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Grimms Correspondance littéraire
ОглавлениеAus den Nouvelles Littéraires des Abbé Raynal wurde die Correspondance littéraire, philosophique et critique. Grimms „Newsletter“ sollte 40 Jahre bestehen bis die Französische Revolution der Auslieferung ein Ende setzte. In der ersten Ausgabe der Correspondance vom Mai 1753 warb Grimm für sein Vorhaben und gab sich mit seiner Bemühung als Freund der Enzyklopädisten zu erkennen: „In diesen Blättern (feuilles), um die man uns bittet, wollen wir nur kurz bei den Broschüren verweilen, mit denen schlechte Schriftsteller und kleine Schöngeister Paris täglich überschwemmen und die unangenehme Begleiterscheinung der Literatur sind; wir wollen nur über solche Bücher genau berichten und wohldurchdacht urteilen, die es verdienen, dass man die Aufmerksamkeit des Publikums auf sie lenkt. Als besonders glänzender Teil der französischen Literatur werden die Theateraufführungen einen beträchtlichen Raum einnehmen. Auch sollen die Künste nicht vergessen werden und überhaupt werden wir nichts übergehen, was für den wissbegierigen Ausländer von Interesse ist. Diese Briefe sollen der Wahrheit, dem guten Glauben und der freien Meinungsäußerung verpflichtet sein. Die Freundschaft, die uns mit manchen Schriftstellern verbindet, soll, wenn wir Gelegenheit nehmen müssen, über sie zu sprechen, keinen Einfluss auf unsere Urteile haben. Während wir einerseits die Eindrücke des Publikums einfach mitteilen, wollen wir doch andererseits die eigenen immer vernünftig zu begründen suchen.“ 280
Die gleichen Ideen trägt Grimm in der Ausgabe vom 1. April 1754 noch einmal an sein Publikum heran, dieses Mal allerdings in der Gegenwartsform und nicht in der der Zukunft. Ein klarer Aufbau seiner Mitteilungsblätter ist auf den ersten Blick nur schwer erkennbar, aber in der Regel analysiert er am Anfang eines jeden Blattes ein Werk, das ihm wichtig erscheint. Er bespricht es und stellt moralische, philosophische, historische und politische Überlegungen an. Dann folgen häufig allgemeinere Erörterungen der unterschiedlichsten Art. Er spricht über die Vor- und Nachteile des Luxus und den Nutzen der Literatur, er lässt sich über den Geist der Salons aus, geht auf die neueste Mode ein, denkt über die Folgen einer toleranten Lebensart nach, macht Bemerkungen zum Handel und streift Themen zu Moral und Religion. Wie nebenbei werden Briefe und Beiträge anderer Autoren eingestreut, die zum Thema passen und die Diskussion voranbringen können. Grimm macht Vorschläge zur Reform von Oper und Theater, er beteiligt sich an den Kampagnen seiner Freunde unter den Aufklärern und wirbt bei den Abonnenten seines Periodikums, wenn nötig, um Anteilnahme und Unterstützung für Opfer der Justiz.
Die Correspondance littéraire ist keine Erfindung Grimms
Die Correspondance littéraire war nicht die Erfindung von Melchior Grimm; im vorrevolutionären Frankreich gab es viele literarische Korrespondenzen. Allen gemeinsam war, dass sie ihre Empfänger, die meist außerhalb Frankreichs zu finden waren, an der französischen Kultur teilnehmen lassen wollten. Einer Kultur, die gleichzeitig vom königlichen Hof, von der Gesellschaft der Aristokraten und von den Institutionen der république des lettres geprägt war. Die literarischen Korrespondenten informierten über kulturelle Ereignisse am Hof, aber das war nur einer kleiner Teil der Berichterstattung, mehr Raum wurde den kulturellen Hervorbringungen in Paris gewidmet.
Einen wichtigen Platz in allen correspondances littéraires nahmen die Theatervorstellungen auf den drei offizielllen Pariser Bühnen Opéra, Comédie-Francaise und Théatre-Italien ein. Besonders aufmerksam wurden die Pariser Akademien, die Académie des sciences und allen voran die Académie française beobachtet. Besondere Beachtung fanden auch die Salons der Académie royale de peinture et de sculpture mit ihrer exklusiven Leistungsschau französischer Kunst. Die Berichte über den französischen Kulturbetrieb konnten sowohl die Vorrangstellung der französischen Metropole als auch die Position der literarischen Korrespondenten als Träger und Vermittler des Wissens über diese Kultur bestärken.
Die correspondances littéraires übernahmen für ihre Leser dabei eine zweifache Aufgabe: Sie unterzogen die in der französischen Hauptstadt vorherrschenden kulturellen Verhaltensstandards einer eingehenden Analyse, gleichzeitig blendeten sie komplexe Wechselverhältnisse aus, um so ihren Lesern ein geordnetes und vereinfachtes Bild der französischen Kultur vermittlen zu können. Durch eine Reduktion an Komplexität konnten die literarischen Korrespondenten die Erwartungen ihrer Leserschaft nach kultureller Orientierung erfüllen. Zu dieser Orientierungsleistung der Korrespondenten gehörte es aber auch, dass über den fortwährenden Ablauf des kulturellen Lebens in Paris umfassend und möglichst zeitnah berichtet wurde.
Da die meisten Abonnenten der correspondances littéraires nicht selbst in Paris anwesend waren, mussten vom Korrespondenten zusätzliche Leistungen erbracht werden. Theaterrezensionen bedurften der Ergänzung, um das fehlende Bühnenerlebnis kompensieren und veranschaulichen zu können; bei Ausstellungsbesprechungen mussten fiktionale Techniken der Bildbeschreibung das abwesende Kunstwerk vor den Augen des Lesers entstehen lassen. Zu den vorgestellten Autoren mussten ergänzende Angaben zu ihrer literarischen und gesellschaftlichen Reputation gemacht werden, dazu gehörte auch die Entschlüsselung brisanter Publikationen, die durch raffinierte Täuschung die Zensur passiert hatten aber ohne zusätzliche Erklärung der versteckten Anspielungen für auswärtige Leser unverständlich bleiben mussten.
Eine nicht zu unterschätzende Leistung der correspondances littéraires bestand in knappen und pointierten Beurteilungen von Neuerscheinungen, nicht selten verbunden mit einer konkreten Kaufempfehlung. Das war vor allem für fürstliche Leser interessant, die nicht nur für den individuellen Konsum, sondern auch für Repräsentationszwecke Pariser Kulturerzeugnisse jeder Art an ihren Höfen benötigten. Das Urteil ihres literarischen Korrespondenten erleichterte dabei die Entscheidung für den Erwerb eines Buches, einer Musikpartitur oder eines Kunstwerkes.
Grimms Correspondance littéraire ist etwas Besonderes
Melchior Grimm erfüllte mit seiner Konzeption einer Correspondance littéraire, wie wir noch sehen werden, alle diese Kriterien des Gattungsmodells, ging aber weit darüber hinaus. Noch heute dürfte das Diktum Gustave Lansons281 Gültigkeit haben: Grimms Correspondance littéraire ist das Meisterwerk (chef-d’oeuvre du genre) seiner Art. Auch in der neuesten Literatur wird Grimms Periodikum zumeist implizit „als Musterbeispiel für die Entstehung, Entfaltung und das Ende des medialen Formats correspondance littéraire“ analysiert.282 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Grimms Correspondance littéraire formale und inhaltliche Eigentümlichkeiten hatte, die sie von anderen Vertretern dieser Gattung stark unterschied. So hat etwa keine andere literarische Korrespondenz eine so lange Publikationszeit aufzuweisen wie Grimms Correspondance. Die meisten Konkurrenzunternehmen hatten einen festgelegten Lieferumfang, das Volumen von Grimms Periodikum dagegen wuchs über die Jahre hinweg stetig an. Ungewöhnlich ist im Vergleich zu anderen Herausgebern auch Grimms außerordentlich persönliches Engagement für sein journalistisches Geschöpf. Für die meisten seiner Kollegen blieb die Tätigkeit als literarischer Korrespondent oft auf wenige Monate oder Jahre beschränkt und stellte mitunter auch nur eine durch die Lebensumstände bedingte Übergangs- oder Verlegenheitslösung dar.283
Grimm betrieb seinen „Laden“ (boutique), wie er manchmal sein Geschäft nannte, außerdordentlich ehrgeizig. Er hatte ein gewaltiges, geistiges und organisatorisches Arbeitspensum zu bewältigen. Der Termindruck war bei zwei Ausgaben pro Monat ungeheuerlich. Zu den persönlichen Opfern, die ihm seine Arbeit für die Correspondance littéraire abverlangte, gehörte unter anderem auch die empfindliche Einschränkung seiner gesellschaftlichen Aktivitäten. In einem Brief an Albrecht Ludwig Graf von Schulenburg vom 25. März 1771284 schreibt Grimm: „Ich bin von morgens bis abends in meinem Büro an den Stuhl genagelt. Ich gönne mir keine Pause, für die Freunde und die Gesellschaft habe ich nur zwei oder drei Stunden am Tag übrig.“ Diese asketische Lebensweise, dieser von der Schreibtischarbeit geprägte Lebensstil, spiegelt sich auch in dem humorvollen Spitznamen „la chaise de paille“ (Korbstuhl, Strohsessel) wieder, den ihm seine Freunde aufgrund seiner häufigen Unansprechbarkeit gaben. In der Pariser Gesellschaft war allgemein bekannt, dass Grimm selten auswärts zu Abend aß, was als eine bizarre Gewohnheit aufgenommen wurde. Die Salonière Necker nahm darauf in einer Einladung ironisch Bezug: „Herr Grimm nimmt wenig Suppe zu sich; das ist sicherlich eine Indiskretion. Trotzdem wage ich es, sie zu begehen.“285 Grimm sprach häufig in seinen Briefen die Belastung an, die ihm seine Arbeit abverlangte, er war aber auch davon überzeugt, dass nur qualitätvolle Arbeit eine gewinnbringende Betätigung sei. Was er seinen Lesern anbot, verstand er als Ware (ma marchandise), aber diese Ware sollte nicht wie auf einem Wochenmarkt feilgeboten, sondern von den Kunden selbst nachgefragt werden. „Eine meiner Spinnereien besteht darin, meine Ware nicht anzubieten“ schreibt der stolze Grimm an Karoline von Hessen-Darmstadt.286 Grimm wollte also seine „Ware“ nicht feilbieten, sondern umgekehrt, er wollte von potentiellen Lesern darum ersucht werden. In vielen Fällen war Grimm mit dieser Strategie erfolgreich und so gelang ihm auch eine gewisse Nivellierung der sozialen Distanz zu seinen fürstlichen Abonnenten. Das bedeutete freilich nicht, dass Grimm keine Initiative unternahm, um den Kreis der Abonnenten seiner Correspondance zu vergrößern. Und auch darin unterschied er sich von seinen Konkurrenten; seine häufigen Reisen dienten nicht zuletzt dem Zweck der Abonnentenpflege. Ein Brief Grimms vom 22. August 1756 an einen Herrn Bovet zeigt, wie er selbst aktiv wurde, neue Subskribenten für seine Correspondance zu gewinnen. Das Schreiben war an eine einflussreiche Person adressiert, diese gab den Brief an einen Minister weiter und der konnte ihn dann dem Souverän bei passender Gelegenheit auf den Tisch legen – so geschah es jedenfalls, um das Interesse des schwedischen Hofes zu gewinnen.287 Beim angesprochenen Beispiel zeigte sich auch wieder einmal, wie hilfreich es sein konnte, über gute Beziehungen zu verfügen. Marquis des Castries, der sich nach dem Tode des Grafen Friesen sehr um Melchior Grimm gekümmert hatte und dem er nun Blätter seiner Correspondance vorlegte, setzte sich als Mittler ein und so konnte Grimm über Baron von Schefer, dem Senator des schwedischen Königshauses, bis zur schwedischen Königin vordringen. Bis Mitte der 60er Jahre war es ihm gelungen in fürstlichen Kreisen außerhalb Frankreichs eine derartige Reputation zu erlangen, dass die Nachfrage durch Grimm kaum noch selbst angeregt werden musste. Seine Correspondance littéraire war zum Selbstläufer geworden. Grimms Selbstinszenierung als freier und ungebunder Literat fand ihre Entsprechung in der Tendenz, selbst inhaltliche Standardanforderungen an das Medium Correspondance littéraire zu stellen. Damit konnte er gewisse Erwartungshaltungen seiner Leserschaft unterlaufen.
Grimms Correspondance littéraire ist ein Sprachrohr der Philosophenpartei
Eine gewisse Exklusivität erhielt die Correspondance littéreaire unter Grimm durch die Nähe zur Partei der Philosophen. Die Correspondance littéraire hat sich mehr als jedes andere Periodikum im vorrevolutionären Frankreich dem Kampf der philosophes um die diskursive Vormachtstellung angeschlossen. Grimm entwickelte seine Correspondance geradezu zu einem Organ der Aufklärungsbewegung, die bei Angriffen seitens der katholischen Kirche, der Parlamente oder gegenaufklärerischer Schriftsteller stets zu Stelle war, um eine Lanze für die „gute Sache“ (bonne cause) zu brechen.
Grimms Engagement für die Sache der Aufklärung erreichte seinen Höhepunkt während der antiphilosophischen Kampagne in den Jahren 1757 bis 1760, als erklärte Gegner die Aufklärer öffentlich zu dununzierten versuchten.288 Als 1760 Palissots289 Komödie „Les Philosophes“ an der Comédie-Francaise uraufgeführt wurde, verschärfte sich noch einmal die Auseinandersetzung zwischen Aufklärern und Gegenaufklärern. Grimm entlarvte die Kampagne als eine politisch gewollte Suche nach Sündenböcken für die französischen Niederlagen im Siebenjährigen Krieg. Zur Aufführung der „Philosphes“ gab Grimm folgenden Kommentar ab: „Die Dinge sind bereits so weit gediehen, dass es heute kaum noch einen Menschen gibt, der den Fortschritt der Philosophie in unserem Lande nicht als die Quelle aller unserer und als die Ursache der meisten Misserfolge ansieht, denen Frankreich seit einigen Jahren zu erliegen droht. Man sollte doch annehmen, dass die Ursachen, die uns die Schlachten von Roßbach und Minden verlieren ließen und die Vernichtung und den Verlust unserer Flotten verschuldeten, unmittelbar und bekannt genug sind. Wenn Sie aber nach der Meinung des Hofes fragen, wird man ihnen sagen, all diese Misserfolge seien der neuen Philosophie zuzuschreiben; sie habe den militärischen Geist, den blinden Gerhorsam und alles ertötet, was früher in Frankreich große Männer und glorreiche Taten erzeugt hat. Vergeblich würde man erwidern, erst seit das Gesetz in Kraft ist, seit Gerechtigkeit bei der Ernennung der Staatsminister herrscht, seit das Verdienst belohnt wird, seit die Mittelmäßigkeit und die Intrige nicht mehr die Ehren erlangen, die dem Mut und den Talenten gebühren, erhalte sich der Geist der Nation, der Sinn für Ruhm und alles Große, und pflanze sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fort. Vergeblich würde man darauf hinweisen, dass das englische Volk seit über hundert Jahren aufgeklärter ist, als wir es je sein werden, und dass der Umstand, dass es Männer wie Hobbes, Collins und Locke gab und heute noch solche wie Hume und Johnson gibt, die englische Infanterie am Tag von Minden nicht gehindert hat, dem Ansturm der besten französischen Kavallerie standzuhalten und einen denkwürdigen Sieg davonzutragen.“290
Die Correspondance littéraire und die kritische Öffentlichkeit als Mittel der Aufklärung
Eine entscheidende Voraussetzung für alle Bemühungen um Aufklärung sah Grimm im Gelingen einer Symbiose zwischen den Vertretern der république des lettres (Gelehrtenrepublik) und der Öffentlichkeit, dem Publikum. Voltaire hatte seiner Meinung nach mit seinen Schriften und Theaterstücken das breite Publikum für die Ideen der Aufklärung empfänglich gemacht, damit hatte er auch den Boden für andere philosophes vorbereitet.
Grimm wollte die Rolle des Publikums jedoch nicht im bloßen Empfangen von Botschaften beschränkt sehen, er sprach dem Publikum auch ein Richteramt zu und hoffte, dass durch öffentliches Nachdenken eine fruchtbare Weiterentwicklung möglich sei. Zwischen den Vordenkern der Aufklärung, der république littéraire, und einem räsonierenden Publikum könnte so eine gegenseitige Aufklärung in die Wege geleitet werden an deren Ende alle zusammen zu einem besseren, zu einem aufgeklärteren Urteil gelangen könnten. Grimm macht dies am Beispiel von Montesquieus Werk „Vom Geist der Gesetze“ deutlich: „Das Werk „Vom Geist der Gesetze“ hat im Sinne der Nation eine Revolution herbeigeführt. Die besten Köpfe des Landes haben sich seit sieben oder acht Jahren mit Politik, Wirtschaft und Handel beschäftigt. Die Angelegenheiten der Regierung werden immer mehr zum Material philosophischer Diskussion. Der Fortschritt schreitet voran und ich vermute, dass wir, wenn wir nicht nachlassen, bald so geschickt sein werden wie die Engländer.“291 Hier wird von Grimm Kants Theorem vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft vorweggenommen. Die kritische Öffentlichkeit wird zu einem Mittel der Aufklärung. In einem anderen Zusammenhang lobt Grimm Cantillons „Essai sur la nature du commerce en géneral“, weil er die Einsichten des Verfassers für geeignet hielt zu zeigen, dass verschiedene Sichten (une infinité de vues) ein und derselben Sache, der Sache selbst nur dienlich sein konnten. 292
In seiner Besprechung von Lord Bolingbrokes „Testament politique“ greift Grimm begeistert den Vorschlag des Autors auf, einen „catalogue raisonné“ aller Fehler und Missbrauche der staatlichen Verwaltung zu veröffentlichen. „Ich wage hinzuzufügen, dass Lord Bolingbrokes Werk eines der aufgeklärtesten und weisesten Bücher für die Bürger der verschiedenen Staaten Europas ist. Man könnte dieses Buch die „Weisheit Europas“ nennen. Man kommt der Heilung näher, wenn man die Art des Übels kennt und nicht darauf hört, was die Minister im eigenen Interesse an Entschuldigungen vorbringen mögen. Ein solches Buch verdiente es zum Katechismus der Könige und Völker zu werden.“293
Hier wie in anderen Kontexten zeigt sich Grimm misstrauisch gegenüber jeglicher Geheimpolitik. Er fordert uneingeschränkte Publizität als notwendige Voraussetzung jeder Verbesserung der Verhältnisse. Wozu es führen kann, wenn man unangenehme Wahrheiten verschweigt, verdeutlicht er mit dem Bilde eines Schlafenden in einem brennenden Haus: „Es gibt weder eine schädliche noch eine gefährliche Wahrheit. Es ist also falsch zu sagen, dass man den Leuten bestimmte Wahrheiten vorenthalten müsse. Was wahr ist […] ruft nicht weniger Wirkungen hervor, als wenn man die Wahrheit ignorieren würde. […]. Man wird doch nicht behaupten wollen, dass man einen Mann, der inmitten des Feuers schläft, nicht aufwecken dürfe, weil man ihm damit noch mehr Angst machen würde. Er wird zweifellos mit viel weniger Schmerz und weniger Furcht umkommen, wenn er gleich vom Schlaf in den Tod gehen kann, aber gleichzeitig wird er aller Mittel beraubt, die ihn aus der Gefahr bringen könnten. Je mehr er die Gefahr ignoriert, um so größer wird der Verlust sein.“294
Grimms Öffentlichkeitskonzept orientiert sich am englischen Modell der politischen Öffentlichkeit, das sich als Gegenpol zur Sphäre der Staatsgewalt versteht. Grimm hielt die Rückkoppelung des politischen Betriebes an die öffentliche Kommunikation für dringend erforderlich. Dazu benötige man, sagt Grimm, als Qualifikation nichts anderes als den gesunden Menschenverstand und eine patriotische Gesinnung. In der Correspondance littéraire präsentierte er seinen Lesern in der Figur eines anonymen Kaufmanns aus Montpellier295 dazu den Typ eines aufgeklärten Bürgers, wie er seiner Meinung nach sein sollte. Das Werk des Kaufmanns aus Montpellier „Les Intérets de la France mal entendus“ besprach er gleich in zwei Leitartikeln. Grimm konnte dem Werk, des ihm unbekannten Autors zwar keine besonderen literarischen Qualitäten abgewinnen, was ihn in seinen Augen aber auszeichnete, waren dessen Erkenntnisse, die er aus praktischen Erfahrungen gewonnen hatte: „All das kommt von einem Händler aus Montpellier, dessen Sicht und dessen Fleiß großes Lob verdienen. Sein Name, der mir nicht mehr bekannt ist, hat viel mehr Recht auf Berühmtheit als diese Menge schöner untergeordneter Geister, die uns mit ihren frivolen Produktionen belästigen. […] Obwohl der Autor weder politischer Denker noch großer Philosoph noch guter Schriftsteller ist und auch über keinen methodischen Geist verfügt, glaube ich doch, dass es nur wenige Bücher über dieses Materie gibt, die man mit mehr Gewinn lesen kann als das seine. […]. Neben der edlen Offenheit, mit der der Autor zum Bürger spricht, gibt es keine Arbeit, in der Fehler, Vorurteile und Übel so genau beschrieben werden wie bei ihm.“296 Obwohl das besprochene Werk nicht im Mindesten Grimms Ansprüchen an eine literarisch-künstlerische Produktion genügen kann, hat es doch seine Daseinsberechtigung im öffentlichen Kommunikationsraum, weil es für Widerspruch und Diskussion sorgt. Der öffentliche Meinungsaustausch durch Vermittlung der Presse ist nach Grimm die beste Möglichkeit, sich vor politischen Rattenfängern zu schützen.297 Erst wenn die Konsensfindung im Rahmen eines rationalen Diskurses abgeschlossen ist, könne die Regierung die gemeinsam erarbeitete Lösung Punkt für Punkt umsetzen. In der Augustausgabe der Correspondance littéraire von 1756 können wir dazu von Grimm das Folgende lesen: „Ich habe immer gedacht, dass es gut sei, dem Ministerium ein Gedächtnis in gedruckter Form vorzugeben; denn, wenn es schlecht und unnötig ist, wird es sehr schnell in Vergessenheit geraten, wenn es aber gut ist, wird es die Öffentlichkeit selbst sein, die es dem Ministerium vorstellen wird. Man kann sagen, dass bei allen großen Operationen die Regierung die Öffentlichkeit befragen sollte, wenn sie die Sache zu einem guten Ende bringen will.“298
In seiner Correspondance littéraire bezog Grimm zunächst eindeutig und mutig Stellung gegen jegliche Publikationseinschränkung politischer Schriften: „Ein Minister, der seine Stelle übernähme und ein Gesetz erließe, das ausdrücklich und bei Todesstrafe verböte, über die Angelegenheiten der Regierung und der öffentlichen Verwaltung zu schreiben, würde sein Ministeramt mit einem ebenso harten wie lächerlichen Gesetz antreten. Allein durch diese Maßnahme hätte er einen Maßstab gesetzt für die Einschätzung seines geistigen Horizonts und seiner Fähigkeiten; er hätte preisgegeben, welcher Art sein Vorgehen ist und sozusagen im Voraus einen Freibrief seines Herrn in Anspruch genommen mit der Folge, ungestraft alle möglichen Dummheiten zu begehen, ohne von irgendjemand im vollen Genuss und in der unbeschränkten Ausführung seiner Mittelmäßigkeit behindert zu werden. Es ist nämlich dies der wesentliche Unterschied zwischen einem Mann, der in der Öffentlichkeit steht, und einem Privatmann, dass dieser, wenn er sich fragt, wie sein Leben zu führen sei, nur seine Freunde um Rat bitten kann, während der in der Öffentlichkeit Tätige, was seine Pläne betrifft, alle um Rat fragen kann und muss. Wenn Meinungen aufeinander stoßen, entsteht, funkelnd in all ihrer Klarheit, die Wahrheit, und der Minister, der nicht möchte, dass Dummheiten über die Aktivitäten geschrieben werden, die ihn beschäftigen, ist in großer Gefahr, solche Dummheiten zu begehen.“ 299
Grimm ging jedoch in seinen Überlegungen nicht so weit, das antike republikanische Modell der Selbstregierung auf die absolutistischen Monarchien seiner Zeit übertragen zu wollen. Das Partikularinteresse der Bürger-Untertanen konnte seiner Meinung nach in Ländern von der Größe Frankreichs oder Russlands nicht im öffentlichen Meinungsaustausch durchgesetzt werden. Grimms Lösung bestand darin, das Ideal der Selbstregierung durch die öffentliche Sorge um die Erziehung des Monarchen zu ersetzten. Die Interessen der Nation werden am besten wahrgenommen, wenn an ihrer Spitze Monarchen stehen, die von den Ideen der Aufklärung durchdrungen sind.300 Wenn dann diese Herrscher dann auch noch von weisen Männern und Kritkern wie ihm beraten werden (philosophes), um so besser.
Aber was versteht Grimm eigentlich unter Öffentlichkeit? Grimm nimmt keine klare Trennung zwischen der vernunftgesteuerten und überpersönlichen öffentlichen Meinung einerseits und der unsteten, mit Vorurteilen und Leidenschaften behafteten Volksmeinung andererseits vor. Grimm wollte zwar einen öffentlichen Diskurs in kritischer Absicht auch an das politische System Frankreichs anlegen, gleichzeitig musste er aber erkennen, dass eine wie immer geartete Öffentlichkeit zu seiner Zeit nicht in der Lage war, rationale und nachhaltige Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls zu treffen. Diese Einsicht in die prinzipielle Unvereinbarkeit von politischer Öffentlichkeit und absolutistischer Regierungsform begründete Grimms kritischen Standpunkt gegenüber der französischen Monarchie, in der nach seiner Beobachtung unabhängige Stimmen wie die seines Freundes Diderot, zumeist ignoriert und unterdrückt wurden. Daher setzte er alle Hoffnungen auf einen aufgeklärten Absolutismus. In den ausländischen Monarchen Friedrich II., Joseph II. und Katharina II. sah er Herrscherpersönlichkeiten, die ihre Staaten im Sinne der Aufklärung voranbringen konnten.
Die Konzeption einer kritischen Öffentlichkeit gerät in der Correspondance littéraire ab Mitte der 1760er Jahre immer mehr in den Hintergrund. Den Boden des Fortschrittsoptimismus verlässt Grimm endgültig mit seiner Hinwendung zum negativen Modell der öffentlichen Kommunikation. Was in der Polis der alten Griechen noch möglich war, sei auf die Gegenwart, so Grimm, nicht zu übertragen. „Die Alten, immer befasst mit großen Gegenständen, ignorierten die Manie, sich um frivole und unnötige Fragen zu kümmern. Wenn die Republik von Plato heute erschienen wäre, hätte sie einen Federkrieg verursacht, der länger gedauert hätte als der Trojanische Krieg.“301 Im gleichen Beitrag stellt Grimm noch folgende Überlegungen an: „In dem Maße wie eine Nation zivilisiert und aufgeklärt ist, braucht sie ihre Regierung nicht zu wechseln, es genügt einige Fehler zu korrigieren. Das gilt ganz allgemein: es wäre absurd, den Türken vorzuschlagen, sie sollten sich in ihrer Art ändern, sie sollten ihre Regierung gegen eine republikanische oder monarchische eintauschen. Man kann nur Nuancen ändern und es bedarf Jahrhunderte und vieler Revolutionen, um irgendeine spürbare Änderung herbeizuführen.“302 Diese Sätze sind Hinweise auf Grimms allgemeine Weltsicht: er war alles in allem ein skeptischer Aufklärer, der Verbesserungen nur in kleinen Schritten erwartete.