Читать книгу Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg - Winfried Wolf - Страница 10

Reise nach Paris – Bekanntschaften zahlen sich aus – im Dienste verschiedener Herren – Bekanntschaften im Salon - Grimm trifft Rousseau und Diderot – drei unterschiedliche Freunde - Grimm im inneren Zirkel der franz. Aufklärer – Grimm tritt ans Licht der Öffentlichkeit

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Hinweise auf Grimms Reiseroute liefert vielleicht die Weinkarte des Regensburger Gastwirts und Weinhändlers Johann Christoph Glätzl.153 Verziert mit schönen Rocaille-Elementen listet der Kupferstich neben den angebotenen Weinsorten die von Regensburg ausgehenden Postkurse nach Wien, Straßburg, Salzburg, Leipzig, Berlin, Prag, Hamburg, München, Venedig, Köln, Dresden, Hannover und Hildesheim auf. Die Postroute nach Straßburg führt laut Weinkarte über Ingolstadt, Donauwörth, Dillingen, Günzburg, Göppingen, Canstadt, Knittlingen, Durlach, Rastadt und Kehl, auch kleinere Zwischenstationen werden aufgeführt. Vermutlich stand dem jungen Grafen von Schönberg (oder dem jungen Graf Friesen?) eine eigene Reisekutsche zur Verfügung, die nach eigener Reiseplanung fuhr. Eine Idylle auf Rädern war die Fahrt mit der Kutsche gewiss nicht, aber wer es sich leisten konnte, fuhr mit der eigenen Kutsche noch einigermaßen bequem. Goethe beispielsweise nutzte die Postkutsche nur im Notfall, ansonsten reiste er in einem eigenen, komfortablen, vierspännigen Fahrzeug, reich ausstaffiert und gut gefedert. Ganz anders der arme Mozart, der auf Sitzen „hart wie Stein“ saß und glaubte seinen „Hintern nicht ganz nach München bringen zu können“.154 Nach der Reise mit der Postkutsche will es sich Mozart fortan zur Regel machen „lieber zu Fuß zu gehen als in einem Postwagen zu fahren“. Mozart wird nicht übertrieben haben, wenn man von zeitgenössischen Bezeichnungen für Kutschen hört. Kutschen sind „Walkmühlen“, „Marterkästen“ und „Knochenknacker“.

Aber was für die sog. Ordinari-Post galt, muss für Grimm, der wahrscheinlich in einer gräflichen Kutsche fuhr, weit weniger schlimm gewesen sein. Mit einer modernen Kutsche, wie sie Goethe benutzte, waren täglich zwischen 60 und 100 Kilometer zu schaffen. Natürlich konnte vieles dazwischen kommen wie Achsbruch, aufgeweichte Straßen, schwer zu passierende Steigungen, Reparaturarbeiten, Überfälle oder Krankheit. Ärgerlich waren die ständigen Kontrollen beim Überschreiten von Gebietsgrenzen und Zollschranken, häufig musste Straßen- und Brückenmaut entrichtet werden, hinzu kamen Vorspanngeld und Torgeld.

Das Reisen nahm im 18. Jahrhundert im Vergleich zum vorangegangenen Jahrhundert einen großen Aufschwung, es gab bessere Straßen und bequemere Reisekutschen taten das ihre, der Bequemlichkeit des Reisenden zu dienen. „Für Künstler, Gelehrte, Schriftsteller, Handelsreisende, Politiker und Geistliche gehörte es nun zum guten Ton auf Reisen zu gehen155 und natürlich galt Goethes Spruch aus Wilhelm Meisters Lehrjahre: „... die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“. Grimm hat mit seinem Zögling Adolf Heinrich von Schönberg eine solche Bildungsreise unternommen, ein Unternehmen, das in adeligen und bürgerlichen Spitzenfamilien im 18. Jahrhundert recht verbreitet war. Das Reisen zum Bildungs- und Wissenserwerb gehörte zur Sozialisation der Führungsschichten Europas. Die Bildungsreise lässt sich als ein Lebensabschnitt betrachten, der bei adeligen jungen Männern zwischen dem Unterricht durch den Hauslehrer und der Zeit stand, die mit Amtsträgerschaft, Eheschließung und eigenständiger Lebensführung verbunden war. Durch diese kulturelle Praxis wurden dem jungen adligen Mann und zunehmend auch dem bürgerlichen Nachwuchs, schrittweise neue Handlungsspielräume eröffnet; mit der Bildungsreise wurde ihnen die Gelegenheit gegeben, sich in der Welt zu bewähren. Durch das Reisen in die Fremde konnte der Status auch innerhalb der eigenen Gesellschaft gefestigt werden. Natürlich ließen sich mit dieser kulturellen Praxis auch Erziehungsziele und berufliche Ambitionen verbinden. Söhne, die für eine militärische Laufbahn vorgesehen waren, richteten ihr Augenmerk auf Waffentechnik, Festungen und Schanzen; Söhnen aus Gesandtenfamilien, die sich für eine Laufbahn im fürstlichen Verwaltungsdienst zu interessieren hatten, boten diese Reisen die Möglichkeit, sich an den europäischen Höfen umzuschauen oder sich in den Haushalten von Residenten und Gesandten an der Konversation zu beteiligen. Im Rahmen sog. Assemblées konnten dann Fremde mit Mitgliedern der einheimischen Oberschichten zusammenkommen; das war für Söhne, die selbst einmal eine diplomatische Laufbahn einschlagen wollten eine gute Gelegenheit, erste Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln.156

Als Erbprinz Friedrich von Sachsen-Gotha, der spätere Friedrich III., 1718 die übliche Bildungsreise antreten sollte, äußerte sich sein Vater, Herzog Friedrich II., in seiner Anweisung an den Hofmeister darüber in folgender Weise: „Wir haben uns entschlossen, nach reiflich gepflogener Deliberation unsern Sohn in fremde Laender zu schicken, damit er daselbst sowohl seine Studien continuiren, als auch in allen christfürstlichen Tugenden und Wissenschaften eine mehrere Acquisition machen und dermaleinst mit denjenigen guten Eigenschaften zurück kehren möge, durch die er seine und unsrer Lande Wohlfahrt befördern könne. Nun aber die Erfahrung lehrt, daß viele junge Herren den vorgesteckten Zweck auf ihrer Reise nicht erreichen, ja an Leib und Seele verderben, indem sie statt gehoffter vortrefflicher Tugenden, einer gründlichen Staatsklugheit und Possidirung ausländischer Sprachen, den Kopf voll Atheisterei, Indifferentismus, Eitelkeiten, angenommener Frechheiten und Geringachtung ihres Vaterlandes, nebst einem ungesunden, durch Wollust und irreguläres Leben ruinirten Leib anheimb gebracht: Also haben Wir unsern Sohn zur Verkommung dieser Gefährlichkeiten und damit er Uns einst das Zeugniß an ihn gewandter recht väterlicher Treue und Liebe beizulegen in seinem Gewissen desto mehr möge verbunden werden, Unsere christfürstliche Schuldigkeit bei ihm zu ermessen, mit einer wohlbedächtig abgefaßten Instruction versehen, des ungeweifelten Vertrauens, er werde sie öfters durchlesen und ihr in allen Punkten nachkommen.157 Ähnliche Wünsche werden den Erbprinzen Friedrich Ludwig von Sachsen-Gotha von seinen Eltern Herzogin Luise Dorothee und Herzog Friedrich III. mitgegeben worden sein, als er ab 1744 eine mehrjährige Bildungsreise durch Europa antrat. Den jungen Prinzen sollte Grimm im Frühjahr 1749 in Paris kennenlernen.

Grimm traf mit seinem Schüler (oder mit Friesen) vermutlich Anfang des Jahres 1749 in Paris ein und blieb hier mit Unterbrechungen bis 1792. Melchior Grimm gehörte zu jenen Hofmeistern, die von ihrer Bildungsreise nicht zum Ausgangsort zurückkehrten. Er blieb in der Fremde, die ihm bald zur Heimat werden sollte.158

Paris zu Grimms und Reichards Zeiten

Wir wissen nicht, welche ersten Eindrücke von Paris Grimm zu verarbeiten hatte. Wie erlebte er die Stadt um 1750, was hat ihn fasziniert, was hat ihn abgestoßen – wir wissen es nicht. In seinen ersten Briefen nach Deutschland ist die Stadt nur schemenhaft zu erkennen. Seine späteren Berichte in der Correspondance littéraire über Theater- und Opernpremieren, Kunstausstellungen, Akademievorträge, Besuche bei Freunden geben ein buntes Bild des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens in der Metropole wieder – eine Schilderung der urbanen Realität ist aber nur in Ansätzen zu erkennen. Wir erfahren wenig über das Leben der einfachen Leute, hören fast nichts über beobachtete soziale Ungerechtigkeiten. Die Stadt einmal aus der Perspektive eines Lakaien, eines Bettlers zu sehen, das war Grimms Sache nicht. Grimm kam nicht als vermögender Mann nach Paris, er kam als Hofmeister im Dienste eines Adelshauses in die Stadt, aber die Lage des drittens Standes blieb ihm fremd. Von Anfang an verkehrte Grimm in den sog. besseren Kreisen, dem Lärm und dem Gestank der Stadt konnte er entgehen. Lassen wir uns daher, als neugierige Nachgeborene, Paris von einem Mann anschaulich beschreiben, der die Stadt erlebte, wie sie sich auch schon zu Grimms Anfangszeit dem Besucher darbot. Unser Zeitzeuge ist Heinrich August Ottokar Reichard, ein Gelegenheitschriftsteller aus Gotha. Er hatte wie Grimm die Rechtswissenschaft studiert, war dann aber zur Poesie übergelaufen und konnte sich Verdienste um das herzogliche Hoftheater in Gotha erwerben. Die Oberspielleitung hatte übrigens Hanß Adam von Studnitz inne, derselbe, den Grimm schon in Regensburg kennengelernt hatte. Der Herzog vertraute Reichard seine Privatbibliothek an und verlieh ihm 1785 den Titel eines Rates, später wurde er zum Kriegsrat befördert. Mit Klüpfel, den Grimm in Paris 1749 zu seinen ersten Freunden zählen durfte, stand der junge Reichard auf vertrautem Fuß. 1786 unternahm Reichard mit seiner jungen Frau eine Reise nach der Schweiz und kam dann über Lyon nach Paris. Hier traf er auch Friedrich Melchior Grimm, der zu dieser Zeit schon in Diensten des Herzogs von Sachsen –Gotha stand.159

Als Reichard mehr als 30 Jahre nach Grimm nach Paris kam, bot sich ihm dieses Bild:160Wenige Schritte hinter Ville Juive, der letzten Station vor Paris, hat man auf einer Anhöhe den ersten unvergesslichen Blick auf die weltberühmte Stadt, welche, ein unabsehbarer grauer Klumpen von Häusern, den Horizont abschließt. Das Observatorium, die Invalidenkuppel, die Türme von Notre-Dame und St. Sulpice ragen allein über unzählige kleinere Höhen und spitzen empor. Und so rührt man denn, voll gespannter Erwartungen, durch Staubwolken und eine wahre Prozession von Reitern, Fußgängern, Fuhrwerken, Wagen mit Lebensmitteln, Holz, Steinen usw. bis zu dem Tore der prächtigen Barriere von Fontainebleau.“ Nach der üblichen Zoll- und Ausweiskontrolle am Stadttor erreicht Reichard mit seiner Frau das Hotel. War er jetzt in der schönsten und prächtigsten Stadt Europas angekommen? Er muss Abstriche machen, bei näherem Hinsehen zeigt sich: „Die Gassen sind denn doch so ziemlich schmutzig. Aber es mag leicht besser in die Augen fallen, als in die Nase... In der Vorstadt war der üble Geruch bei der starken Nachmittagshitze unerträglich. Am meisten aber“, fährt Reichard fort, „missfiel uns die aus den hohen oberen Stockwerken quer über die Gasse an langen Stangen zum Trocknen ausgehängte Wäsche... Das Gedränge von Menschen, Reitern und Fuhrwerken nahm immer mehr zu, je mehr wir uns dem schönen, zierlichen Teile der Stadt näherten. „Voila des Anglais, qui arrivent!“, riefen sich einige Kramladeninhaber zu; und wir bemerkten, dass die Pariser eben so neugierige Gaffer sind, wie die Bewohner unserer kleinen Städte. Den Pont neuf erkannte ich an der Statue des guten Heinrich IV., die seit der Revolution durch die Bilderstürmer in die Seine versenkt, jetzt aber wieder aufgestellt ist.161Endlich langten wir in unserem Hotel-Garni, Rue Richilieu, an. Das Hotel hieß damals Lancaster und hatte die Bibliothèke Royale zum schönsten Gegenüber; keine hundert Schritte entfernt lag das Palais-Royale, wohin man durch eine kurze Seitenstraße sogleich gelangte. Wir wohnten in der herrlich möblierten „bel étage“... Diese Lage in einer so belebten Gegend kostete uns die ersten Nächte unseren Schlaf, denn regelmäßig nach Mitternacht erbebten die Fenster von dem Donnerfluge unzähliger Kutschen, welche die gute Gesellschaft aus den üblichen Abendgesellschaften nach hause brachten... Einmal im Besitze unserer Zimmer, kamen wir gar nicht mehr vom Fenster. Hatte uns schon das Gewühl in den Straßen von Lyon in Erstaunen gesetzt, so war es mit dem in der Rue Richilieu doch gar nicht zu vergleichen.“ Während Reichards Reisegefährten schon im Bett lagen, wanderte er mit einem Diener zum nahen Palais-Royale. „Die Variétés und das Théatre Beaujolais hatten soeben ihre Vorstellungen beendet, und so wogte mir eine geputzte Menschenmenge entgegen, welche ungefähr um die Hälfte stärker war, als meine ganze Vaterstadt Einwohner zählte. Dazu die hellstrahlenden Reverberen162 in den Schwibbögen, die hunderttausende von Lichtern in den Läden und Buden, und in diesen Läden und Buden alle Waren und Seltenheiten auf die künstlichste, prunkhafteste und auffallendste Art zu Schau gestellt – es war ein Anblick, der auf mich wirkte, wie niemals im Leben wieder etwas auf mich gewirkt hat. Tief von demselben ergriffen, eilte ich nach Hause und weckte meine Frau; trotz ihrer Weigerung musste sie ihr englisches blaues Reitkleid überwerfen und mir folgen. Denn das hatte ich schon bemerkt, wie irrig die Annahme ist, als müsse man in Paris durchaus nach der neuesten Mode gekleidet sein. Zeichnet man sich nur nicht durch einen grotesken Anzug aus – der auch in der kleinsten deutschen Stadt auffallen würde – so mag übrigens Schnitt und Farbe des Rockes sein, wie sie will; in Paris nimmt niemand Anstoß daran, denn die in Journalen und Zeitschriften ausgerufenen Moden sind gewöhnlich nur in einem ganz kleinen Kreise „Tonangebender“ bekannt, oder werden gar nur aus Spekulation auf das Geld des Auslands ersonnen und angepriesen. Erst um Mitternacht, beim Schlusse des Palais-Royal, konnten wir uns von diesem Feen-Palast trennen... Wohl war dieses Palais-Royal damals die Hauptstadt der kleinen Welt Paris. Alle großen Städte gleichen einander, aber weder London noch Petersburg haben ein Palais-Royal. Jemand, der nackt und hungrig unter diese Arkaden träte, würde sich in wenigen Minuten von Kopf zu Fuß auf das prächtigste kleiden und mit den ausgesuchtesten Leckerbissen sättigen können. Selbst deutsche Zeitungen waren an den Glastüren eines Cafés mit deutschen Buchstaben angekündigt...163

Reichard ging während seines Aufenthaltes in Paris recht planvoll vor. Für die Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt mietete er sich zwei Remisewagen. „Der Wagen blieb ganz unerlässlich, bei dem geringsten Regen war es vollkommen unmöglich, zu Fuße zu gehen, weil eine in der Mitte jeder Straße laufende Rinne durch die beständig fahrenden Kutschen zu beiden Seiten dermaßen anspritzte, dass man gleich bei den ersten Schritten arg beschmutzt wurde.“ Häufig ging Reichard mit seiner Frau auch ins Theater oder in die Oper. Mit einigem Glück gelang es ihm der 89. Vorstellung von Beaumarchais „Hochzeit des Figaro“ beizuwohnen. Das größte Vergnügen bereiteten dem jungen Paar die Vorstellungen bei den Italienern, dabei geschah es, dass seine Frau auch einmal die Aufmerksamkeit des Herzogs von Orléans auf sich zog. Als sie das erste Mal ungeschminkt im Theater erschien, „wurde das Parterre ganz unruhig, und laut verlangte eine Stimme: „que Madame mette du rouge“.“ Dieser Ausruf veranlasste den Herzog gar, Reichards Loge aufzusuchen, „um das blasse Gesicht in der Nähe zu sehen.“

Weitere Höhepunkte des Parisaufenthalts waren ein Ausflug nach Versailles, Reichard fand das Schloss in einem baufälligen Zustand vor. Die bronzenen und marmornen Statuen und die unzähligen wasserlosen Bassins hinterließen bei Reichard einen eher unangenehmen Eindruck. Er hatte aber das Glück, den König zu sehen und auch die königlichen Kinder konnten alle zusammen in einem Zimmer in Augenschein genommen werden. Eindruck machte Petit-Trianon, das Feenschloss Marie Antoinettes und das künstliche Dörfchen der Königin, das nicht weit davon entfernt liegt.164

Grimm kam nicht als Tourist nach Paris

Grimm kam nicht als Tourist nach Paris. Er wollte hier leben und arbeiten. Zeit für Besichtigungen hatte er nicht, er musste so schnell als möglich in der „guten“ Gesellschaft ankommen, die ihm am ehesten eine Karriere ermöglichen konnte. Nun machen sich Grimms frühere Beziehungen bezahlt, die Verbindungen zum Grafen von Schönberg öffnen ihm die Türen zur höheren Gesellschaft. Ein schöner Zufall, dass sich bei Grimms Eintreffen in Paris, Erbprinz Friedrich von Sachsen-Gotha mit seinen Begleitern in der Seine-Metropole aufhält. Auf Empfehlung seines aus Regensburger Tagen Bekannten, Hanß Adam von Studnitz, dem späteren Oberhofmarschall des Herzogs von Sachsen-Gotha-Altenburg, wird Grimm zum Vorleser und Deutschlehrer des Prinzen. Erbprinz Friedrich war schon zwei Jahre zuvor zur Ausbildung nach Paris gekommen. Sein Hofmeister Ulrich von Thun machte hier seinen Schützling mit einflussreichen Personen bekannt. Friedrich wurde in die Salons der Pariser Aufklärer eingeführt und lernte dort Voltaire, Diderot, Rousseau, Holbach u. a. kennen. Zu den neuen Bekannten Grimms gehörte auch Abbé de Raynal, den Thun mit herzoglicher Erlaubnis als Lehrer für Geschichte und Philosophie engagierte. Das sorgte zunächst für Unruhe in Gotha, denn der protestantische Erbprinz sollte ja nicht zum Katholizismus bekehrt werden. In einem Brief vom 5. 11. 1747 an die Herzogin Louise Dorothée konnte Thun die besorgte Mutter beruhigen: „Dieser Abbé ist viel kompetenter als ich bisher geglaubt habe. Er hat profunde Kenntnisse in schöner Literatur und ein großes historisches Werk unter Berücksichtigung von Moral, Politik und Handel geschrieben. Er hat weit ausgreifende Kenntnisse in Philosophie, überdies besitzt er eine philosophische Geisteshaltung und einen fröhlichen Humor, mit dem er dies alles behandelt. Schließlich kann er Unterrichtspraxis nachweisen... Überdies hat der Abbé die gute Eigenschaft, daß er nicht katholischer ist als Herr Klüpfel und ich. Er denkt über die Religion wie ein protestantischer Philosoph. Er gilt unter denen, die ihn kennen, als Mann von Redlichkeit, Pflichtgefühl und guten Sitten. Der kleine Abbé-Kragen braucht also nicht zu schrecken. Er trägt ihn wie die Hälfte der Abbés aus Gründen der Sparsamkeit, außerdem um einen würdigen Eindruck zu machen und auf Vergünstigungen hoffen zu können. Im übrigen erscheint fast alles, was hier unterrichtet, im kleinen Abbé Kragen.“165

Der Abbé Raynal wurde wenig später literarischer Korrespondent der Gothaer Herzogin. Louise Dorothée bezog seine handgeschriebenen Nouvelles littéraires mit Unterbrechungen von 1747 bis 1755. Erbprinz Friedrich und Abbé Raynal sollten für Grimm schon bald eine wichtige Rolle für seine Pariser Karriere spielen. Für einen kommoden Anfang in Paris aber sorgte ein anderer: Graf Friesen. Er war der unmittelbare Vorgesetzte seines alten Schulfreundes Gottlieb Ludwig von Schönberg.166 Mit Friesen, dem Neffen des Marschalls von Sachsen, verband ihn bald eine herzliche Freundschaft. Er wurde sein Sekretär, er wohnte in seinem Haus, und war nun erreichbar unter der Adresse: Rué Cadet fauxbourg Montmartre chéz M. le Comte die Frise à Paris. Graf Friesen hatte sich in der Armee verdient gemacht und er führte ein ausschweifendes Leben und gab sich gern den Freuden des Daseins hin. Die Unterkunft im Haus des Grafen bot viele Annehmlichkeiten, Grimm konnte z. B. über die Dienerschaft verfügen und Freunde einladen.

Friesen führt Grimm auch in die Gesellschaft ein. Er machte seinen Freund mit Charles Eugène Gabriel de La Croix, Marquis de Castries bekannt, dem späteren Marschall von Frankreich, er stellte ihn der Comtesse de Blot167 und dem Baron von Besenval168 vor und führte ihn bei der Königin, bei deren Hofdame Madame Polignac, den Prinzen der königlichen Familie und allen Ministern ein, die unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. großen Einfluss hatten. Friesen öffnete Grimm aber auch die Türen zur Pariser Gesellschaft, diese Gesellschaft stellte in der Weltkulturhauptstadt Paris ein sehr spezifisches Milieu aus aufgeklärten Adeligen und Großstadt-Intellektuellen dar. Man traf und begegnete sich in den Salons der Damen Geoffrin, Deffand, Lespinasse, Necker, Tencin oder Dupin.169 Bei Frau von Dupin lernte Grimm schon bald den jungen Erbprinzen von Sachsen-Gotha und dessen Hofmeister Baron von Thun kennen. In den Salons stieß man auch auf die ‚philosophes170, jene Gruppe von Intellektuellen, die sich geistvoll und mit dem gewissen ‚esprit’ zu Fragen von Kunst, Musik Literatur und Philosophie äußern konnten. Es ergab sich also reichlich Gelegenheit Bekanntschaften zu schließen, Bekanntschaften, die einem gebildeten Kopf wie Grimm nur dienlich sein konnten.

Grimm ist ehrgeizig

Grimm war ein ehrgeiziger junger Mann, der jede Gelegenheit wahrzunehmen wusste seinen Vorteil zu suchen und anders hätte er hier auch nicht reüssieren können. Er war wild entschlossen, aus den brodelnden Pariser Verhältnissen für sich das Beste herauszuholen. Grimm schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Wieviel außergewöhnliche Männer es doch in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab! Und ich befand mich im Zentrum des Wirbels und ließ mich von seinen Ergebnissen befruchten. Der Hof und die Stadt bargen so viele Geheimnisse, so dass es für mich nicht einfach war, in sie einzudringen. Kaltblütig befand ich mich inmitten der Leidenschaften, ich hatte in diesem Kampf nichts zu befürchten, ich hatte nur zu hoffen.171 Grimm fügt an: „Mon existance littéraire et politique date du jour ou j’entrai a Paris, vers le milieu du siecle que j’ai vu finir.“ Paris ist für Grimm die Erweckung, der Beginn eines neuen, bewussten Lebens, Kindheit und Jugendzeit hat er nun endgültig hinter sich gelassen und es ist aus seiner Sicht rückblickend darüber nicht viel zu sagen: „J’ai moins a m’occuper de moi que des autres; qu’important a mes contemporains d’obscurs et inutiles détails sur ma naissance et mes parents! Qu’il me suffise de dire que ma famille est honorabel.“

Grimm trifft Rousseau beim Erbprinzen von Gotha

Die berühmten Männer der Salons zogen ihn magisch an, weil er selbst den Ideen der Zeit gegenüber aufgeschlossen war und sich schon früh auf eine Karriere als Kulturvermittler vorbereitet hatte. Es konnte daher nur ein Frage der Zeit sein, auf ein Genie zu treffen, dessen Kapital produktiv für die eigenen Belange zu nutzen war. Eine erste Gelegenheit ergab sich im Sommer des Jahres 1749, als er auf einer Gesellschaft des Barons von Thun in Fontenay-sous-Bois, wo der Erbprinz von Sachsen-Gotha mit seinem kleinen Gefolge ein Landhaus des Marschalls von Sachsen bewohnte, Jean Jacques Rousseau begegnete. Grimm gehörte im Frühjahr des Jahres 1749 bereits zur kleinen Hofhaltung des Erbprinzen in Fontenay-sous-Bois dazu; er hatte die Aufgabe übernommen, den Prinzen in Deutsch und Latein zu unterrichten, er tat dies, soweit ihm sein Posten als Sekretär des Grafen Friesen die Zeit dazu ließ.172 Der Hofmeister des Erbprinzen, Baron von Thun, berichtet über die Lage in Fontenay in seinem Brief an die Herzogin vom 19. Mai 1749: „Die Lektüre geht einigermaßen voran ... ich lasse den Prinzen, ganz nach seinen Bedürfnissen, mit Herrn Grimm, der seit einigen Tagen bei uns ist, auf deutsch lesen. Wir erwarten heute den Besuch Frau von Chatelets, den von Herrn Voltaire und den des Grafen Chatelet, den Couverneur von Vincennes, unseren Nachbarn.173

Als Melchior Grimm in Fontenay-sous-Bois auf Jean-Jacques Rousseau traf, war dieser noch keine Person von öffentlichem Interesse. Er hatte einige Stücke geschrieben und ohne großen Erfolg versucht der Akadémie des Sciences seine neue Methode der Notenschreibung zu präsentieren. Sein Auskommen fand er als Sekretär Madame Dupin’s, im Schloss von Chenonceaux.

Aus der Bekanntschaft mit Rousseau aber sollte sich bald mehr entwickeln, Rousseau berichtet darüber in seinen Bekenntnissen: „In dem Gefolge des Prinzen befanden sich noch zwei Deutsche, der eine, welcher Klüpffell hieß und viel Geist besaß, war sein Kaplan und wurde später, nachdem er den Baron verdrängt hatte, sein Hofmeister, und der andere war ein junger Mann, Namens Grimm, der ihm, bis er eine Stelle fände, als Vorleser diente. Seine äußerst dürftige Ausstattung verrieth, wie dringend er einer solchen bedurfte. Schon an diesem Abende fühlten Klüpffell und ich uns zu einander hingezogen, und wir wurden bald aufrichtige Freunde; mein Verkehr mit Herrn Grimm machte keinen so schnellen Fortschritt; er drängte sich nicht gern in den Vordergrund, und war noch weit von jenem anmaßenden Tone entfernt, den er später im Glücke anzuschlagen für gut fand. Am folgenden Tage sprach man bei der Tafel von Musik; er sprach gut darüber. Es machte mir große Freude zu hören, daß er auf dem Klaviere begleite. Nach Tische ließ man Noten bringen. Wir musicirten den ganzen Tag auf dem Klaviere des Prinzen; und so begann diese Freundschaft, die mir bei ihrem Anfange so angenehm und bei ihrem Ende so verhängnisvoll war, und von der ich von nun an noch so viel werde zu sagen haben.“174

Grimm macht also auf Rousseau zu Beginn ihrer Freundschaft keinen sehr überzeugenden Eindruck. Dass sich Rousseau an der dürftigen Ausstattung Grimms stört, ist einigermaßen verwunderlich, war er doch selbst kein Mann, der mit weltlichen Gütern gesegnet war und keinen besonderen Wert auf passende Kleidung legte. Rousseau schildert uns Melchior Grimm beim ersten Kennenlernen als einen zurückhaltenden, kühlen jungen Mann, der sich aber zu benehmen weiß und eine gute Rede führt. Beim gemeinsamen Musizieren aber kommt man sich näher. Bald sah man die beiden öfter zusammen und es schien, als sei zwischen den beiden Männern eine innige Freundschaft entstanden. Rousseau vernachlässigte sogar Frau von Dupin, bei der er als Erzieher des Sohnes sein Geld verdiente, und vergaß mitunter seine geliebte Tante, nur um mit Grimm zusammensein zu können: „Unser Vereinigungspunkt bildete sein Klavier, an welchem ich alle freie Augenblicke mit ihm zubrachte, um italienische Lieder und Barcarolen unermüdlich und rastlos vom Morgen bis zum Abend, oder vielmehr vom Abend bis zum Morgen zu singen; und sobald man mich nicht bei Frau Dupin fand, war man sicher mich bei Herrn Grimm oder wenigstens in seiner Gesellschaft, sei es auf dem Spaziergange oder im Theater, zu finden. Ich hörte auf, die italienische Komödie zu besuchen, zu der ich freien Eintritt hatte, die er aber nicht leiden konnte, um mit ihm für mein Geld in die französische Komödie zu gehen, für die er leidenschaftlich eingenommen war. Kurz, dieser junge Mann übte auf mich eine so mächtige Anziehungskraft aus, und ich wurde so unzertrennlich von ihm, daß selbst die arme Tante darüber vernachlässigt wurde, das heißt, daß ich sie seltener sah, denn meine Liebe zu ihr hat auch nicht einen Augenblick meines Lebens abgenommen.“175

Ein lustiges Trio

In der Gesellschaft des Barons von Thun befand sich auch der schon genannte Klüpfel, der Hofmeister des Prinzen von Sachsen-Gotha.176 Aus Klüpfel, Grimm und Rousseau wurden über die gemeinsame Liebe zur Musik und das gemeinsame Musizieren bald innige Freunde. Grimm schreibt darüber in seinen Lebenserinnerungen: „Herr Klüpfel liebte mit Leidenschaft die Musik; ich war auf dem Cembalo ziemlich stark: er hatte die Manie etwas zusammenzusetzen, und ich führte sein Werk mit einer mutigen Folgsamkeit aus, was ihm eine gewisse Bewunderung abnötigte; aber ich teilte mit ihm die Abneigung für die französische Musik. Dieselbe Sympathie vereinte den Kaplan mit J. J. Rousseau; sie waren dadurch fast unzertrennlich geworden. Ich war häufig mit Klüpfel zusammen; er führte mich überall hin, wo ein gutes Abendessen und ein Cembalo zu finden war. Jeder Mahlzeit folgte ein kleines improvisiertes Konzert. Besonders gut gefiel es ihm bei Herrn Dupin.177

Aus Klüpfel, Rousseau und Grimm sollte bald ein lustiges Trio werden. Der später oft so griesgrämig wirkende Rousseau erzählt in seinen Bekenntnissen von fröhlichen und derben Späßen, die er mit Grimm und Klüpfel in den Tagen ihrer noch jungen Freundschaft erlebte: „Ich habe erwähnt, daß der Prediger Klüpffell liebenswürdig war; meine Verbindung mit ihm war nicht weniger innig als die mit Grimm und nahm einen gleich vertraulichen Charakter an. Beide speisten mitunter bei mir. Diese etwas mehr als einfachen Mahlzeiten wurden durch die feinen und tollen Späße Klüpffells und die drolligen Germanismen Grimms, der noch nicht Purist geworden war, erheitert. Die sinnlichen Genüsse herrschten bei unsern kleinen Orgien nicht vor; aber die Fröhlichkeit gewährte Ersatz, und wir befanden uns zusammen so wohl, daß wir nicht mehr ohne einander sein konnten.“178 Dass Klüpfel nicht gerade einen Lebenswandel führte, der seinem geistlichen Stande entsprach, führte Baron von Thun schon in einem „Klagebrief“ vom 30. Oktober 1748 an die Herzogin Luise Dorothee an. Darin beklagt er sich darüber, dass Klüpfel sehr oft außer Haus sich in der Stadt herumtreibe, sich den Damen zuwende und seine Lektionen mit dem Erbprinzen vernachlässige.179

Als Grimm mit dem Kaplan Klüpfel in Paris unterwegs war, hielt dieser ein Mädchen aus, dass auch seinen Freunden zu Diensten war. Aus Rousseaus’ Erzählung über einen gemeinsamen Wirtshausbesuch der Freunde können wir schließen, dass Grimm dem weiblichen Geschlecht durchaus zugetan war: „Der gute Klüpffell wollte den gefälligen Wirth nicht halb spielen, und wir verweilten alle drei hinter einander mit der armen Kleinen, die nicht wußte, ob sie lachen oder weinen sollte, eine Zeit lang in dem Nebenzimmer. Grimm hat stets behauptet, daß er sie nicht berührt hätte; dann kann er blos, um sich an unserer Ungeduld zu belustigen, so lange mit ihr fortgeblieben sein. Enthielt er sich ihrer wirklich, so ist es schwerlich aus Gewissensbedenken geschehen, da er vor seinem Eintritt bei dem Grafen von Friesen in demselben Stadtviertel Saint-Roche bei Mädchen wohnte.“180

Der aufrichtige Rousseau hat seinen „Fehltritt“ bald nach dem Ausflug mit seinen Freunden seiner Therèse gebeichtet und er tat gut daran, denn am folgenden Tag erzählte Grimm Therèse mit viel Übertreibung von den Schandtaten ihres Mannes und es war sicher kein schöner Zug von ihm, auch noch bei späteren Gelegenheiten immer wieder an die galanten Abenteuer zu erinnern. Doch Rousseaus Gattin schien durch Grimms Betragen mehr gekränkt zu sein als durch die Untreue ihres Mannes.

Rousseau bekannte später, nur zwei Freunde eigener Wahl gehabt zu haben, Grimm und Diderot und über Rousseau fand Grimm auch zu Diderot. In seinen Bekenntnissen schreibt Rousseau: „Ich sorgte für ihre gegenseitige Bekanntschaft; sie gefielen sich und schlossen einen noch engeren Freundschaftsbund unter einander, als sie mit mir unterhielten. Diderot hatte zahllose Bekannte, aber Grimm, der ein Fremdling und erst vor kurzem angekommen war, hatte das Bedürfnis, Bekanntschaften zu machen. Ich verlangte nichts Besseres, als ihm solche zu verschaffen. Hatte ich ihn mit Diderot befreundet, so gewann ich ihm nun auch die Freundschaft Gauffecourts. Ich führte ihn zu Frau von Chenonceaux, zu Frau von Epinay und zu dem Baron von Holbach, mit dem ich fast wider Willen in freundschaftlichem Verkehre stand. Alle meine Freunde wurden die seinigen; das war ja ganz einfach. Aber keiner der seinigen wurde je der meinige, und das war befremdender. Während er bei dem Grafen von Friesen wohnte, lud er uns ziemlich häufig zum Mittagsessen ein, aber nie habe ich irgend ein Zeichen von Freundschaft oder Wohlwollen vom Grafen von Friesen oder vom Grafen von Schomberg, seinem Verwandten und einem sehr vertrauten Freunde Grimms, oder von irgend einer Person, sei es von Männern oder Frauen, mit denen Grimm durch jener Vermittlung verkehrte, erhalten.“

Das sind die Worte eines enttäuschten Liebhabers, der viel gab und der, wie er selbst meinte, wenig zurückbekam. Als Rousseau seine Erlebnisse mit Grimm niederschrieb, waren die beiden Männer schon dreizehn Jahre keine Freunde mehr. Rousseau erlebte in seinen späten Jahren die Welt oft als „ein Werk der Finsternis“ und sah in seinen ehemaligen Freunden Verräter. Seine innerlich zerrissene Persönlichkeit trübte seine Wahrnehmung und machte es den Freunden schwer sich ihm zu nähern. Die Beschreibung seiner Freunde in den Bekenntnissen dürfte alles in allem aber nicht ganz unzutreffend gewesen sein. Das Porträt, das Rousseau von Grimm entwirft, zeichnet eine Entwicklung nach, die Grimms Charakterzüge am Ende in einem eher ungünstigen Licht erscheinen lassen. Dass sich eine Person mit ihren Aufgaben im Laufe der Zeit verändert, ist eine Binsenweisheit. Rousseau aber stellt rückblickend fest, dass er von Anfang an Zweifel an der Charakterstärke seines Freundes Grimm hatte und sich nur aufgrund seiner eigenen Naivität täuschen ließ. Schon bei der ersten Begegnung findet Rousseau nichts Beindruckendes an Grimm, die beiden finden erst über das gemeinsame Musizieren zueinander. Musik ist Rousseaus Leidenschaft und das trübt vermutlich seinen anfänglich kritischen Blick auf den Mitspieler. Mit Klüpfel „ziehen sie um die Häuser“, ein Spaß, der zeitweise auf kumpelhafte Art verbindet. Mit dem gesellschaftlichen Aufstieg Grimms, mit der steigenden Aufmerksamkeit für ihn in den Salons, mit der wachsenden Selbstsicherheit im Auftreten aber, wird Grimm für Rousseau zum Konkurrenten, der ihm die „Schau stehlen“ kann. In dem Maße wie Grimm an Statur gewinnt und zum engsten Freund Diderots wird, steigt bei Rousseau die Eifersucht und er entdeckt in Grimm den ehrgeizigen Emporkömmling, der kühl und berechnend, unbarmherzig, herrisch und unersättlich seine Ziele verfolgt. Für Diderot dagegen bewahrte sich Rousseau trotz starker Differenzen bis in seine späten Jahre ein Gefühl der Freundschaft. „Ganz anders war es mit Grimm, einem seinem Charakter nach falschen Menschen, der mich nie liebte, der nicht einmal der Liebe fähig ist und der aus reiner Lust, ohne jeden Grund zur Klage, allein, um seine schwarze Eifersucht zu befriedigen, insgeheim mein grausamster Verleumder gewesen ist. Dieser ist für mich nichts mehr... .“181 Rousseaus hartes Urteil über Grimm muss aber vor dem Hintergrund seiner eigenen schwierigen Biographie gesehen werden. Zu Beginn der 1750er Jahre war von diesen dunklen Wolken aber noch nichts zu sehen.

Grimm trifft Diderot – eine Freundschaft fürs Leben

Für Grimm aber sollte Diderot zum wichtigsten Bezugspunkt werden. Grimm hat Diderot, mit dem ihn bis zu dessen Lebensende eine große Freundschaft verbinden sollte, nach dessen dreieinhalbmonatiger Inhaftierung in der Festung Vincennes kennengelernt. Rousseau hatte ihn dort mehrfach besucht und auf einem seiner Fußmärsche zum Gefängnis seine „Bekehrung von Vincennes“ erlebt.182 Rousseau hat Grimm mit Diderot bekannt gemacht und war selbst bald eifersüchtig auf die in seinen Augen allzu herzliche Freundschaft zwischen Grimm und Diderot. Grimm, Diderot und Rousseau verband zunächst mehr als Sympathie, sie hatten gemeinsame Interessen, liebten alle drei die Musik, beherrschten unterschiedlich gut ihre Theorie, ließen den jeweils anderen an eigenen Arbeitsplänen teilhaben, sie diskutierten, fragten einander um Rat und zogen Gewinn aus ihrer Beziehung.

Aber wie unterschiedlich waren doch die neuen Freunde Diderot und Rousseau, die Grimm gleich zu Anfang seiner Pariser Zeit zu seinem Glück für die eigene Karriere kennenlernen durfte. Als heimlicher Beobachter hätte man die drei in einem Pariser Salon gut unterscheiden können. Grimm, der sich schnell an die Pariser Verhältnisse anzupassen verstand, müssen wir uns als einen korrekt auftretenden jungen Herrn mit sicherem Geschmack und nach der Mode der Zeit gekleidet vorstellen. Diderot dagegen „war ein überschwenglicher großer Kerl, der seine Schüchternheit mit Frechheit und Angeberei übertünchte; er sprach laut und viel und gestenreich, war draufgängerisch und feurig bis hin zur Taktlosigkeit, hatte eine offene Hand und ein offenes Herz.“183 Rousseau wirkte dagegen etwas verkrampft, zeigte wenig Selbstsicherheit und brachte nicht selten zum Ausdruck, dass er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte. Er suchte die Gesellschaft und floh vor ihr. Er war, wie Grimm zu Beginn seiner Pariser Zeit, darauf erpicht Bekanntschaften zu machen und Beziehungen einzugehen, die ihm den Zugang zur Gesellschaft erlaubten. Zugleich aber, und darin unterschied er sich von Grimm, war er stets darauf bedacht, einen Gegenpol zu schaffen. „Er wollte“, wie es Lepape, der Biograph Diderots beschreibt, „dass man ihn gern hatte, ohne dass er sich zu sehr preisgab; er wollte gefallen, sich dabei aber das Recht bewahren zu streiten; er wollte glänzen und sich dabei doch bedeckt halten.“184

Grimm gab sich in Gesellschaft charmant, zeigte sich verbindlich im Gespräch, war hellhörig nach allen Seiten und stets auf seinen Vorteil bedacht. Noch war es ihm nicht möglich eine unabhängige Rolle zu spielen, noch stand er in der Abhängigkeit großzügiger Gönner. Diderot dagegen „hatte zahlreiche Bekannte“, wie wir in Rousseaus Erinnerungen lesen können. Und so wirkte er denn auch, offen nach allen Seiten, neugierig und stets mit dem Herzen bei der Sache. Rousseau dagegen kannte, das unterschied ihn sowohl von Grimm als auch von Diderot, keinerlei Distanz zum eigenen Werk, seine Lehren hatten unangefochten zu gelten. Diderot wiederum war oft schon vom eigenen Geistesblitz irritiert. Man kann sich ihn als einen Mann vorstellen, der stets gute Laune hat und Rousseau als einen Mann, der stets mit sich und der Welt im Streit liegt.

Enzensberger hat seinen Liebling, den „Entertainer“ der franz. Aufklärung, treffend geschildert. In seinem Stück „Der Menschenfreund“, eine Komödie, die die gleichnamige Komödie von Diderot zum Vorbild hat, schildert uns Enzensberger einen einzigen Tag aus dem Leben seines Lieblingsschriftstellers. Diderot ist 52 Jahre jung und lässt es sich auf dem Landsitz einer adligen Freundin gutgehen. Die Freundin wünscht sich ein Geburtstagsständchen aus der Feder ihres Besuchers. Aber Diderot kommt nicht zum Schreiben. Pausenlos rücken ihm Personen auf den Pelz, die Enzensberger verschiedenen Produktionen Diderots entliehen hat, unter ihnen auch Jacques, der Fatalist. Alle suchen bei Diderot, dem Menschenfreund, Rat und Lösung ihrer Konflikte und Diderot rät ihnen mit Vergnügen. Einem Liebhaber verhilft er mittels eines gefälschten Briefes zu seiner Geliebten; einer Kapitänswitwe zur Rente für ihren Sohn; einem zweitklassigen Literaten zu einem erstklassigen Stück... Im Porträt Enzensbergers, der ähnliches Temperament zeigt wie Diderot, wird ein so gescheiter wie amüsanter, charmanter wie eloquenter Charakter lebendig, nur ein Charakterzug fehlt bei Enzensberger: „Als Diderot in seiner Enyklopädie an den „St.-Bartholomäus-Tag“ geriet, hörte er nach der Notiz „Massaker an mehreren tausend Menschen“ mit seinen gescheiten Einlassungen auf: „’Ich habe nicht die Kraft, mehr darüber zu sagen.’ Denn wie alle großen Satiriker schöpfte auch Denis Diderot seine Inspirationen zuweilen aus der Traurigkeit.“185

Grimm bedient sich des „Salons“

Grimm wäre ohne seine einflussreichen Freunde kaum so schnell in den Kreis aufgeklärter Adeliger und Großstadtintellektueller gekommen, wenn er sich nicht einer Einrichtung hätte bedienen können, die der Repräsentanz des Adels in Paris geschuldet war, dem Salon186. Wer in den Pariser Salons ein- und ausging, war im Gespräch und konnte mit einigem Geschick das Gespräch auch steuern und für sich mit Gewinn ausbeuten. Hier konnte jemand Erfolg haben, der geistvoll sprechen und sich galant zu benehmen wusste. Anders als bei Hofe musste man im Salon nicht von Adel sein und auch Vermögen war nicht unbedingt erforderlich, um hier eine Rolle spielen zu können. Der Abbé Galiani, der zuviel Geist besaß um im Hofleben, das er gründlich kannte, aufzugehen, wurde von der klugen Frau des Genfer Finanzmannes Jacques Necker mit den Worten bedacht: „Der Abbé Galiani wird nicht bei Hof reüssieren: er denkt zu hoch und spricht zu niedrig.187

In den Salons von Paris traf man die Schöngeister der Gesellschaft und die Führer der Literatur mit deren Freundinnen, Frau von Epinay und Julie von Lespinasse. Der schon genannte Galiani speiste am Donnerstag bei dem deutschen Baron Holbach, am Freitag traf man sich bei Helvétius und tafelte anschließend vielleicht bei Madame Necker. Wer dann noch das Bedürfnis hatte, die Mahlzeiten in anspruchsvoller Gesellschaft zu verdauen, fand im Salon der Julie de Lespinasse, die mit d’Alembert unter einem Dach wohnte, einen anregenden Gesprächskreis. Hier konnte dann der heilige Krieg der Vernunft gegen alles Unvernünftige gefochten werden. An anderen Tagen konnte man Galiani, der sich schon bald zu den Freunden Grimms zählte, bei der Meisterin vollendeter Salonkultur, bei der gewandten Bourgeoise Madame Geoffrin treffen. Im Sommer weilten er und natürlich auch Grimm, mit dem Galiani bald die vertrautesten Beziehungen pflegte, zuweilen in dem schönen Schloss Grand-Val, bei der Schwiegermutter Holbachs. Und auch Grimm selbst lud ein: allwöchentlich versammelten sich bei ihm im Hause des Grafen Friesen die französischen Literaten zum diner de garcon.188 Dazu Grimms Biograph Edmond Scherer: „Grimm gab einmal pro Woche in seiner Wohnung im Hause Friesens ein „Herrenessen“, an dem Diderot, Rousseau, Helvétius und Marmontel teilnahmen; dort herrschte stets, wie Marmontel sich ausdrückte, ein sehr liberales Klima.189

Die Pariser Salons empfingen ihr eigentümliches Gepräge vom Geist und Charakter der Frauen, sie bildeten den personellen Mittelpunkt. So viele berühmte und weniger berühmte Männer sich in einem Salon tummeln mochten, sie waren immer nur Gäste und Geladene einer Dame, einer Salonière. Besondere Erwähnung finden bei Friedrich Melchior Grimm die Salonièren Madame Geoffrin und Mademoiselle Lespinasse. Er setzte ihnen in seiner Correspondance littéraire ein würdiges Denkmal. Nach dem Tode Madame Geoffrins schrieb er: „Wohl niemand in mäßigen Vermögensumständen und von privatem Stande hat so viel Anspruch auf einen Platz im Gedächtnis der Gesellschaft wie Frau Geoffrin; trotzdem wurde sie, kaum von der Bühne des Lebens abgetreten, vergessen. Ohne die Huldigung, die kürzlich drei Schriftsteller ihrem Gedenken darbrachten, hätte das Leben dieser einzigartigen und verehrungswürdigen Frau schon keine Spur mehr hinterlassen; denn es ist nur zu wahr: Was wir die ‚Gesellschaft’ nennen, ist das oberflächlichste, Undankbarste und Leichtfertigste, was es auf Erden gibt.“190

Mit dieser Einlassung tritt uns Grimm als kritischer Beobachter der Salonkultur gegenüber, der an der Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit des Salons auch Anstoß nahm. In seinem Beitrag zu Mademoiselle Lespinasse erfahren wir etwas über die Qualitäten einer guten Salonière: „Nie war jemand ein begabterer Gesellschafter. Sie beherrschte in höchstem Grade die so schwere und edle Kunst, den Geist der anderen zur Geltung zu bringen, ihn scheinbar zwang- und mühelos zu beteiligen und aufzubieten. Sie verstand es, die verschiedensten, ja manchmal die gegensätzlichsten Geister miteinander auszusöhnen. Anscheinend ohne alle Mühe, nur durch ein geschickt eingeworfenes Wort hielt sie die Unterhaltung in Fluss, belebte und wechselte sie nach Belieben. Es gab nichts, das ihre Fassungskraft zu übersteigen schien, nichts, das ihr nicht gefallen und das sie den anderen nicht angenehm zu machen gewusst hätte; Politik, Religion, Philosophie, Geschichten, Neuigkeiten, nichts war aus ihren Unterhaltungen verbannt.“191

Bei gleichen Besuchern konnten sich die Salons je nach Saloniére stark voneinander unterscheiden. Die Salons verhielten sich zuweilen auch wie feindliche Gegensätze und die Mitglieder des einen Kreises waren manchmal von dem anderen ausgeschlossen.192 Rousseau, der zu Beginn seiner Pariser Zeit noch auf Ruhm und Reichtum hoffte, versank zuweilen in Lethargie, wenn er vor den verschlossenen Türen der möglichen Mäzene stand. Der Jesuitenpater Castel riet ihm, sich an die Frauen zu wenden, nur durch Frauen sei in Paris etwas zu erreichen; sie „gleichen den Kurven, deren Asymptoten die Weltweisen sind“. Rousseau nahm sich den Rat des Jesuitenpaters zu Herzen und versuchte sein Glück über den Einfluss der führenden Salondamen zu machen. Folgendes Einführungskarussel ergab sich: 1742 führte ihn Pater Castel bei der Marquise von Broglie ein; 1743 führte ihn die Marquiese von Broglie bei der Frau des Generalsteuerpächters von Dupin ein; 1744 führte ihn Herr von Gauffecourt bei der Frau des Generalsteuerpächters de la Poplinière ein; 1747 führte ihn der Obersteuereinnehmer Francueil bei der Frau des Generalsteuerpächters von Epinay ein.193

Die Salons und gelehrten Gesellschaften waren die Gar- und Probierküchen der Ideenschmiede Paris. Hier konnte meist ohne Hemmung und Scheu vor der Zensur erprobt und diskutiert werden, was später zu einer Flugschrift, einer Satire, einem Theaterstück oder einer wissenschaftlichen Abhandlung werden konnte. Werfen wir einmal einen Blick auf die Salonbesucher. Wir finden hier in wechselnder Zusammensetzung Gelehrte, Künstler, Literaten und Politiker und zwischen ihnen die Salonière, die klug und vermittelnd wie eine geschickte „Talkmasterin“ das Gespräch am Laufen hält. Begeben wir uns in das Jahr 1753, Grimm ist jetzt 30 Jahre alt und schon zu einem Mann von Welt herangereift, er weiß sich auch auf dem Parkett der eitlen Welt zu bewegen. Man findet ihn zusammen mit seinem Freund Diderot des Öfteren im Salon des deutschstämmigen Baron Paul-Henry Thierrry d’Holbach, der genauso alt ist wie Grimm. Holbach ist seit kurzem Mitarbeiter von Diderot, mit dem er das Interesse an der Musik teilt. Der Baron erweist sich stets als ein generöser Gastgeber, der seinen Gästen edle Speisen und auserlesene Weine kredenzt, daneben wird aber auch geistige Nahrung serviert, und das ist der eigentliche Hauptzweck der Zusammenkünfte. Holbach ist wie Helvétius ein Vertreter des atheistischen Materialismus. Darüber lässt sich natürlich trefflich streiten. Holbachs Philosophenrunde gilt als „Zitadelle der Enzyklopädisten“, häufig stellen sich auch ausländische Gäste ein, die gerade in Paris weilen, David Hume schaute vorbei und vermutlich auch Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der USA. Die „Zitadelle“ entwickelte sich zum Zentrum der radikalen Aufklärung im vorrevolutionären Frankreich, hier wurde ohne Tabus über die Ideen der neuen Zeit diskutiert, hier kamen neue Sichtweisen von Gott und der Welt zur Sprache. Im Salon war die „Republik des Geistes194 etabliert.

Schon im 17. Jahrhundert war die Kunst der Konversation in den Pariser Salons perfektioniert worden. In den eleganten Kreisen war sie nun überall Vorbild für den Small Talk. Wie in den Kaffeehäusern konnte im Salon frei und kunstvoll parliert werden und was für die Kaffeehäuser galt, traf auch auf die Salons zu: sie waren „Klatschuniversitäten“. Sie wurden im 18. Jahrhundert zur intellektuellen Drehscheibe aufgewertet und fanden Nachahmung in vielen anderen Hauptstädten Europas. Bei den Mmes Geoffrin, Dupin, Lespinasse oder d’Épinay sprachen führende Poeten mit Enzyklopädisten; spätere Revolutionäre hörten den Philosophen zu und machten sich schon ihre eigenen Gedanken. Der Salon war gleichsam ein Übungsfeld für ein öffentliches Räsonnement. Jürgen Habermas hat in seiner Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ Kaffeehäuser und Salons zu den Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit gezählt.195 Habermas vertrat in seiner Studie die bestechende These, dass die vernunftbetonte Diskussionskultur des kunstinteressierten Publikums als „literarische Vorform der politisch fungierenden Öffentlichkeit“ anzusehen sei. Aus anderer Perspektive unterstützt Koselleck diese Sichtweise, wenn er in seiner Untersuchung „Kritik und Krise196zur Funktion des Salons schreibt: „Die Aufklärung nimmt ihren Siegeszug im gleichen Maße als sie den privaten Innenraum zur Öffentlichkeit ausweitet.“

Die Kombination aus Gedrucktem, Gesprächen und Kaffee ließ überall in Europa eine starke neue Macht aufsteigen: die öffentliche Meinung – und die öffentliche Meinung wurde in allen großen Städten zunehmend radikal. Werfen wir nun aber einen Blick auf den „Innenraum“ des Salons, der für die Entstehungsgeschichte einer öffentlichen Meinung von so zentraler Bedeutung wurde.

Im Mittelpunkt des Gesprächskreises können wir uns ganz nach einem Gemälde von Jean Hubert als zentrale Gestalten Voltaire oder Diderot vorstellen. Es muss in diesen Runden mitunter sehr lebhaft zugegangen sein. Der Diskussionsstil von Diderot beispielsweise soll nach Aussage von Zeitgenossen mitreißend und zupackend gewesen sein. Er redet „wie ein Sokrates“ und spricht mit „leuchtendem Gesicht“. Der Politiker Charles Brosses197 beschreibt ihn als ein menschliches Feuerwerk, das nicht enden will, ständig schweife er in Exkurse ab und Francois Marmontel, ebenfalls ein häufiger Besucher der Salons, meinte: „Wer Diderot nur aus seinen Schriften kannte, hat ihn nicht gekannt.198

Grimms Kritik am Salonleben

Auch Grimm war zunächst ein eifriger Besucher der Salons, er verkehrte gern bei Madame Geoffrin und war häufig bei Mademoiselle de Lespinasse und Madame Necker zu sehen. Bei seinen Freunden Helvétius und Holbach ging er ein und aus und bei Madame d’Épinay fungierte er gewissermaßen als Hausherr. Trotzdem war Grimm kein Freund des Salonlebens, so sehr er selbst auch davon zu profitieren verstand. Ihm waren die Oberflächlichkeit und die Eitelkeit, das tändelnde Wesen, das von dem Verkehr in den Salons nicht zu trennen war, zuwider. Er glaubte nicht an die so oft gerühmten Vorteile des Verkehrs zwischen Literaten und Weltleuten, wie ihn der Salon angeblich mit sich brachte. Für Grimm vergeudete das „Genie“, das von Natur „soltaire et sauvage“ sei, hier nur seine Zeit. Es verliere durch die fortwährende Berührung mit den Durchschnittsmenschen von seinem originellen Charakter. Wissenschaft, so Grimm, könne unter unausgesetzter Zerstreung nicht gedeihen. Wertvolle und umfassende Werke müssten hier unvollkommenen Broschüren weichen. Je ausgeprägter der esprit de société sei, um so seltener werde der esprit de génie sein, der dem Leben eines Landes und seinem Spiegelbilde in der Literatur erst Wesen und Bedeutung gebe:199 In der Juniausgabe der Correspondance littéraire zitiert Grimm eine Argumentationslinie des Abbé Prévost, um seine Sicht der Dinge zu verdeutlichen: ... „dans un pays ou l’on se communique peu, ou les femmes, sans lesquelles il n’y a point de société, ont vécu longtemps dans uns espèce de cloture, et sont encore asservies a beaucoup de réserve, que reste-t-il a peindre, sinon des ridicules généraux ou des vices de profession? Fonds stérile, en comparaison de cette multitude de caractères que l’usage habituel d’une société vivifiée par la présence des deux sexes fournit avec autant de variété que d’abondance aux vrais peintres de moeurs...“ Grimm ergänzt und führt aus: „Voila de grands inconvénients de la société, car il ne faut pas douter que cette politesse, cette timidité de génie, cette excessive délicatesse, ne doivent leur origine qu’a notre usage de passer notre vie en socièté, dans les cercles, dans un commerce perpétuel, etc.“200

Fünfzig Jahre später verlieh Madame de Stael in ihrem Buch De l’Allemagne diesen Gedanken noch stärkeren Ausdruck, als sie ihren Landsleuten die starken, individualistischen Persönlichkeiten Deutschlands vor Augen führte. Die Deutschen würden sich, so Stael, eher mit sich selbst beschäftigen, statt ihre Zeit in den Salons zu verschwenden.201 Grimm, der französischste unter den Deutschen in Paris, zeigte mit seiner Kritik am Salonleben, wie sehr er doch vom Charakter her, Deutscher geblieben war. Dabei hatte Grimm im Salon zunächst ein Verhaltensideal des intellektuellen Austausches gesehen, das sich ausdrücklich auf die Kunst der mondänen Konversation und den Regelkatalog der honneteté bezog.202 Er schätzte im Salon die „Ebenbürtigkeit des Tons“, die gegenseitige Anerkennung und Rücksichtnahme der Beteiligten. Das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Meinungen und Ideen konnte zur Wahrheitsfindung beitragen, ohne die Bande der Geselligkeit zu zerreißen. Ein solches Kommunikationsverhalten konnte nach Grimm auch Vorbildcharakter für eine schriftliche Auseinandersetzung unter Gelehrten haben. Doch der Salon war, wie Grimm bald erkannte, nur mit Einschränkung als Ort der freien Meinungsäußerung zu sehen. Wenn es konfliktfrei zugehen sollte (complaisance), war offene Kritik fehl am Platze. Im Salon herrrschte die disziplinierende Vernunft der Salonière, die als geschickte „Talkmasterin“ allzu schrillen Töne zu unterbinden verstand. So charakterisierte Grimm den Salon von Mme Geoffrin in seinem satirischen „Sermon philosophique“ folgendermaßen: „Mutter Geoffrin teilt mit, sie erneuere die Schutz- und Verbotsvorschriften der vergangenen Jahre, und es sei nach wie vor bei ihr nicht gestattet, von inneren und äußeren Angelgenheiten zu sprechen, desgleichen nicht von Dingen, die sich am Hofe, in der Stadt, in Nord oder Süd, Ost oder West zutragen, und ebensowenig von solchen der Politik, der Finanzen, des Friedens, des Krieges, der Religion, Regierung, Theologie, Metaphysik, Grammatik, Musik, ja über gar kein Thema, und sie beauftrage Ehrwürden Burigny, weltlichen Benediktiner, wegen seiner bekannten Geschicklichkeit und des großen Vertrauens, das er genießt, jeden zum Schweigen zu bringen und allen ihren besonderen Groll zu verheißen, die eins dieser Verbote übertreten. Die Gemeinde verspricht im Hinblick darauf, dass das Schweigen, namentlich über die in Rede stehenden Themen, ohnehin nicht ihre Stärke ist, insoweit zu gehorchen, wie sie mit Gewalt dazu gezwungen wird.“203

Dieses satirisch vorgebrachte „Redeverbot“ entsprach ganz und gar nicht Grimms Vorstellungen einer intellektuellen Kommunikation. Er ersetzte daher das Postulat der gegenseitigen Rücksichtnahme durch das Ideal der gegenseitigen ethischen Verpflichtung aller Diskussionsteilnehmer, eigene Fehler zuzugeben: „Ein Fehler ist kein Unrecht mehr, sobald er als solcher erkannt wird. Ein Geständnis kann Schaden und Demütigung verhindern und zur Auflösung des Problems führen.“204 Übertragen auf die Correspondance littéraire bedeutet das: Kritische Äußerungen werden unter dem Vorbehalt des möglichen Fehlurteils ausgesprochen und dürfen den Kritisierten nicht verletzen.205 Die strengen Regeln der Schicklichkeit und Wohlanständigkeit, die geforderte Salon-Soziabilität stehen bei Grimm einem schrankenlosen und offenen Gedankenaustausch im Wege, von daher ist der Vorbildcharakter des Salons für eine kritische Öffentlichkeit in Zweifel zu ziehen. Was ursprünglich als esprit de la société begrüßt wurde, gerät bald in Verdacht, der Gleichmacherei und der Unterdrückung von Individualität zu dienen. Dies zu sehen, fiel Grimm vielleicht leichter als so manchem „Insider“; er ist ja zunächst der „Fremde“, der in die Pariser Gesellschaft gerät und sich den Blick eines distanzierten „philosophe solitaire“ bewahrt hat: „Ich gehe mal von einem einsamen Philosophen aus, der sich, nachdem er zutiefst über die menschliche Natur und über die Fähigkeiten unseres Körpers und unseres Geistes nachgedacht hat, in die Pariser Kreise versetzt sieht: er wäre in den ersten Tagen sehr verwirrt und sehr verlegen. Er fände es nicht leicht zu unterscheiden, ob er es mit Menschen seinesgleichen oder mit Narren zu tun habe. Reden und urteilen sie alle über das Gleiche? Und wie kann man das Geistvolle vom kalten und leeren Jargon unterscheiden?206

Grimm setzt auf den sokratischen Dialog, er erscheint ihm als ideale Alternative zur mondänen Geselligkeit des Salons.207 Mit dieser Methode lässt sich die intellektuelle Kommunikation auffrischen und mit Diderot präsentiert Grimm in seiner Correspondance littéraire den Protagonisten eines echten sokratischen Dialogs.208 Freilich bevorzugt Grimm hier nicht die mündliche Auseinandersetzung, sondern die mit der Schreibfeder. Mag der mündliche Dialog für Anregung und kurzweilige Unterhaltung sorgen, so taugt er doch nicht für die ernsthafte Auseinandersetzung; erst das geschriebene Wort erscheint ihm reflexions- und kritikwürdig. Anhand von d’Alemberts Publikation „Mélanges de littérature, d’histoire et de philosophie“ kann Grimm auf die verschiedenen Geltungsansprüche von gesprochener und geschriebener Sprache hinweisen und damit seine eigene Tätigkeit als Korrespondent herausstellen: „Ein großer Teil dieser Beabachtungen taugt vielleicht für ein Gespräch am Kamin, in Wahrheit aber sind diese Mitteilungen es nicht wert, gedruckt zu werden.209

Die Männer der Aufklärung

Melchior Grimm und seinen Freund Diderot können wir nicht nur bei den Holbachs treffen. Die Salonière Marie Thérèse Rodet Geoffrin organisierte in ihrem Haus im Hotel de la rue Saint-Honoré zweimal pro Woche einen ebenfalls berühmten und gut besuchten Salon. Zu ihren Gästen zählten regelmäßig Jean-Francois Marmontel, Baron de Montesquieu und natürlich Denis Diderot, Melchior Grimm, Voltaire und d’Alembert. Madame Geoffrin zählte sicherlich zu den geistreichsten Frauen des 18. Jahrhunderts. Alle genannten Geistesgrößen konnte man natürlich mit Ausnahmen auch im Salon von Madame Helvétius treffen und die Liste der Besucher lässt sich gleich um ein paar berühmte Namen ergänzen. U. a. fanden sich ein: der Naturforscher Buffon, der Philosoph und Logiker Abbé Condillac, der Schriftsteller Gouillaume Thomas Francois Raynal, der Mathematiker Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, der Anwalt und Politiker Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes, der Schriftsteller, Historiker und Enzyklopädist Charles Pinot Duclos, der Philosoph Paul Henry Thiry d’Holbach und der Schriftsteller Bernard le Bovier de Fontenelle, um nur einige zu nennen.

Der dreißigjährige Grimm zählte im Jahr 1753 in diesen Gesellschaften zu den jüngeren Besuchern, der Großteil war zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt, einige wenige wie Fontenelle oder Voltaire waren deutlich älter. Bei den Salondamen zählten Madame Geoffrin, Madame Dupin und Madame du Deffand zu den älteren, die jungen Nachfolgerinnen, von den älteren nicht selten vorher angelernt, Louise d’Epinay, Anne-Catherin de Ligniville Helvétius, Suzanne Curchod (Necker) und Julie de Lespinasse waren zu Grimms Anfangszeit in Paris alle jünger als dreißig Jahre. Zugang erhielt man zu den Gesprächskreisen und Salons über die Vermittlung von Freunden oder man war durch eine geistvolle Produktion selbst zu einer Person geworden, deren Besuch einem Salon zur Ehre gereichen konnte. Beide Zugangsvoraussetzungen konnte Grimm Anfang der 1750er Jahre erfüllen. Grimm hatte gelernt, sich in Gesellschaft zu bewegen. Er hatte im Umfeld des Grafen von Friesen ein elegantes Französisch erworben, er beherrschte nun sowohl die Kunst der Unterhaltung als auch die dazu passende Körperhaltung. Er wusste, wie man im Garten lustwandelt, einen Raum betritt, sich zu Tisch setzt, ein Glas erhebt oder den Tee nimmt. Er verstand es, mit raffiniert dosiertem Witz Gelächter hervorzurufen und mit geistvollen Bemerkungen das Gespräch zu befeuern. Wichtiger aber für seine Stellung unter den Aufklärern war seine kritische Einmischung und aktive Beteiligung am Pariser Kulturbetrieb.

Ludwig Harig hat in seinem Rousseau-Buch eine wunderbare und fein pointierte und satirische Kennzeichnung der wichtigen Männer, die man fast alle zu den „Enzyklopädisten“ um Diderot zählen kann, geliefert: Die gelehrte Runde hat sich im Salon von Mme Dupin zum Abendessen eingefunden. Da finden wir die „dreizehn Weisen“, die die ganze Welt in ihrem Kopf hatten. Sie hatten es sich „fest vorgenommen, diese Welt in ihrem Kopf aufzuschreiben, damit die anderen Menschen nachlesen konnten, was es alles in der Welt gab und was in der Welt vorkam. Graf von Buffon war ein Naturalist, und so kannte er die ganze Naturgeschichte. Baron von Montesquieu war ein Rechtsgelehrter, und so kannte er den Geist der Gesetze. Baron von Holbach war ein Atheist, und so konnte er beweisen, dass es Gott nicht gab. Baron von Turgot war ein Volkswirtschaftler, und so kannte er sich in der Steuergesetzgebung aus. Der Chevalier von Jaucourt war ein Geograph, und so kannte er die Länder der Erde. Herr von Voltaire war ein Geschichtsphilosoph, und so wusste er Bescheid über den Glückswechsel der menschlichen Bemühungen. Herr von Condillac war ein Sensualist, und so kannte er wie kein zweiter die Beschaffenheit des menschlichen Ohres. Jean le Rond d’Alembert war ein Mathematiker, und so beherrschte er die analytische Geometrie. Denis Diderot war ein Pantheist, und so schlug er die Brücke zur heimlichen Religion der Deutschen. Jean-Francois Marmontel war ein Schriftsteller, und so kannte er die Gesetze der Dichtkunst. Claude-Adrien Helvétius war ein Materialist, und so bewies er, dass der Mensch eine Maschine ist. Baron von Grimm war ein Kritiker, und so steckte er seine Nase in die Naturgeschichte, in die Gesetze, in die Religion, in die Physiologie, in die Mathematik, in die Physik, in die Schriftstellerei und in die Musik hinein und konnte alles beweisen. Jean-Jacques Rousseau aber war ein Mensch, er konnte gar nichts beherrschen und auch nichts beweisen, er hatte alles im Gefühl.“210

Grimm liebte die Gesellschaft, er war am Anfang seiner Karriere alles andere als ein gelehrter Stubenhocker, er nahm auf, was ihm Paris (la dissipation de Paris) zu bieten hatte, es gab viel an Zerstreuung, manchmal so viel, dass wichtige Post liegen bleiben musste und es muss an dieser Stelle auch daran erinnert werden, dass Grimm am Anfang der 1750er Jahre noch mit seinem ehemaligen Lehrer Gottsched in regem Briefkontakt stand. Für den rührigen Grimm war daher die Einleitung eines Briefes an Gottsched fast eine Standardeinleitung: „Il y un siecle, Monsieur, que je me propose d’avoir l’honneur de repondre à votre derniere. Mes destractions, un genre de dissipation dont on ne se garantit jamais bien à Paris, cent mille autres raisons toutes aussi mauvaises sont cause d’un silence que je me reproche tous les jours deux fois regulierement en me levant et en me couchant.“211

Grimm gewinnt an Profil

Aber Grimm gibt sich nicht der Zerstreuung hin, er ist nicht untätig und er gewinnt zunehmend an Profil. Er hört sich um, nimmt auf, verarbeitet und gibt preis, was die franz. Kulturszene zu bieten hat. Und er bleibt nicht in der Rolle des Berichterstatters er wird vielmehr selbst zum aktiven Teilnehmer der Diskussion, er gibt Kommentare ab, mischt sich ein, ergreift Partei und tritt mit eigenen Beiträgen ans Licht der Öffentlichkeit. Grimm scheint nun endlich seine Rolle als Kulturvermittler, Kritiker und Botschafter der Kulturen gefunden zu haben. Geschickt und schnell hat er es verstanden sich an die Verhältnisse in der Kulturmetropole Europas anzupassen und er zeigt dabei Urteilsvermögen und kritischen Sachverstand – bewundernswert bei einem Mann, der gerade einmal 28 Jahre alt ist. Schon bald erscheinen von ihm im Mercure de France Artikel über die deutsche Literatur.212 Er unterrichtete die Leser der Zeitschrift über Luther und die zeitgenössische deutsche Literatur. Mit diesen Berichten begann ein grenzüberschreitender Kulturaustausch größeren Stils. Grimm kann seinem Freund Gottsched nicht ohne Stolz berichten, dass dieser in Frankreich lobende Erwähnung findet.213 Im Mercure wird 1753 Gottscheds inzwischen übersetzte Grammatik besprochen. Dass Grimm daran seinen Anteil hat, wird selbstverständlich erwähnt. Grimm zitiert aus dem Artikel in seinem Brief an Gottsched vom 23. Juni 1753: „Herr Gottsched, berühmt in Deutschland für den guten Literaturgeschmack, den er dort verbreitet hat, und in Frankreich durch die Lobreden, die ihm ein sehr geistvoller Mann gewidmet hat, der nur die lobenswerten Leute lobt und der sie gut lobt, ist der Autor der Grammatik, die wir ankündigen. Wir haben darin die Klarheit, Ordnung und Logik gefunden, die man sich oft vergeblich in Werken dieser Art wünscht. Sie sehen, Monsieur, daß in diesem Lob ein Strahl Ihres Ruhms auch auf mich gefallen ist, ich empfinde darüber den größtmöglichen Stolz.“214

Grimm bittet seinen Briefpartner Gottsched aber auch um „ein bisschen mehr Freundschaft für meine Franzosen“.215 Abfällige Bemerkungen in deutschen Zeitschriften zu Rameau, Diderot und Voltaire finden bei Grimm wenig Beifall. Besonders ärgert ihn, wie man in Deutschland auf Diderots „Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ eingeht.216 Und Grimm vergisst auch nicht, etwas angeberisch zu erwähnen, dass er selbst schon zu den Pariser Gelehrten gehört, denen man Respekt zollen sollte: „Wenigstens sollte es mir, da ich mit allen hiesigen Gelehrten in genauer Freundschaft stehe und unter andern mit der Familie des Herrn Voltaire, sollte es mir wohl leid thun, wenn man erführe daß Ew Magnificenz so scharf mit der Nation verfahren.“217

Grimm beteiligt seinen Briefpartner auch an den Diskussionen der Pariser Kulturszene, berichtet über Rousseaus Beiträge zum „Discous sur les Scienses et les Arts218 und macht auf den Wirbel aufmerksam, den Rousseau mit seiner Abhandlung über die Wissenschaften und die Kunst ausgelöst hatte. Mit einer Satire greift Grimm die Auseinandersetzungen um die französische Musik auf. Im Mercure hatte er auf eine anonyme Replik der Oper Omphale von Destouches geantwortet, diesem Beitrag folgte die Publikation der Satire „Le Petit Prophète de Böhmischbroda“.

Grimm macht sich bekannt

Grimms Auseinandersetzung mit der Oper sollte ihn schlagartig bekannt machen. Mit seinem „Lettre de M. Grimm sur Omphale“ stieg er öffentlichkeitswirksam in die Auseinandersetzungen um die französische Oper ein, eine Auseinandersetzung, die schon lange das französische Musikleben bestimmte. Die Oper Omphale, die schon zu Beginn des Jahrhunderts auf die Bühne gebracht, öfter wiederholt und am 14. Januar 1752 unter allgemeinem Beifall der Pariser neuerlich gegeben wurde, bot Grimm den Einstieg in die Musikszene. Den Text der Oper hatte La Motte verfasst und die Musik war von Destouches. Noch Ludwig XIV. hatte ihn als würdigsten Nachfolger Lulli’s bezeichnet, andere sahen in ihm nichts weiter als einen platten Komponisten. In seinem „Brief über Omphale“ zerriss Grimm die Oper in Stücke. Er lobte zwar den Sänger Jeyotte und die Sängerin Fel überschwänglich, seine Abhandlung schien aber nur den Zweck zu verfolgen, Rameau, den neuen Stern am Opernhimmel, im besten Licht erscheinen zu lassen. Grimm ließ Lulli zwar als den Urheber der Französischen Oper gelten, erklärte aber, dass derselbe jetzt eine abgetane historische Erscheinung sei. Rameau war nun für Grimm der neue Orpheus Frankreichs, ihm legte er huldigend alle Kränze nieder. Diesem Lob wollten sich die anderen Philosophen, die nur eingeschränkt Rameau’s instrumental begleiteten Sprechgesang anerkannten, jedoch nicht alle anschließen.219 In Hymnen besang Grimm die Schöpfungen des neuen Orpheus. Rameau’s „Hippolyte et Aricie220 bezeichnete er als unvergängliche Musiktragödie. Am „Zoroastre221 rühmte er mit Diderot insbesondere den vierten Akt. Die Schönheit des „Pygmalion“222 kann er nicht genug herausstreichen und die Oper „Platée223 endlich war ihm ein „erhabenes und vielleicht unerreichbares Werk der komischen Gattung“ und Rousseau teilte hier durchaus Grimms Meinung.

So treffend Grimms Kritiken im Einzelnen waren, so zeigt sich doch gerade am Beispiel Rameaus auch, wie zweifelhaft sein Urteil mitunter war und wie sehr er im Wandel der Zeiten an einmal ausgesprochenen Kunstprinzipien mit einer gewissen Sturheit festhielt. Noch in der „Lettre sur Omphale“ hob Grimm Rameaus Verdienste hervor; mit Begeisterung zählt er dessen bisherige Opern „Hippolyte et Aricie“, „Les Fetes de l’Hymen“ und „L’Amour“ auf. Doch dann wandelt sich Grimms Einschätzung. Die Rezension der Oper „Nais“ fällt schon weniger günstig aus. Grimm hat Einwände an der Harmonie, die Rameau in Anwendung brachte. Noch abfälliger ist die Besprechung der Oper „Zoroastre“, welche er eine „opéra des laites“ (Salatoper) nennt, weil darin nur der poetische Teil gut, die Musik aber höchst mittelmäßig sei: „Il y a plus de soixante ans qu’on n’avait vu tant de magnificence a notre opéra ... Le poeme est bien écrit, mais le rapport des différentes parties n’est pas sensible ... Le récitatif est faible, les symphonies médiocres, les choeurs admirables. Cela a fait dire a un mauvais plaisant que c’était l’opéra des laitues dont il n’y a que le coeur qui soit bon.224

Aber gerade die Oper „Zoroastre“ zeichnet sich durch Individualisierung der dramatischen Bühnencharaktere aus, sie bietet eine reiche Koloratur im Sologesang und enthält in den Stimmen bewegtere Ensemble-Sätze. In der Schlussszene des 4. Aktes verbindet Rameau besonders schön den Chor mit Solostimmen zu einem lebhaften Ensemble. Für solche musikalischen Vorzüge aber besaß Grimm weder das Verständnis noch verfügte er in seiner „Mission“ gegen die französische Oper über die notwendige Objektivität. Der sonst so kühle Grimm, hier trug ihn die Leidenschaft für eine Partei.

Grimm konnte recht gut auf dem Cembalo spielen, „j’étais assez fort sur le clavecin“. Nach den gemeinsamen Mahlzeiten mit Klüpfel und Rousseau folgte häufig ein kleines, improvisiertes Konzert der Freunde.225 Reichten diese musikalischen Grundfähigkeiten aus, um auf dem musikalischen Kampfplatz als Kritiker auftreten zu können? Obwohl Grimm weder mit der Theorie der Musik noch hinreichend mit deren Geschichte vertraut war, nahm er dieses Recht für sich selbstbewusst in Anspruch. Sein Urteil in musikalischen Dingen stützte sich nahzu ausschließlich auf den Wohllaut des Gehörten und seine Leidenschaft für die Musik ist nicht zuletzt auch dem polemischen Charakter seines Zeitalters geschuldet. Grimm traute sich zu, über Musik zu sprechen, ohne die Musik wissenschaftlich betrieben zu haben. In seiner „Lettre sur Ompfale“ stellt er es so dar: „Je crois pouvoir dire que la fin de la musique étant d’exciter des sensations agréables par des sens harmonieux et cadencés, tout homme qui n’est pas sourd est en droit de décider, si elle a rempli son objet.“ Und was sein Verständnis für eine nationale Musik angeht, so fügt er hinzu: „il faut de plus connaitre la caractère de la langue par rapport au chant ...“226

Das Recht, über Musik urteilen zu können, ist allerdings, so Grimm, auch nur dann gegeben, wenn ein ausgezeichnetes Gefühl für die Schönheit hinzukommt. Am Anfang seines „Poeme lyrique“227 schreibt er: „La musique est une langue; le poeme lyrique s’exprime dans une langue qu’on ne saurait parler sans génie, mais qu’on saurait non plus entendre sans un gout délicat, sans des organes exquis et exercés.“ Grimms Erfahrungen mit der Oper brachte er aus Deutschland mit, dort hatte er Aufführungen italienischer Opern, meist mit italienischen Sängern besetzt, besucht. Das Repertoire der französischen Oper, das bei Grimms Ankunft in Paris von Rameau und Lulli und dessen Epigonen beherrscht wurde, musste bei ihm Ablehnung und Langeweile hervorrufen. Die psalmodierenden Rezitative der französischen Oper riefen in ihm die Sehnsucht nach den einschmeichelnden Melodien der Italiener wach. Vor diesem Hintergrund erklärt sich Grimms beständiger Kampf gegen die Académie royale de musique. Mit der Wideraufführung der Omphale bot sich ihm 1752 eine erste Gelegenheit der französischen Oper den Kampf anzusagen. Für Grimm war die Omphale eine der ödesten Opern des 1749 gestorbenen Komponisten Destouches. Er nennt ihn „le plus plat compositeur, qu’ait eu la France, ce qui n’est pas peu de chose“.228

Man kann wohl sagen, dass Grimm mit seiner „Lettre sur Ompfhale“ als Erster die Rückständigkeit der französischen Oper öffentlichkeitswirksam aufgedeckt hat. Sein ästetisches Prinzip gipfelt in den Worten: „Le but de tous les beaux-arts est d’imiter la nature.“229 Grimms Vorwürfe richten sich vor allem gegen die Stoffe der Opern, gegen „ce faux genre ou rien ne rappelle a la nature“.230 Opern, in denen es von Göttern, Genien, Feen und Allegorien der Tugenden und Laster nur so wimmelt, sind ihm zuwider. Über die Oper „Zoroastre“ in der Académie royale de musique schreibt er: „Vous y trouverez tout, excepté la nature et son auguste caractère; c’est en l’imitant, en la copiant éternellement que le génie de l’homme s’ouvrira toujours de nouvelles sources de beauté, et qu’il sera le maitre de donner, a son choix, des impressions de plaisir ou de tristesse au coeur de ses semblables.“231 Grimm vergleicht die französischen Stücke mit englischen Theaterstücken und stellt deren Überlegenheit heraus. Den Erfolg und die Stärke der englischen Stücke, er nennt das Beispiel der Oper „Les Gueux“ von J. Gay232, sieht er in deren Inhalt: „Vous vous y trouvez dans la plus mauvaise compagnie du monde; les acteurs sont des voleurs, des fripons, des geoliers, des filles publiques, etc.; malgré tout cela on s’y plait et l’on a de la peine a les quitter: c’est qu’il n’y a rien de plus original et de plus vrai dans le monde.233

Grimm stellt die englischen Operntexte denen der franzöischen Oper als Muster gegenüber und was den musikalischen Teil angeht, sind es die Italiener, die er als Vorbilder heranzieht. Er rühmt die Oper des Italieners Duni „Le peintre amoureux de son modèle“, weil sie den französischen Komponisten zeige, wie man es anfangen müsse, Wort in Musik zu verwandeln. Grimm nimmt aber auch die Fehler der italienischen Theater, deren Logen Unterhaltungs-Salons seien, in denen man sich um die Vorgänge auf der Bühne wenig kümmere und nur dann eine Pause in der Unterhaltung eintreten lasse, wenn ein beliebter Sänger gerade eine Arie schmettert, die jederman schon auswendig kennt, aufs Korn. Er findet es befremdlich, wenn Sänger dazu verführt werden willkürlich andere Arien einzuschieben, wenn ihnen die ursprünglich vom Komponisten geschriebene Melodie nicht zusagte.

Ein anderer Vorwurf Grimms richtet sich gegen die Balletts und Singtänze, welche die französische Oper überfluteten und die Handlung fast in den Hintergrund drängten. Seiner Meinung nach dürften Opern nicht durch Tänze zerschnitten werden und witzig fügt er hinzu: „L’opera francais est devenu un spectacle ou tout le bonheur et tout le malheur des personnages consiste a voir danser autour d’eux.“234 Alle Anklagen Grimms gegen die französische Oper sind in seiner Kritik der Oper „Les surprises de l’amour“ zusammengefasst. Der Beitrag erschien in der Septemberausgabe der Corresppondance littéraire im Jahr 1757.235

Der Brief über Omphale sorgte in Paris für großes Aufsehen. Alle, die den Autor kennen, hieß es im Mercure de France, wissen, dass er einen umfassenden Geist, mannigfache Kenntnisse und einen sicheren Geschmack hat.236 Nun weiß das Publikum, dass Grimm ein überlegener Kenner der Musik ist und gut darüber zu schreiben weiß. Sein „Brief“ wurde von einem Anonymus beantwortet, hinter dem man Raynal vermuten darf, weil sich in dessen „Literarischen Neuigkeiten“ ähnlich lobende Worte über Lulli fanden. Grimm geht im Mercure de France auf die Bemerkungen des Anonymus mit einem Brief an Herrn Abbé Raynal ein und auf Grimms Einlassungen hin entwickelt sich bald eine lebhafte Kontroverse in die auch Rousseau eingreift. Er springt seinem Freund zur Seite und verteidigt ihn gegen Kritiker, nicht ohne die Gelegenheit zu nutzen, endlich auch einmal sein eigenes Urteil über die französische Musik öffentlich auszusprechen. Einen ungenannten Kritiker, vermutlich Raynal, überführt er der Unwissenheit und Beschränktheit, gleichzeitig aber mahnt er Grimm in seinem Beitrag nüchtern und unparteiisch zu bleiben, insbesondere Rameau gegenüber. Rousseau lobt sein Vorbild Rameau und kritisiert ihn im nächsten Satz. Rameau gab seinen französischen Landsleuten die komische Oper, wie sie Italien in der Opera buffa längst besitzt, aber er übertrug diese nicht einfach, sondern schuf Neues. Es ist wahr, schließt Grimms Freund, man wirft dem Meister vor, dass er schlechte Texte komponiert habe. Aber hatte er denn über gute zu gebieten? Man darf aber zweifeln, ob er besseren Libretti gerecht geworden wäre und Rousseau urteilt: Rameau steht an Geist und Verständnis weit unter Lulli, obgleich er diesem in Hinsicht auf den Ausdruck fast immer überlegen ist.237

Der Buffonistenstreit - Rousseaus Dorfwahrsager und der kleine Prophet

Grimm hielt zunächst an seiner Begeisterung für die französische Komödie fest und brachte seinen Freund Rousseau sogar zeitweise davon ab die italienische Komödie zu besuchen, zu der er freien Zutritt hatte. Es dauert aber nicht lang und Grimm schwenkte ganz auf die italienische Linie um. 1752 kamen italienische Opernsänger nach Paris, die man auf der Bühne der Oper spielen ließ noch ohne zu ahnen, was daraus entstehen sollte. Der Vergleich mit der französischen Oper ließ die kritischen Zuhörer aufhorchen. Der lebhafte und leidenschaftliche Rhythmus der italienischen Musik machte das Schleppende der eigenen deutlich. Die Italiener traten am ersten August 1752 zum ersten Mal auf und spielten „La serva padrona“, Intermezzo in 2 Akten von Pergolesi. Die Handlung des Stücks ist recht einfach: Der alte Uberto erhält seine Schokolade nicht zur rechten Zeit. Die junge Magd Serpina hat ihn unter dem Pantoffel und macht, was sie will. Der Diener Vespone hat nichts zu singen und zu sagen, er ist bloß da, weil jemand da sein muss, der die nötige Schelte und die Prügel kriegt. Das aufgeregte Geschwätz (Plauderrezitativ) zwischen Uberto und Serpina setzt sich in ebenso redseligen Arien fort. Das Orchester hat nur Streichinstrumente, die Musik ist malerisch. Jede Stimmung, jede Situation wird prägnant ausgedrückt. Das Stück kam bei den Parisern nicht auf Anhieb an, aber nach einigen Abänderungen gefiel es am zweiten Tag schon besser und von Aufführung zu Aufführung wuchs der Beifall und schon bald schwärmte ganz Paris von der Opera buffa, von der Tonelli, von Manelli und Cosomi. Man sah Zerbine und Pandolfo über die Bühne springen, sie sangen nicht mehr Arien, sondern Lieder, sie waren keine Schemen mehr, sondern Figuren, sie blähten sich nicht mehr in ernster Gelehrsamkeit, sondern sie tollten in heiterer Volkstümlichkeit durch die Kulissen. Enthusiastisch schildert Grimm, wie selbst die bisherigen Gegener von der allgemeinen Begeisterung fortgerissen wurden. Er prophezeit, dass damit der Sturz der alten französischen Oper besiegelt werde. Wehmütig gibt er jedoch zu bedenken, dass Paris dann eigentlich weder eine echte französische, noch eine echte italtienische Oper haben werde.238

Die italienische Operngruppe wurde am 16. November mit einem Jubel gefeiert, wie er in der Oper bis dahin unerhört war. Die Italiener traten nicht einmal, sondern oft dreimal in der Woche auf. Bis zur letzten Vorstellung am 7. März 1754 machten sie stets volles Haus und für die Intendantur volle Kasse. Rousseau, der für das Gefühl so viel übrig hatte, nahm freudigen Anteil an dieser Entwicklung. Er sah, wie sich die Franzosen zu den Italienern drängten und das Theater verließen, sobald französische Kompositionen an die Reihe kamen. Durch diese Erfahrungen ließ er sich zu eigenen Produktionen anregen.239 Im Kreise des Barons Holbach trug er seine Kompositionen vor und bezauberte, wie Marmontel in seinen Memoiren schreibt, alle nicht weniger als vordem durch seine Dijoner Preisschrift. Woran Rousseau gearbeitet hatte, war der „Der Dorfwahrsager“, eine Operette, die am 18. Oktober 1752 im Schloss Fontainebleau zur Aufführung kommen sollte. Eine Hofequipage, in die Fräulein Fel, Abbé Raynal und sein Freund Grimm aufgenommen wurden, brachte ihn zur Residenz des Königs. Die Probe fiel wider Erwarten gut aus. Das Orchester, zusammengesetzt aus der Pariser Oper und der königlichen Kapelle zeigte sich ausdrucksstark und die Sänger konnten überzeugen, das schöne Fräulein Fel entzückte als Colette und sie entzückte Melchior Grimm. Sie verfügte über eine immer gleiche, frische, ungezwungen und wie von selbst ertönende glänzende Stimme. Das Hirtenmädchen sang:

Schön geputzt mit reichen Kantenkönnt ich hier spazierengehen;und von vornehmen Verwandtenstatt von euch umringt mich sehn!Doch für ihn, den Ungetreuenschiens mir ein eitler Scherz;lieber mich als Hirtin freuen;dacht ich – hab ich nur sein Herz!“

Aus den Logen dringt erstauntes Raunen, die Hofdamen halten sich ihre Spitzentaschentücher an die Augen und sagen: „Da gibt es keinen Ton, der nicht zum Herzen spräche.“ Und auch die Mätresse des Königs, Frau von Pompadour, zeigt sich gerührt und der ganze weinende Hofstaat lässt auch Rousseau nicht ungerührt. So viele Menschen, denen seine Musik, seine Texte eine so innige Rührung einflößen kann, das rührt auch ihn selber zu Tränen. Das Publikum war begeistert, nur die Anwesenheit des Herrschers verbot es, laut Beifall zu bekunden. Der Erfolg hätte Rousseau die Wege ebnen können, aber er war nicht bereit, seine Selbständigkeit zu opfern. Der Apostel der Wahrheit und Tugend wollte sich nicht durch eine Pension240 des Königs aushalten lassen, er wollte niemandes Sklave sein. Er fragte Grimm, wie er sich verhalten solle, aber der Freund schwieg beredt. Der andere Freund, Diderot, legte ihm nahe, die zugesagte Pension anzunehmen, schließlich hätte er Frau und Schwiegermutter zu versorgen, der eigenwillige Rousseau aber lehnte ab. Beim Pariser Publikum kam „Le Devin du village“ ebenfalls gut an und konnte sich neben jeder Opera buffa und sogar neben der Meisterschöpfung Pergolesi’s, der „Serva padrone“ gut behaupten.

Diderot, d’Alembert, Raynal, Holbach, Grimm und andere Enzyklopädisten scharten sich am Ende des Jahres 1752 um die Fahne der italienischen Musik, die Rousseau aufgepflanzt hatte. Im Opernhaus sah man die Männer bei jeder Vorstellung unter der Loge der Königin sitzen. Es war noch nicht lange her da Grimm und Rousseau Rameau über alles erhoben hatten, jetzt schienen sie nur noch Augen und Ohren für die Italiener zu haben. Sobald ein französisches Stück anfing, begannen sie herausfordernd laut zu lachen und zu reden. Alle Augenblicke mussten die Gardisten an sie herantreten und sie ermahnen: „Ruhiger, meine Herren, ruhiger!241 Die Gruppe der Philosophen wurde zu einer Theater-Partei und versammelte sich in der „Ecke der Königin“. Lullisten und Rameauisten reichten sich nun die Hände gegen den gemeinsamen Feind. Sie nahmen den Philosophen gegenüber unter der Loge des Königs ihren Platz ein und wurden „die Ecke des Königs“ genannt. Sie rümpften die Nase über die Buffonisten und im Zuschauerraum kam es nun des Öfteren zu lebhafteren und lauteren Szenen als auf der Bühne. Die Wachtposten hatten alle Hände voll zu tun, kaum hatten sie die eine Seite zur Ruhe gebracht, ging der Lärm auf der anderen Seite wieder los. Bald wurde auch auf den Straßen und Plätzen der Stadt, in den Cafés und Salons um den richtigen Stil gekämpft. Das Gewoge zwischen französischer und italienischer, schwerer und leichter, E- und U-Musik ging hin und her und es muss aus heutiger Sicht etwas lächerlich wirken, aber hier standen sich zwei grundverschiedene Stilrichtungen gegenüber. Auf der einen Seite die alten Tragödien, gelähmt und gedämpft, kalt und akademisch, auf der anderen Seite die neuen Buffonisten, lebendig, frisch, warm und autodidaktisch.

Die „Ecke der Königin“ begann den Federkrieg mit einer Satire des Barons Holbach. Sein Schreiben war, der Galanterie der Zeit entsprechend, an eine Dame gerichtet. Als drollige Karikatur spielte er darin den Antibuffonisten. Er schimpfte über den großen Applaus bei den Italienern, der so stark war, dass es den Vorhang zerriss und klagte über die Missachtung, welche das französische Musikdrama dadurch erfuhr. Noch wirksamer aber sollte Grimms witzige Satire „Der kleine Prophet von Böhmisch-Broda“ werden, in der er sich über die Pariser Oper lustig machte. Der vollständige Titel der Broschüre, die 1753 in Umlauf kam, lautet: Der Kleine Prophet von Böhmischbroda. Dies ist die Weissagung des Gabriel Johannes Nepomucenus, Franciscus de Paula Waldstorch, genannt Waldstörchl, gebürthig von Böhmischbroda, in Böhmen, Philos. & Theol. Mor. Stud in Coll. Maj. RR. PP. Societ. Jesu, Sohn des ehrbaren Eustachius Joseph Wolfgafgang Waldstorch, Lautenisten und Geigenmachers, wohnhaft auf der Juden-Gasse der Prager Alt-Stadt, bey den Carmelitern, in der rothen Geigen, und er hat sie mit eigener Hand geschreiben, und nennet sie sein Gesicht. Lateinisch: Canticum Cygni Bohemici. Prag, 1753. Der Student der Philosophie ist durch eine himmlische Vision zum Propheten berufen und aus dem düsteren Heim in der Judengasse mitten in den Glanz der Oper von Paris versetzt worden „auf dass er verkündige harte Wahrheiten einem frivolen und dünkelhaften, leichtsinnigen und ungelehrigen Volke ... Thue weg das Geplerre deiner comischen Opern, die doch keine Opern sind, und die Zwischenspiele, die du nicht verstehst!.. Thue weg von meinen Augen das Tanzen, das du nennest wunderbar, so es doch abgeschmackt ist; und nur gefällt denen, die es nicht besser wissen. So will ich dir verschaffen Schauspiele nach meinem Herzen, und eine Bühne, nach meinem Sinne, wie sie haben die Pariser, auf der Französischen Bühne, nicht aber die Welschen auf dem Theatre Italien ... Und wirst Gefallen haben am Destouches und Moliere, in seinen guten Stücken, und an deutschen Lustspielen, von Gellerten und die da stehen, in dem Buche, genannt die teutsche Schaubühne und Bremischen Beyträge. Und ich will deinen Dichtern Witz geben, zu erfinden neue Stücke; und nicht mehr zu übersetzen, was schlecht ist. Und ich will sie lehren zu scherzen, ohne Zoten zu reissen, und lustig zu seyn, ohne dem Pöbel zu gleichen, und der Tugend zu schonen, wenn sie spassen wollen. Und du wirst sehen Schäferspiele die fein sind, und Tänze, die sich zu den Stücken schicken, und Nachspiele, die witzig sind, nicht aber wie Schuster-Lieschen, und Johann Henne. Und deine Ehre soll erschallen, durch ganz Deutschland, bis Paris und London, und Kopenhagen und Stockholm und Petersburg. Und alle Länder werden sagen: Wohl dem Volk, daß eine solche Bühne hat, die da befördert Witz und Tugend, und nicht schadet den guten Sitten... Nimmst du aber nicht wahr die Zeit deiner Heimsuchung, und kehrest dich nicht von den krumm-Sprüngen der Panduren und Häscher, und der Teuffel mit Feder-Büschen, und der Kutscher mit Stieffeln, das du bewunderst: so will ich dein Herz verstocken, und deine Augen verblenden, und deine Ohren will ich verstopfen, zu lieben, was nicht taugt und zu bewundern, was kein Nutze ist...“242

Die Zeitgenossen Grimms fanden die Satire reich an witzigen und treffenden Zügen, für heutige Leser sind Sprache, Inhalt und Bezüge eine etwas schwer verdauliche Kost, die sich einem ohne Kenntnis des Milieus auch nicht ohne weiteres erschließt. Grimm hat hier deutsche Phantastik mit französischem Esprit gemischt und wohl ganz nach dem Geschmack des zeitgenössischen Publikums geschrieben und auch der große Voltaire fand anerkennende Worte für Grimms Pamphlet. Voller Bewunderung kommentierte er: „Was untersteht sich dieser Böhme, geistreicher zu sein als wir!“ Melchior Grimm vertrat in seiner provozierenden Broschüre die These, dass Frankreich auf der einen Seite zwar die größten Dichter und Denker besitze und dass alle Welt sich das französische Schauspiel zum Vorbild nehme. Andererseits aber leiste dieses Land sich eine Oper, die überall sonst nur zum Spott herausfordert. „Aber es war nicht ein Singen, wie man singet beym Locatelli zu Prag, sondern ein Lärmen, wie man hört zu Böhmischbroda im Kretschem, das ist verdolmetscht, eine Dorf-Schenke. Und es waren Weibsbilder dabey, die plerreten auch...“ Das Orchester ist schlecht, der Dirigent gleicht mit seinem Tambourstab einem Holzhacker und die Dekorationen und Bühnenmaschinerien sind albern und kindisch, aber das Publikum bildet sich ein, in Paris die herrlichste Oper auf Erden zu haben. Da erbarmt sich im kleinen Propheten der Himmel des verblendeten Volkes und sendet ihm die Opera buffa. Nun erst gehen den Parisern die Augen auf, sie sind entzückt und brechen mit ihrer Musik. So sie das tun, verheißt ihnen der kleine Prophet, wird ihnen der Himmel Textdichter, Komponisten, Sänger und Spielleute in Hülle und Fülle bescheren. Die meisten Leser des kleinen Propheten schüttelten sich vor Lachen und auch in Deutschland erregte Grimms Schrift großes Vergnügen. Die Gottschedin stutzte sie gleich für die Leipziger zurecht und ließ nun Waldstörcherl auf gut Deutsch loszetern.

Grimms Broschüre wurde oft gedruckt und später auch in die Correspondance littéraire, philosophique et critique à un Souverain d’Allemagne par le Baron die Grimm et par Diderot aufgenommen. Die 21 Kapitel des „kleinen Propheten“ wurden von Diderot drei Monate nach dem ersten Erscheinen der Broschüre um drei neue Kapitel ergänzt. Darin schildert Diderot, wie Waldstörchel, in sein Prager Heim zurückversetzt, die schreckliche Entdeckung macht, dass ein bloßes Anhören der Pariser Oper ihn um die Gabe der Tonkunst gebracht hat. Der verzweifelte Bursche zertrümmert seine Geige und zerreißt die Menuette, die er für den Carneval in Prag und die Messe in Leipzig geschrieben hatte. Doch es naht Hilfe: Die Geister versetzen ihn mit Diderots Hilfe abermals in die Pariser Oper, wo Dienstag den 1. März 1753 Rousseau’s „Devin du Village“ gespielt wird. Waldstörchel ist begeistert und erhält die Liebe und die Gabe für die Musik wieder zurück. Leidenschaftlicher als je greift er zur Geige und setzt sogleich neue Töne und Weisen in die Welt.243

Der italienische Opernsänger Caffarelli, ein Sopran-Kastrat, der 1753 nur kurze Zeit in Paris gastierte, trat ebenfalls als Parteigänger der Buffonisten auf. Er schrieb in italienischer Sprache einen fein ersonnenen Traum auf. In diesem Traum wird er vom „kleinen Propheten“ in die Oper geführt und hört dort die Ouvertüre. Verwundert ruft er aus, „Was ist das? Man spielt ja eine Miserere!“ Der kleine Prophet versucht ihn vom Gegenteil zu überzeugen, der Italiener aber kann in dieser Ouvertüre nichts anderes als ein Leichenbegängnis erkennen. Der Dialog setzt sich in diesem Sinne eine Weile fort, bleibt dann aber unvollendet liegen. Grimm sah ein paar Blätter davon und rühmte den Geist, die Lebhaftigkeit und das tiefe Verständnis des Verfassers.244

Der Kampf der Buffonisten gegen die Antibuffonisten nahm nun groteske Züge an. Die Helden beider Parteien traten in die Schranken: Auf die freche Herausforderungen der einen Seite folgte die nicht minder hitzige Antwort der anderen Seite. Diderot versuchte die Rolle des Vermittlers zu spielten. Vom Parterre aus wollte er die „Ecke des Königs“ und die „Ecke der Königin“ zum Frieden bewegen, sein Bemühen aber ging im Lärm unter. Da legte der einfallsreiche Diderot die Amtstracht des Richters an und fällte einen Urteilsspruch: Mit dem Antibuffonisten Abbé de Voisenon ging er um wie mit einem unreifen Advokaten, die beiden Deutschen Grimm und Holbach dagegen erfuhren seine Gunst und Gnade. Natürlich dauerte die Fehde trotz Richterspruch, der die Königin-Ecke zumindest zum Lachen bringen konnte, fort und die Zeit war abzusehen, dass eine königliche Weisung dem ganzen Spiel ein Ende bereiten würde. Grimm war in diesem Gerangel zwar Ideengeber und Unterstützer, stand aber nicht in der ersten Reihe der Kämpfer, das überließ er Diderot, Holbach und Rousseau. Grimm machte eine Entwicklung durch. Er ließ sich von Rousseau’s „Devin du Village“ inspirieren und was vordem mit Lob bedacht wurde trat nun in den Hintergrund; Rameau ist tot, es lebe die Italienische Tonkunst und mit ihr Rousseau, der als erster einen neuen Stil auf die französische Bühne bringt.

Das schöne Fräulein Fel

Eine kurzlebige Leidenschaft für das schöne Fräulein Fel, sorgte 1751245 für eine Unterbrechung in Grimms literarischem Schaffen. Dazu Rousseau in seinen Bekenntnissen: „Nachdem Grimm einige Zeit mit Fräulein Fel freundschaftlich verkehrt hatte, kam es ihm plötzlich in den Sinn, sich sterblich in sie zu verlieben und Cahusac ausstechen zu wollen. Da sich die Schöne auf ihre Beständigkeit etwas einbildete, wies sie den neuen Bewerber entschieden zurück. Dieser nahm es sich sehr zu Herzen und that, als ob er daran sterben müßte. Er fiel ganz plötzlich in die sonderbarste Krankheit, von der man vielleicht je hat reden hören. Er brachte die Tage und Nächte in beständiger Lethargie, mit völlig offenen Augen und regelmäßigem Pulsschlage zu, aber ohne zu sprechen, ohne zu essen, ohne sich zu rühren, scheinbar bisweilen hörend, aber niemals antwortend, nicht einmal durch Zeichen, und im Uebrigen ohne Unruhe, ohne Schmerz, ohne Fieber und daliegend, als wäre er bereits gestorben. Der Abbé Raynal und ich wachten abwechselnd bei ihm. Da der Abbé kräftiger und gesünder als ich war, brachte er bei ihm die Nächte, ich die Tage zu, so daß er nie allein war; keiner von uns ging vor Ankunft des andern. Sehr erschreckt brachte der Graf von Friesen Senac zu ihm, der nach sorgfältiger Untersuchung versicherte, es hätte nichts zu bedeuten, und nichts verordnete. In der Sorge um meinen Freund beobachtete ich die Miene des Arztes genau und bemerkte, wie er beim Herausgehen lächelte. Der Kranke blieb jedoch mehrere Tage unbeweglich, ohne Bouillon oder irgend etwas Anderes als eingemachte Kirschen zu sich zu nehmen, die ich ihm von Zeit zu Zeit auf die Zunge legte, und die er sehr gut verschluckte. Eines schönen Morgens erhob er sich, zog sich an und nahm seine gewöhnliche Lebensweise wieder auf, ohne daß er über diese eigentümliche Lethargie oder unsere Pflege während ihrer ganzen Dauer mit mir, noch auch, so viel ich weiß, mit dem Abbé Raynal oder irgend einem anderen geredet hätte. Dieser Vorfall unterließ nicht Aufsehen zu erregen, und in der That wäre es ein wunderbares Ereignis gewesen, wenn die Grausamkeit einer Opernsängerin einen Mann hätte aus Verzweiflung sterben lassen. Diese schöne Leidenschaft brachte Grimm in die Mode; bald galt er als ein Wunder von Liebe, Freundschaft und Anhänglichkeit jeglicher Art.“246

Wer war diese Frau, um deretwillen Melchior Grimm von jenem seltsamen, krankheitsähnlichen Liebeswahn befallen wurde, den Rousseau so anschaulich schilderte? Das aus Deutschland kommende Fräulein Fel war die Sängerin, die im „Devin du village“ die Collette spielte. Sie war die Sängerin mit der leicht beschwingten Stimme, die Sängerin mit dem „Silberglockenklang“ in der Kehle. Sie war die Sängerin, um deretwillen der Dichter Cahusac als Irrsinniger in einer Zelle zu Charenton starb, aus Kummer, sie nicht geheiratet zu haben. In einem Bild des französischen Portraitmalers Maurice Quentin de La Tour, der in diesem Portrait seine dauernde Liebe zur ihr zum Ausdruck brachte, tritt sie uns als zarte junge Frau gegenüber. Eine Beschreibung des Bildes finden wir im zweiten Band der Brüder Concourt zur Kunst des 18. Jahrhunderts: „Ein eigenartiger Kopf von naivem Reiz, der sich in dieser Galerie von Frauen des achzehnten Jahrhunderts fremd und sozusagen entwurzelt zu fühlen scheint mit dieser keuschen Stirne, den schönen Augenbrauen, dem schmachtenden Ausdruck der großen schwarzen Augen, unter den Wimpern in den Winkeln so samtweich, der griechischen Nase, den regelmäßigen Zügen, dem schlaffen Munde, dem langen Oval, - kurz, mit dieser ganzen exotischen Physiognomie, die einen so trefflich krönenden Abschluss in der Haartracht findet, in diesem mit Goldborte gesäumten Schleiertuch, das die Stirn quer durchschneidet, über dem rechten Auge herabfällt, eine Schläfe umkost und über dem auf der andern Seite festgesteckten Blumensträußchen wieder hinaufgeht.“247

La Tour gehörte zur feinen Welt und bewegte sich in der vornehmsten Gesellschaft. Er nimmt an den Montagsdiners der Frau Geoffrin teil, man sieht ihn des Öfteren in der Oper und er pflegt Beziehungen zu Schriftstellern und Gelehrten. Er wohnt im Louvre, denn die alte Monarchie hatte diesen Palast zu einer königlichen Herberge der Kunst gemacht. Hier sah man die berühmten Männer des Jahrhunderts kommen und gehen: Buffon, Duclos, Helvétius, d’Alembert, Diderot, Grimm... Wir können uns durchaus einen Atelierbesuch Grimms vorstellen. Wir sehen die beiden Männer vor dem noch unvollendeten Porträt der Sängerin Fel stehen, beide in Liebe zu dieser Frau entbrannt, beide aber aus unterschiedlicher Perspektive sprechend. La Tour erklärt die Techniken der Pastellmalerei und denkt in Liebesbrunst an sein Modell; Grimm stellt kluge Fragen zur Maltechnik und denkt ebenfalls in Liebesbrunst an das schöne Fräulein Fel. La Tours Kunst hatte die Damen der vornehmen Pariser Gesellschaft entzückt, weil sie den Frauen ein eigenartiges, nebelhaftes Leben verlieh. Die zarten und schmeichelhaften Pastellstifte schienen bei la Tour nur dazu geschaffen zu sein, das Fleisch einer Frucht, den Samt einer Schale, den Hauch der duftigen Kleidung der Zeit auszudrücken. Am Ende seines Lebens denkt er an die fröhlichen Landpartien mit den Schauspielerinnen zurück, er erinnert sich der Leidenschaft für die Sängerin Fel und weiht den letzten Wein dem Andenken seiner Geliebten.248 Über Grimms Liebeswahn wurde in der Pariser Gesellschaft viel gesprochen, seine Vernarrtheit gab ihm etwas Exotisches und brachte ihm bei den Damen der Gesellschaft großes Ansehen ein, einen so romantisch veranlagten Mann, der fast aus Liebe gestorben wäre, musste man einfach kennenlernen.

Der Buffonistenstreit ging indes lustig weiter und die Parteien gingen wie in einer Faschingsgesellschaft aufeinander los bis Rousseau dem ausgelassenen Spuk mit seiner „Lettre sur la musique francaise249 im November 1753 ein Ende machte. Mit heiligem Ernst hielt er Gericht über die französische Tonkunst. Die „Lettre sur la musique francaise“ gehört zweifellos zu den epochemachenden Werken in der Geschichte des Geschmacks und zu den Meisterstücken der polemischen Schriftstellerei. Rousseau ließ sich über die angeblichen Mängel der französischen Sprache aus und zog aus seiner Erörterung den Schluss: Die Franzosen haben in ihrer Sprache weder Wohllaut, noch Prosodie, noch Freiheit der Wortstellung. Sie können deshalb auch in der Musik keine Melodie besitzen, jedenfalls keine Melodie, deren Eigenart und Reichtum durch die Sprache bedingt werden. „Ich glaube gezeigt zu haben“, so schließt der Autor der „Lettre sur la musique francaise“, „dass es in der französischen Musik weder Rhythmus oder Taktmaß noch Melodie gibt, weil die Sprache dem widerstrebt; dass der französische Gesang nur ein beständiges Gekläffe und unerträglich für jedes nicht voreingenommene Ohr ist; dass die Harmonie dumm und ohne Ausdruck ist [...]; dass die französischen Arien keine Arien sind; dass das französische Rezitativ kein Rezitativ ist. Daraus folgere ich, dass die Franzosen keine Musik haben und keine haben können, oder dass es, wenn sie jemals eine haben werden, desto schlimmer für sie sein wird.“250

Die Pariser ergötzten sich unendlich am Streit zwischen den Ecken des Königs und der Königin, solange die Sache spaßhaft und nicht mit Ernst behandelt wurde. Sainte-Beuve soll später einmal gesagt haben: Wäre der Streit der Musikrichtungen nicht ausgebrochen, wäre die Französische Revolution 30 Jahre früher gekommen. Für Umwälzungen größeren Ausmaßes hätte die Kritik an Kirche und Staat schon in den fünfziger Jahren des 18. Jahhunderts sorgen können, vorerst und stellvertretend war es „nur“ der Buffonistenstreit. Rousseau immerhin störte den meist heiteren Scherz und den behaglichen Dünkel des Pariser Publikums. Für ihn gab es keinen versöhnenden Standpunkt, das unterschied ihn von den anderen „Philosophen“. Rousseau’s Erörterungen lösten eine wahre Sintflut von gegnerischen Stellungnahmen aus und auch Rameau fühlte sich zu einer Erwiderung genötigt. Auf Rameaus Gegenbroschüre antwortet Grimm im Juni 1754 mit einem vernichtenden Artikel. Die ursprüngliche Anerkennung für Rameau’s unbestrittene Verdienste um die französische Musik hatte sich in einen unversöhnlichen Hass verwandelt: „M. Rameau n’a pas cru devoir garder le silence dans la fameuse querelle de la musique, il vient de nous donner des observations sur notre instinct pour la musique et sur son principe. Les moyens de reconnaitre l’un pour l’autre conduisent a pouvoir se rendre raison avec certitude des différents effets de cet art. Après un titre aussi clair, vous etes le maitre de lire cent vingt-cinq mortelles pages ou l’auteur répète ce qu’il a dit dans ses ouvrages de théorie, et ou il croit avoir réfuté ce que M. Rousseau a dit dans sa lettre sur la musique francaise, du monologue d’Artimide mis en musique par l’insipide et plat de Lully. Ce radotage du premier musicien de la nation manquait au triomphe de M. Rousseau, dont la fameuse lettre est restée sans réponse, malgré cinquante libelles qu’on a faites contre l’auteur. Ce qu’il y a de facheux, c’est que M. Rameau nous prouve clairement qu’il n’a jamais songé qu’a faire de l’harmonie, croyant faire de la musique, et que s’il a fait de belles choses dans un genre que je crois fort mauvais c’est sans s’en douter et sans connaitre son vrai mérite. Une des conséquences les plus naturelles de ses principes est, que pour faire de la musique, il ne faut rien moins que du génie, et si M. Rameau a raison, chaque petit musicien sera capable de faire les plus belles choses du monde, dès qu’il aura acquis du savoir et la science des accords. M. Rameau ressemble parfaitement a un macon ou a un charpentier qui, en faisant une savante dissertation sur la facon de tailler les pierres, ou en raisonnant profondément sur la coupe des plances, croiraient nous avoir mis en état de juger de la beauté d’un édifice.251 Rameau hatte es sich mit den Enzyklopädisten verdorben und unversöhnliche Feindschaft heraufbeschworen. Im März 1760 legt Grimm noch einmal nach: „Il est certain, que quoique dans nos journeaux le nom de M. Rameau et la qualification de premier musicien de l’Europe soient synonymes, j’aimerais mieux avoir fait un air de Hasse ou de Buranello que tous les ouvrages ensembles de ce prétendu premier musicien de la terre.“252 Dem toten Rameau widmet Grimm einen wirklich ungerechten Nachruf: „La Gazette de France, annoncant la mort de Rameau, dit, que son nom et ses ouvrages feront époque dans la musique; il fallait dire dans la musique francaise, car je veux mourir si Rameau et toutes ses notes sont jamais comptées pour quelque chose dans le reste de l’Europe.“253

Rousseau hat sein harsches Urteil später (1778) zurückgenommen, in der französischen Anpassung von Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“, musste er eingestehen, dass die französische Sprache durchaus zum Singen geeignet war. Grimm geht 1754 sehr ausführlich in der „Correspondance“ auf Rousseau’s „Schreiben, die Musik betreffend“ ein. Er stimmt seinem Freund im Wesentlichen zu und ergänzt die Ausführungen Rousseaus um einige Beispiele, die seiner Meinung nach die Unzulänglichkeit der französischen Sprache für Musik und Poesie aufzeigen können. Interessant aber ist die Einleitung zu seinem Beitrag: „Rousseau unternahm es in seinem „Lettre sur la musique“, uns zu beweisen, dass die französische Sprache keineswegs musikalisch sei, das heißt, keineswegs fähig, in Musik übertragen oder gesungen zu werden. Hätte er diese Frage mit mehr Sorgfalt behandelt, mit mehr Umständlichkeit, mehr Klarheit, wie er dessen wohl fähig war, und besonders mit weniger übler Laune, was ihm vielleicht nicht möglich war, so würde er keine Seele beleidigt und Jedermann überzeugt haben.“254

Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg

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