ist doch auch die Zeit, wo man die Vogelnester ausnimmt. Ein paar Junge fliegen von selber von den Bäumen – patsch! Liegen sie vor deinen Füßen! Vielleicht wird das eine oder andere auch von den Vogeleltern hinausgeworfen: ein Fresser zuviel, heißt es! Bei den Menschen ginge das nicht so einfach. Die meisten können gut noch eine Weile vom eigenen Fett leben. Die Menschen sterben auch nicht so schnell. Aber das da: so klein und blutt; ohne Haar – das bewegt sich noch kurz (zucken kann man dazu nicht sagen), dann ist es vertreten. Oder gefressen. Von einem anderen Tier – von einer Katze!

Zunächst mußte ich einmal rauskommen aus dem Dorf, möglichst ohne von jemand gesehen zu werden. Der Wald, überlegte ich mir! Und über Wiesen zwischen Bäumen; querdurch über Gräben, Böschungen hinauf und Böschungen hinunter. Und immer wieder die Bäume: sie waren mir willkommen; ich hätte mich jederzeit dahinter verstecken können, wenn Leute aufgetaucht wären. Doch ich war allein. Ich wanderte den Berg hinauf in das Dorf von meinem Ahne; aber ich lief dann nicht zwischen den Häusern durch, sondern außen herum. Und auf der anderen Seite ging es wieder hinab. Das brauchte seine Zeit. In der nächsten größeren Stadt wollte ich mit dem Zug weiter, nur um fürs erste wegzukommen: raus aus dem Land, weg, so weit wie möglich.

Ich hatte zwei Mark bei mir. Für fünfzig Pfennig kaufte ich mir eine Fahrkarte. Die reichte bis Plochingen. Da stieg ich aus und ging zu Fuß weiter. Ich sehe alles noch ganz deutlich vor mir: der Tag würde heiß werden, und ich hatte Durst. Ich suche nach einem Brunnen. Da gibt es aber keinen Brunnen. Dann schleiche ich mich in ein Hotel hinein und trinke vom Hahnen, aus der Hand. In diesem Hotel – Gasthaus, Gasthof, Wirtschaft – mußte ich auch auf den Abort. Und daran änderte sich von jetzt an nichts; wenn ich ein Dorf oder eine Stadt erreichte, suchte ich als erstes nach Wasser. Aber seltsamerweise gab es weniger Brunnen, als ich mir vom Tal und von dem Dorf auf der Höhe vorgestellt hatte. Besonders in dem kleinen Dorf von meinem Ahne gibt es viele kleine Brunnen. Alle paar hundert Meter einen: für das Vieh hauptsächlich, das an den Wagen hier vorbeikam. Und dann konnte man selber trinken, konnte sich Arme und Gesicht waschen. Das fehlte mir nun. Und mehr als Hunger litt ich immer Durst – natürlich auch Hunger! Die paar Brote von meiner Mutter waren bald weggeputzt, schon vor Plochingen. Kaufen wollte ich mir aber nichts: ich mußte mir das Geld sparen für Notfälle. Blieb mir nur noch das Betteln oder die Gutmütigkeit der Leute. Zum Beispiel der Lastwagenfahrer; er hatte mich an einer Autobahnauffahrt einsteigen lassen.

Er brachte mich ein gutes Stück voran. Und vor allem: er fragte nicht viel, woher ich komme und wohin ich gehe, war zufrieden mit dem, was ich ihm sagte. Darauf antwortete er nur: er habe Verständnis für so etwas. In meinem Alter hätte er das auch machen wollen. Aber es ging nicht, leider! Erstens hätten sie daheim ein Geschäft gehabt und zweitens sei der Krieg gekommen, verstehst?

Ja, ja, der Krieg, schrie ich in den Motorlärm hinein.

Und dann fragte er, ob ich Hunger hätte?

Das brauchen Sie nicht fragen; ich habe immer Hunger!

So? Dann lang mal da in meine Tasche; da ist mein zweites Frühstück drin. Du kannst dir die Hälfte nehmen.

Danke! Dann durfte ich auch Tee aus seiner Thermosflasche trinken.

Bevor er von der Autobahnabfahrt auf die Landstraße bog, ließ er mich aussteigen, und ich tippelte auf der Wiese neben der Autobahn so vor mich hin. Aber wenn ich mehr zu essen und zu trinken wollte, dann mußte ich von den großen Straßen herunter und in die Siedlungen hinein. Und da habe ich dann auch ganz ungeniert gebettelt: in Bäckereien, in Metzgereien. Ich bin auch auf Bauernhöfe gegangen, und ich habe meistens etwas bekommen. Auch mal einen Zehner oder zwei: das wollte ich mir alles aufheben für später.

Und geschlafen habe ich die erste Nacht in einem Weizenfeld – oder war es Haber? oder Roggen? — gleich neben der Autobahn. Wozu hatte ich schließlich den Teppich bei mir? Und mit dem Regenmantel konnte ich mich zudecken; die Aktentasche war mein Kissen. Ich schlief natürlich nicht richtig; die ganze Nacht hörte ich die Autos rauschen, und wenn mal nichts war, dann wartete ich auf das nächste Auto. Nie war es ganz still. Das hätte ich auch nicht vertragen können.

Dann bin ich in den Dörfern natürlich auch aufs Rathaus und hab um ein Bett für die Nacht gefragt. Der Bürgermeister hat mich selber in ein Gemeindehaus gebracht. Das kostete nichts. Ich bin auch zu den Pfarrern gegangen wegen einem Dach über dem Kopf bis morgen früh – und natürlich wegen Brot und einem zusätzlichen Zehner. Nur selten ging ich mit leeren Händen von einem Pfarrhaus weg. Die Pfarrer fragten auch nicht viel. Sie fragten nur: woher und wohin – und dann sagte ich: zu meiner Tante nach Hamburg! Das genügte ihnen. Diesen Bären – freilich, es war für mich keiner – habe ich auch dem Polizisten aufgebunden. Er kam mit dem Fahrrad aus dem Dorf an den Kirschbaum neben der Autobahn heran, auf dem ich gerade saß und die Kirschen in mich hineinstopfte. Ich sah seinen Pistol am Gürtel um den Ranzen, und auf dem Grind hockte die Kappe. Der Büttel stieg vom Fahrrad herunter, lehnte es an die Böschung und kam auf mich zu. Jetzt krebselte auch ich vom Baum. Das war kein großer Baum – halt so einer, wie die Bäume werden, wenn man sie nicht schneidet und wild wachsen läßt. Die Kirschen waren auch nicht mit unseren zu vergleichen. Aber es gab in dieser Landschaft keine anderen.

»Was machen Sie denn da?« fragte der Polizist.

»Kirschen essen«, sagte ich. »Ist das verboten?«

»Nein! Aber kommen Sie mal her und zeigen Sie Ihren Ausweis. Wo wollen Sie hin?«

»Nach Hamburg zu meiner Tante.«

»So, so, nach Hamburg zu Ihrer Tante?«

»Warum, darf ich das nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt«, bruddelte der Beamte in seinen Bart hinein – ja, der hatte einen Bart: so einen kleinen, eine Rotzbremse unter der Nase. Und schwarz. Über den Ohren hingen ein paar graue Haare heraus, aber der Schnauzer war noch schwarz. Während ich nach meinem Ausweis kruschtelte, holte er ein Buch aus dem Schweiger heraus und schlug es auf. Dabei schaute er mich scharf an.

»Name?«

»Klein. Friedrich Klein: dadrin stehts.« Ich sagte es und reichte ihm den Ausweis. Der Polizist blätterte, blätterte in meinem Ausweis und blätterte in seinem Buch. Das ging lang, in dieser Zeit rauschten eine Menge Autos an uns vorbei. Und wenn man die auf der Gegenfahrbahn noch dazu rechnete, dann war es ein Haufen.

»In Ordnung«, sagte der Mann schließlich, gab mir den Ausweis zurück und schlug auch sein Buch zu. »Ich hab nichts dagegen, daß Sie sich die Kirschen nehmen, das ist Eigentum aller. Aber brechen Sie keine Äste ab.«

»Oh, nein! Ich bin Bäume gewohnt, besonders Kirschbäume«, antwortete ich.

Der Mann richtete nun stumm sein Fahrrad auf, schwang sich in den Sattel und treppelte davon. Weiter vorn über einer Auslose im Feldweg zum Graben wäre er fast umgekippt. Alles in allem war es mir jetzt wohler.

Der Sonderling

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