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Grimm lernt Frau von Épinay kennen – Holbach: Grimms Freund - Grimm und Diderot’s Enzyklopädie - Abbé Raynal macht Grimm ein verlockendes Angebot – Grimm wird Netzwerker -
ОглавлениеEs war vermutlich sein Freund Rousseau, der Grimm um 1752 bei Madame d’Epinay einführte und man muss sagen, dass Rousseau überhaupt derjenige war, der Grimms Bedürfnis nach Bekanntschaften aufs Beste zu fördern verstand. Er hatte ihn mit Diderot befreundet und er gewann ihm die Freundschaft Gouffecourts. Er führte ihn zu Frau von Chenonceaux, zu Baron von Holbach und eben auch zu Frau von Epinay. Damit erwies er Grimm einen unschätzbaren Dienst, denn Frau Epinay sollte für Grimm bald zur wichtigsten Frau der folgenden Jahre werden. Grimm muss auf Frau Epinay gleich bei der ersten Begegnung großen Eindruck gemacht haben. Frau von Épinay beschreibt die erste Begegnung mit Grimm in ihren sog. Memoiren. Sie traf ihn in Begleitung von Rousseau und ihrem Freund Francueil bei Madame de la Poplinière, es war ein typischer Salonabend:“255 „Ich habe den gestrigen Abend bei Madame Poplienière zugebracht wo ich auch die Bekanntschaft von Francueil’s Vater machte. In unserer Gesellschaft waren Francueil, Rousseau, dessen ausländischer Freund Grimm, mit dem ich oft redete; schließlich war da noch Desmahis, ein junger Schriftsteller, der Autor einer sehr erfolgreichen Komödie... Das Gespräch plätscherte so dahin. Man diskutierte über die französische und italienische Musik, das war einigermaßen interessant. Mit Vergnügen hörte ich den Ausführungen des Herrn Grimm zu. Roussau und Francueil hatten mir einen Mann vorgestellt, den ich kennenlernen wollte...“ Schon am nächsten Tag erhält Grimm eine Einladung zum Diner. „Herr Grimm ist mit Rousseau gekommen, um mich zu sehen. Ich hatte ihn für den nächsten Tag zum Diner eingeladen. Ich war sehr erfreut ihn zu sehen. Er ist süß und zuvorkommend; ich denke, er ist ein wenig schüchtern, besitzt aber Esprit. Er liebt leidenschaftlich die Musik und er hat den ganzen Nachmittag mit Rousseau und Francueil musiziert. Ich habe ihm einige Kompositionen von mir gezeigt, die ihm viel Freude bereitet haben. Wenn mir etwas an ihm nicht gefiel, so war es das übertriebene Lob, das er meinen Talenten zusprach. Seine Liebe zur Wissenschaft, zur Kunst und zur Literatur teilt er mit dem Grafen Schomberg, dessen Kinder er nach Paris begleitete. Er war damals 29 Jahre alt: er ist jetzt vierunddreißig. Die herzliche Freundschaft, die er für Graf Friesen und den Grafen Schomberg empfindet, hat ihn an Frankreich gebunden, wo er sich ganz und gar dem Studium der Literatur widmet. Er wohnt beim Grafen Friesen, der, wie Sie wissen, Oberst war. Grimm versucht seine Arbeit gut zu machen, ist aber ohne Ambitionen.“256
Frau von Épinay, die Freundin
Wer war diese Frau von Epinay und warum sollte sie bis zu ihrem Lebensende die wichtigste Frau an Grimms Seite werden? In einem Brief an Sophie Volland beschreibt Diderot Madame d’Épinay so: „Sie stützt sich auf einen Tisch, mit lässig übereinandergekreuzten Armen, den Kopf ein wenig gewendet, als blicke sie einen von der Seite an, ein Band schlingt sich um ihre Stirn und hält die langen schwarzen Haare im Zaum; ein paar Locken sind aus dem Band geschlüpft und fallen auf ihre Brust herab, die andern umfließen ihre Schultern und unterstreichen deren Weiße. Ihre Kleidung ist einfach und nachlässig.“257 Sie sei nicht hübsch aber auch nicht hässlich gewesen schrieb Frau von Epinay über sich selbst in einer ihrer frühen Notizen. „Ich bin klein, dünn und habe eine gute Figur. Ich habe ein jugendliches Aussehen aber ohne Frische, wirke stattlich, sanft, lebhaft und interessiert.“258 Voltaire erwähnte ihre großen schwarzen Augen, ein junger Bewunderer aus Genf sagte: „Ihre Augen sind so schön, so weich, so seelentief, dass man kaum über den Rest etwas wissen muss.“
Wer heute nach Bildnissen von Madame d’Épinay sucht, wird in aller Regel auf zwei Porträts von Jean-Étienne Liotard stoßen; die beiden Pastellbilder finden wir im Kunsthistorischen Museum von Genf. Liotards Portraits zeigen eine nachdenkliche, lebenserfahrene etwas zweifelnde aber charaktervolle Frau, die einem Gesprächspartner zu lauschen scheint, wohlwollend und verständnisvoll. Sie ist nicht eigentlich schön zu nennen, strahlt aber etwas aus, das zwischen mütterlicher Strenge und neugieriger Anteilnahme an der Welt liegt. Sie führt den Zeigefinger der rechten Hand ans Kinn und scheint uns Nachgeborenen über die Zeiten hinweg sagen zu wollen: Achtet auf euer Leben und geht bedachtsam mit ihm um. Die Genfer Bilder entstanden um 1760, da war Frau von Epinay 34 Jahre alt. Als Grimm sie zum ersten Mal sah, war sie 8 Jahre jünger und wie andere Portraits aus jenen frühen Tagen ihrer Bekanntschaft zeigen, durchaus auch eine verführerisch wirkende Frau.
Louise Florence Pétronille Lalive, Marquise d’Épinay wurde 1726 in Valenciennes geboren und starb 1783 in Paris. Sie war eine bekannte Salonière, die in ihrem Haus die Enzyklopädisten um Diderot und andere bekannte französische Literaten empfing. Sie war Tochter des Brigadegenerals der Infanterie und Gouverneuer der Zitadelle von Valenciennes Louis-Gabriel Tardieu, Marquis d’Esclavelles und seiner Ehefrau Florence Angélique Prouveur de Preux. Louise verlor mit neun Jahren ihren Vater und wurde ab 1736 unter der Vormundschaft des französischen Königs Ludwig XV. in der Abtei Fontevrault erzogen. 1743 heiratete sie ihren Cousin, den Hauptzollpächter Denis-Joseph Lalive, Marquis d’Épinay. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor. Nach der Geburt des zweiten Kindes kam es zum Bruch der ehelichen Beziehungen, weil sie die außerehelichen Verhältnisse ihres Mannes nicht mehr tolerieren wollte. Sie ging nun selbst eine längere Liebesbeziehung mit dem Schriftsteller Charles Louis Claude Dupin, Seigneur de Francueil ein, der mit Maria-Aurora von Sachsen verheiratet war. Aus der Verbindung mit Francueil gingen wiederum zwei Kinder hervor. 1748 machte Frau von Épinay Bekanntschaft mit Jean-Jacques Rousseau, der zu dieser Zeit im Hause Dupin-Francueil eine Stelle als Sekretär innehatte.259 Man nimmt an, dass Rousseau seinen Freund Grimm um 1752 Frau von Épinay vorgestellt hat. Frau von Épinay führte ein Tagebuch und so können wir parallel zu Rousseaus Bekenntnissen eine einigermaßen genaue Datierung der Ereignisse vornehmen. Frau von Épinay stand mit bekannten Männern ihrer Zeit im Briefwechsel, auch in diesen Briefen finden wir viele Hinweise auf ihr Verhältnis zu Grimm. Als Schriftstellerin erwarb sie sich vor allem mit „Les Conversation d’Émilie (1774) und der „Correspondance de l’abbé Galiani“ große Anerkennung. Ihre sog. Pseudomemoiren „L’Histoire de Madame de Montbrillant“260 begann sie mit dreißig Jahren an zu schreiben. Sie wurden zu ihren Lebzeiten jedoch nicht veröffentlicht. Über diese Memoiren sagte Sainte-Beuve später: „Niemand hat die Gesellschaft und die Bräuche im Frankreich des 18. Jahrhunderts besser beschrieben: Frau von Épinays Memoiren sind kein Buch, sie sind eine Epoche.“261
Ihre erste Liebesaffäre außerhalb der Ehe hatte, wie wir schon wissen, Frau von Épinay mit Charles-Louis Dupin de Francueil, einem stattlichen, gut vernetzten Finanzbeamten. Er war sehr um Louise bemüht und sie fand ihn charmant. Er gab ihr Unterricht in Komposition, zeigte sich als talentierter Maler, verfügte über ein breites Wissen und wusste Louise glänzend zu unterhalten. Nach ihren Erfahrungen mit dem untreuen Ehemann, der ihr durch seine außerehelichen Kontakte wohl auch eine Geschlechtskrankheit einbrachte, waren Francueil’s Besuche in jenen trüben Tagen der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Es entwickelte sich bald ein Liebesverhältnis und Frau von Épinay notiert für den 21. April 1748 folgende Worte in ihr Tagebuch: „Der Tag bricht an: und der Gerechte hebt die Augen zum Himmel, dankt dem Schöpfer für das, was er genossen hat; er bittet um seinen Segen für die Arbeit des Tages. Während die Schuldigen sich durch einen unruhigen Blick verraten, die Aufregung verwirkt ihnen den Segen. Komm, o komm, oh du, den ich verehre! Nur in deinen Armen, in deinen Armen kann ich mich verstecken und meine Scham, meine Reue ersticken.“ 262
Mit Beklommenheit denkt sie an ein bevorstehendes Zusammentreffen mit ihrem Mann, wie wird sie ihm gegenüber treten können? In ihr Tagebuch schreibt sie: „Ich werde mich nie daran gewöhnen die köstliche Erregung meines Herzens zu verbergen. Mein Gesicht muss mein Ankläger sein. Wie soll ich den Blick meines Mannes ertragen, wenn er zurückkommt. Nur zu mir selbst, in der Dunkelheit der Nacht, bin ich in der Lage die gestrigen Begebenheiten zu bekennen. Möge ich heute glücklich sein... und möge die Begeisterung, die mein Herz erfüllt endlich die Skrupel ersticken.“ 263 Das Glück mit Francueil dauerte drei Jahre und es war das Verdienst ihres Geliebten, dass sie die Leichtigkeit und das Feuer ihrer frühen Kindertage wieder fand. Am 1. August 1749 wurde dem Liebespaar eine Tochter geboren, ihr Mann machte ihr daraus keine Schwierigkeiten, die Mutter, Frau von Esclavelles, machte ihr keine Vorwürfe und auch der Schwiegervater Bellegarde und ihre Freunde machten daraus keinen Skandal. Man lebte eine Zeitlang recht komfortabel in diesen etwas komplizierten Verhältnissen, spielte weiterhin zusammen Theater und 1748 konnte Francueil für das Dorffest von Épinay seinen Freund Rousseau gewinnen, aus diesem Anlass ein Stück zu schreiben. Dabei kam eine Komödie in drei Akten heraus, die „L’Engagement témémire“ genannt wurde. Rousseau war extra aus Genf nach La Chevrette, dem Wohnsitz der Familie Épinay, gekommen. Er war zu dieser Zeit noch ein unbekannter Autor, aber schon zwei Jahre nach der Aufführung von „L’Engagement témémire“ im Schloss von Chevrette, war Rousseau durch seine Dijoner Preisschrift berühmt geworden.
Rousseau gehörte bald zum Kreis der gern gesehenen Gäste bei Frau von Epinay, die nun ein großes Haus führte. Hier verkehrten auch, nicht zuletzt auf Francueils Betreiben hin, der Dramatiker Mariveaux und Charles Duclos, beide waren Autoren erotischer Novellen und geschichtlicher Abhandlungen. Für Frau von Épinay waren die Gesellschaften mit den gelehrten Männern ihre „Universität“. Sie selbst war geistreich, glänzend in der Rede und den Schriftstellern zugeneigt, sie erwarb Rousseau’s Wertschätzung und die Aufmerksamkeit der anderen. Duclos stärkte ihr Selbstbewusstsein und sagte ihr, dass sie mehr Geist habe, als sie zu haben glaube und er betonte, dass er alles daran setzen wolle, ihr Talent zu fördern. Er tat sein Bestes, konnte aber Francueil, den Liebhaber, nicht ersetzen.
Die Stimmung im Hause d’Épinay konnte auf Dauer aber nicht in Harmonie gehalten werden. Die Extravaganzen des Ehemannes, seine Schulden und die Weigerung etwas zum Haushalt beizusteuern, sorgten bei Frau von Épinay immer wieder für Missmut. Am 29. Mai 1753 bekam Frau von Épinay von Francueil ihr zweites Kind, einen Sohn. Das Verhältnis mit Francueil aber ging darauf bald in die Brüche, die Gründe dafür verlieren sich etwas im Nebel. In „Mme de Montbrillant’s Erzählungen“ kann man vielleicht die wahren Hintergründe schemenhaft erkennen. Dort gesteht „Formeuse“ (Francueil) seiner Mätresse Mme de Montbrillant (Frau von Épinay) eine Affäre mit einer jungen Frau. Francueil hatte tatsächlich zusammen mit Herrn Épinay „les demoiselles Verrières“ besucht. Es war dieses Fremdgehen, das Grimm für Louise d’Épinay den Boden bereitete. Jetzt konnte und wollte sie sich ihrem „savoir“ (Wissenden), wie sie Grimm nannte, geneigter zeigen.
Ausschlaggebend für eine Änderung der Verhältnisse aber war ein Ereignis, dass Frau von Épinay um die Jahreswende 1752/53 in einem etwas schlechten Licht erscheinen ließ. Beim Tode ihrer Schwägerin, Frau von Jully, verbrannte Frau von Épinay in aller Eile geheime Papiere, die sie auf dem Schreibtisch der Sterbenden fand. Als man später nach Unterlagen suchte, die eine Schuld des Herrn von Épinay gegen den Mann der Verstorbenen bekundeten, waren auch diese Papiere verschwunden. Es war daher nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass nun einige Leute behaupteten, Frau von Épinay hätte mehr verbrannt als ihr angeblich aufgetragen war. Grimm reagierte auf diese Verleumdung, indem er die Ehre Frau von Épinays mit dem Schwert verteidigte. In einem Duell wurden sowohl er als auch der Ehrabschneider verletzt. Frau von Épinay hörte von der Verwundung Grimms, die er sich in der Verteidigung ihrer Ehre zugezogen hatte. Grimm besuchte wenig später Frau von Esclavelles, die Mutter Louises. Bei der Begrüßung sagte sie zu Louise gewandt: „Ma fille, embrassez votre chevalier.“ Als Frau von Épinay Grimm auf das Duell ansprach, sagte er: „Was ich verteidigte war Nächstenliebe, reine Nächstenliebe.“ Von da an änderte sich das Verhältnis zu Grimm entscheidend; Grimm wurde der auserwählte Berater der Herrin von Chevrette. Frau von Épinay schreibt an Grimm: „Sehe ich Sie morgen nicht? Ich habe eine kleine Beratung mit Ihnen zu halten – über meine Kinder.“ An anderer Stelle sagt sie: „Er studiert auf das Aufmerksamste mit mir den Charakter der Kinder; wir teilen uns unsere Beobachtungen mit, und nach unseren Beratungen... entscheide ich, welche Bahn ich mit ihnen einzuschlagen habe.“ Und weiter lesen wir bei ihr: „Es ist gewiss, dass man nicht lange in Verbindung mit Herrn Grimm leben kann, ohne die Liebe zur Tugend in sich vermehrt zu sehen.“
Nun war die Kindererziehung nicht gerade Grimms Spezialgebiet, gleichwohl kannte er sich als ehemaliger Hofmeister ein wenig aus und konnte sicher so manchen Tipp zur Ausbildung des Nachwuchses abgeben. Wichtiger als Erziehungsratschläge aber war die aufmerksame Teilnahme an Frau von Épinay’s Interessen und Sorgen, sie brachte ihm die Sympathie von Louise ein. Grimm dehnte seine Ratgebertätigkeit bald auch auf die sozialen Beziehungen der Frau von Épinay aus und betrat damit ein nicht ungefährliches Terrain. Er rät seiner neuen Dame zur Vorsicht, nicht allen Freunden dürfe man rückhaltlos vertrauen, sagt er in aller Liebenswürdigkeit. Ob Grimm mit seinen Warnungen einen Plan verfolgte, wie ihm dies Rousseau später unterstellte, kann bezweifelt werden. Tatsache aber ist, dass er nacheinander zuerst Duclos und dann Francueil aus dem Rennen warf. Zwischen Frau von Épinay und Duclos hat er mit seiner Äußerung „Wissen Sie, dass Duclos sich rühmt, Ihre Gunst gehabt zu haben, und sie noch alle Tage haben zu können, so sehr er will“ gewiss einen Keil getrieben. Louise weist diese Behauptung weit von sich und will Duclos nicht mehr in ihrem Hause sehen. Davon aber will Grimm nichts wissen, eine solche Reaktion wäre seiner Meinung nach nicht besonders klug. Louise aber wollte den Verleumder nicht länger in ihrem Haus dulden und schloss ihn bei der nächsten Gelegenheit aus ihren Gesellschaften aus.
Grimm behauptet das Feld
Nachdem Grimm als „Sauveur“ (Retter) bei Frau von Épinay im Ansehen gestiegen war, wurde Francueil als Liebhaber aus dem Feld geräumt. Francueil mutmaßte wohl nicht zu Unrecht, dass Grimm hinter der ihm nicht verborgen gebliebenen, veränderten Sinnesart seiner Mätresse stand, er wollte aber nicht sofort klein beigeben. Er bat es sich als eine Gnade aus, nicht zusammen mit Grimm zu Frau von Épinay geladen zu werden. Doch Grimm hatte sich schon das Recht erkämpft zu jeder Stunde des Tages kommen zu dürfen, das musste unweigerlich zum Zusammenstoß mit Francueil führen. Um ein Duell der Herren zu vermeiden, fordert sie Francueil auf, das Haus auf der Stelle zu verlassen. Sie fürchtet um das Leben des ehemaligen Geliebten und möchte trotz allem seine Freundin bleiben. Grimm aber fordert nun einen harten Schnitt und reagiert mit stolzer Kälte. Als Louise einen Brief an Francueil zustellen lassen will, entgeht das Grimms Aufmerksamkeit nicht. Er glaubt sich betrogen und will umgehend das Haus verlassen, muss aber bleiben, weil er zu dieser Stunde keine Gelegenheit findet, nach Paris zu kommen. Francueil hat am anderen Morgen seiner ehemaligen Geliebten für immer Lebewohl gesagt und es findet folgende Unterhaltung zwischen Louise und Melchior Grimm statt:264
Epinay: Mein Freund, ich finde Sie nicht, wie ich Sie glaubte, Sie sind hart und tyrannisch; es scheint mir, als ob Sie in der Rolle des Freundes die Grenzen, die die Milde und Nachsicht vorschreiben, überschritten hätten.
Grimm: Ich habe es vorhergesehen, Madame, dass ein so fester, so scharfer Charakter, wie der meinige, schlecht zu der Schwäche des Ihrigen passe. Ich kann meinen Freunden nur nützlich sein in der Art wie ich bin (qu’avec ma facon d’ètre.).
Epinay: Oh, es ist nicht zweifelhaft, mein Herr, dass die Wohltaten, die Sie anderen erweisen, diesen sehr teuer zu stehen kommen (leur coute prodigieusement).
Grimm: Ich fühle es, aber ich habe es Ihnen zum Voraus gesagt. Sie haben meinen Rat verlangt, und Sie wissen, wie wenig ich mich eilte, ihn zu geben. Aber es steht mir nicht an, dass man ihn verlangt, um ihn zu verachten. Ich wiederhole Ihnen, Madame, vielleicht hängen Sie an Ihren alten Verbindungen mehr, als Sie selbst glauben.
Epinay: Sehen Sie, wie ungerecht Sie in Ihrem Verdachte und wie grausam Sie in Ihrem Benehmen sind (Epinay zeigt Grimm Francueils Abschiedsbrief).
Louise hat an dieser Auseinandersetzung mit Grimm gelitten. In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Ich gestehe, dass er sich über mein Benehmen hatte täuschen können; aber es wurde mir deswegen nicht weniger schwer, seine Härte, trotz aller Reue, die er mir bezeigte, und aller Mühe, die er sich gab, sie wieder gut zu machen, zu vergessen. Dies Ereignis hat so tiefe Spuren der Hoffnungslosigkeit in meine Seele geworfen, dass ich sie mein ganzes Leben fühlen werde, und obgleich ich gegenwärtig beruhigt bin, so lebt in mir eine Schwermut fort, die zu besiegen mir unmöglich ist.“
War das eine harte und herzlose Verhaltensweise, die Grimm da an den Tag legte? Folgte er in seinen Handlungen einer kühlen Berechnung, wie ihm dies auch Rousseau später unterstellte? Kümmerte sich Grimm um die Kinder der Frau von Épinay nur, weil ihm dies Vorteile im Kampf um seine soziale und gesellschaftliche Stellung bringen konnte?
Stellt man die Erinnerungen der Beteiligten Zeitgenossen einmal parallel nebeneinander, schlingert das Urteil je nach Perspektive und Eigeninteresse ein wenig hin und her. Wir gewinnen von Grimm, je nach Brille des Betrachters, unterschiedliche Bilder. Rousseau sah in ihm einen Verräter und Zyniker, für Diderot blieb er immer der beste Freund, die meisten Briefpartner schätzten sein abwägendes Urteil, Hoheiten und Fürsten verlangten nach seinem Rat und Frau von Épinay blieb bis zu ihrem Tod an seiner Seite. Und warum sollte Grimm nicht auch darauf bedacht sein, seinen Vorteil zu nutzen, die Gelegenheiten beim Schopfe zu packen? Außer seiner Bildung, seiner Neugier, seinem Wissensdrang, seinen guten Beziehungen hatte er nichts vorzuweisen, er war nicht von Adel, hatte kein Geld und verfügte über keine sonstigen Besitztümer; er konnte immer nur aus dem Gewinn ziehen, was sich ihm anbot. Dass er zum Kreis der Enzyklopädisten gezählt werden kann, ist seinem Einsatz im Kreis der Aufkläreer um Diderot zu verdanken, dass er ein guter Journalist und Kritiker werden sollte, wird bald zu zeigen sein und dass er auch seine menschlichen Qualitäten hatte, wird der weitere Lebensweg beweisen.
Grimm und Holbach verreisen
Im Sommer des Jahres 1754 reiste Grimm mit einem seiner neuen Freunde, dem Baron Holbach, in den Süden Frankreichs. Baron Holbach suchte nach dem Tod seiner ersten Frau, er war in eine tiefe Verzweiflung gestürzt, die Zerstreuung im Kreise einiger Freunde. Vor Antritt der Reise fragte Frau von Épinay ihren Freund Grimm: „Wer wird mich verteidigen, mein Herr, wenn ich während Ihrer Abwesenheit beleidigt werde?“ Grimm antwortete: „Ihre beste Verteidigung, Madame, wird die Aufzeichnung Ihres bisherigen Lebens sein.“ Dass Grimm zu den Reisebegleitern des Barons zählte, spricht für dessen gutes Verhältnis zum zweiten Deutschen im Kreis der Enzyklopädisten. Grimm berichtet Gottsched im Brief vom 10. September 1754 über seine Freundschaft zu Holbach, den Tod von dessen Gemahlin und über die gemeinsame Reise: „Soeben wurde uns Frau von Holbach im zarten Alter von 24 Jahren genommen. Wir sind untröstlich. Diese Frau war ein Engel, sie besaß alle Tugenden, wurde von ihrem Mann angebetet [...]. Sein Haus zählte zu den angenehmsten von Paris. Dieses Haus wird fortbestehen aber es ist zum Grabmal für diese Frau geworden. Wir werden eine Reise machen, um uns von der Stelle zu entfernen, wo das Unglück über uns hereingeborchen ist. Wir werden nach Lyon, Marseille und Montpellier gehen und beabsichtigen Ende Oktober wieder in Paris zu sein, wo ich auf Nachrichten von Ihnen hoffe.“ 265
Der andere Deutsche – Baron Holbach
Grimm war mit Helvétius, Diderot, d’Alembert, Boulanger, Raynal, Morellet, Saint-Lambert, Marmontel, Buffon, Turgot, Galiani und anderen häufig Gast im „Café d’Europe“, wie der Salon von Holbach und dessen Frau Basile Geneviève Suzanne auch bezeichnet wurde. Hier aß man genüsslich zu Mittag, unternahm ausgedehnte Spaziergänge und trennte sich oft erst nach sechs oder sieben Stunden des Beisammenseins. Die Holbach’sche Clique (Coterie holbachique)266, wie man die engeren Freunde Holbachs nannte, traf sich regelmäßig donnerstags und sonntags über mehrere Jahrzehnte hinweg zum Abendessen, um in aller Freiheit diverse Themen zu diskutieren. Die Coterie bestand im Gegensatz zu Holbachs Salon aus einem festen Kreis von Personen, Grimm gehörte dazu. Holbach nannte diese Treffen „chez moi“, sein Freund Diderot sprach von „chez le baron“.
Im Salon war es unschicklich sich in Gegenwart der Frauen hart an der Sache zu streiten, die Coterie dagegen bot ihren Mitgliedern die Gelegenheit ohne Rücksicht auf die etablierten Konventionen frei zu debattieren. Manche Gäste zeigten sich sich über den offen ausgesprochenen Atheismus allerdings auch schockiert.
Holbach war schon in jungen Jahren nach Frankreich gekommen. Er konnte seine Gedanken in einem perfekten Französisch zu Papier bringen und seine schriftstellerischen sowie seine philosophischen und kulturkritischen Schriften gehören noch heute zu den großen Entwürfen der französischen Aufklärung. Holbach und Grimm waren im gleichen Alter, ihre biographischen Daten waren jedoch sehr verschieden. Holbach kam aus Edesheim in der Nähe von Speyer. Das Vermögen, dass ihm seine Vorfahren hinterlassen hatten, ermöglichte ihm ein langes Studium der Naturwissenschaften in den Niederlanden. 1748 kam er nach Paris und heiratete dort die Tochter eines Finanzmannes. Nachdem er 110.000 Livres in der Gesellschaft der Sekretäre des Königs zu fünf Prozent angelegt hatte, erhielt er den Adelstitel und konnte sich Baron nennen.
Den Baron Holbach konnte man wirklich als einen reichen Mann bezeichnen. Er besaß ertragreiche Landgüter in Westfalen und verfügte über das beachtliche Jahressalär von 200.000 Livres. Holbach legte sein Geld vornehmlich in Büchern, aber auch in Bildern267, Zeichnungen und naturgeschichtlichen Präparaten an. In einem Brief an Gottsched berichtet Grimm, dass er für Baron Holbach während seines Aufenthaltes 1754 in Deutschland einige Einkäufe getätigt habe: „J’ai fait ici toute sorte d’emplettes pour mon ami le Baron d’Holbach en fait de minéraux etc., je suis meme en traité pour un cabinet considerable qui nous coutera bien mille ecus.“268 Holbach unterstützte Zeit seines Lebens mittellose Künstler und Literaten und sorgte so auf noble Art für Wissenschaft und Kunst. Er führte zwischen Paris und dem Landgut Le Chateau de Grand-Val ein ortsgebundenes Leben, das nur durch wenige Reisen unterbrochen wurde. In Grand-Val war in den Sommermonaten oft Denis Diderot zu Gast, er hatte sich dann in der ersten Etage des rechten Flügels eingerichtet. 1756 heiratete Holbach die Schwester seiner Frau, die sich ähnlich hingebungsvoll den Projekten des Barons widmete wie seine erste große Liebe. Grimm gehörte bald zu den engsten Freunden des Barons, er schrieb über ihn: „Ich habe nie einen gelehrteren Mann getroffen, und ich habe nie jemanden gesehen, dem so wenig daran lag, in den Augen der Welt für gelehrt zu gelten.“
Baron von Holbach hatte sich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und sein immenses Allgemeinwissen in ganz Europa einen Namen gemacht. Er war Mitglied in verschiedenen Gelehrtengesellschaften seiner Zeit, 1754 wurde er in die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften berufen, 1766 folgte die Kurpfälzische Akademie der Wissenschaften und im Jahre 1780 wurde er in die Russische Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg aufgenommen. Holbach war eng mit Claude Adrien Helvétius befreundet und teilte dessen atheistische Haltung.
Als Grimm den Baron kennenlernte, kennzeichnete den Baron Holbach ein abgrundtiefer Zweifel bezüglich jeglicher Gottesvorstellungen. Holbach lehnte radikal alle Dogmen und Vorschriften, welche die Kirche ihren Gläubigen als Wahrheiten anbot, ab. In den 50er und 60er Jahren des 18. Jahrhunderts veröffentlichte Holbach mehrere Schriften, die allesamt eine kompromisslose Kritik am Christentum und an allen Formen des religiösen Glaubens darstellten.269 Grimm, der Pfarrerssohn aus Regensburg, hat sich dem nicht angeschlossen, er konnte ohne Beschwernisse Freund bleiben und musste nicht zum Materialismus konvertieren. Die Attacken des Barons gegen Kirche und Religion waren immer auch Attacken gegen Feudalismus, Absolutismus und staatlichen Autoritatismus. In den weltlichen Herrschern sah er Nutznießer einer verdummend-religiösen Erziehung.
Holbach hat zeitlebens an die prinzipielle Güte und Vernunfttauglichkeit des Menschen geglaubt. Melchior Grimm nahm darauf in seiner Correspondance littéraire Bezug: „Für Holbach war der Glaube an die Herrschaft der Vernunft etwas ganz Natürliches, denn seine Leidenschaften... waren so beschaffen, dass er in allen Fällen der Tugend und den rechten Prinzipien den Vorrang ließ. Es war ihm unmöglich, jemanden zu hassen; jedoch konnte er nur mit Überwindung seinen zugegebenen Hass auf Priester verbergen ... Jedesmal, wenn die Rede darauf kam, verließ ihn seine natürliche gute Laune.“270 Über die Grenzen Frankreichs hinaus wurde Holbach mit seinem Buch „Système de la nature, ou des lois du monde physique et du monde moral“, auf Deutsch „System der Natur“ bekannt. Goethe ging zu diesem Buch mit einem vernichtenden Urteil auf Distanz. Bei Friedrich Albert Lange lesen wir ein halbes Jahrhundert nach Goethe über das System der Natur das Folgende: „Der Text mit seiner geraden, ehrlichen Sprache, seinem fast deutschen Gedankengang und seiner doktrinären Ausführlichkeit gab auf einmal das klare Resultat aller jener geistreich gärenden Zeitgedanken, und dies Resultat in seiner starren Geschlossenheit stieß selbst diejenigen zurück, welche zu seiner Erzielung am meisten beigetragen hatten.“271 Schon die Einführung von Holbachs Buch macht deutlich, welche Ziele der Baron verfolgte und wie sehr Goethe im Unrecht war, als er diese Schrift als „grau und totenhaft“ charakterisiert hat: „Der Mensch ist nur unglücklich, weil er die Natur missversteht. Sein Geist ist so von Vorurteilen angekränkelt, dass man glauben könnte, er sei für immer dem Irrtum verfallen. Die Hartnäckigkeit, mit der er sich an die undurchsichtigen Meinungen klammert, die ihn von Kindheit an eingeflößt werden..., und die daraus entstehende Beeinträchtigung seines Geistes scheinen ihn ein für allemal dem Irrtum zu weihen... Er lässt sich seine Ideen von anderen vorschreiben, die selbst im Irrtum befangen sind oder ein Interesse daran haben, ihn zu betrügen... versuchen wir es also, den Mut des Menschen, die Achtung vor seiner Vernunft und die unauslöschliche Liebe zur Wahrheit zu erwecken, damit er lernt, seine Erfahrung zu Rate zu ziehen und nicht von der Obrigkeit irregeleitete Einbildung..., damit er seine Moral auf seiner Natur, auf seinen Bedürfnissen und auf den tatsächlichen Vorteilen, die die Gesellschaft ihm verschafft, begründet, damit er es endlich wagt, sich selbst zu lieben; damit aus ihm ein tugendhaftes und vernünftiges Wesen wird, geeignet, sein Glück auf Erden zu finden.“272 Am 21. Juni 1789, wenige Tage vor der Erstürmung der Bastille, verstarb der große Aufklärer, der dem Atheismus und dem Materialismus eine Stimme verliehen hatte.
Grimms Freund Denis Diderot
Nun aber müssen wir auf Diderot zu sprechen kommen, er war das Haupt der französischen Aufklärung, er wurde der engste Freund Grimms, ihm verdankt er ganz wesentlich seinen Erfolg in der Pariser Szene. Diderot lieferte dem späteren Herausgeber der Correspondance littéraire sozusagen die Filetstücke seiner europaweit verteilten Briefe. Mit Diderot war Grimm viele Jahre befreundet, der leicht entflammbare Diderot war ein treuer und verlässlicher Freund, der erst in den letzten Jahren seines Lebens zu Grimm aus Enttäuschung eine innere Distanz aufbaute.
Diderot war, als er mit Grimm nach seinem Gefängnisaufenthalt in Vincennes zusammentraf, schon nicht mehr ganz jung, er war sechsunddreißig, Grimm erst sechsundzwanzig. In Langres geboren, sollte Diderot einmal die Verantwortung für Familie und Betrieb seines Vaters übernehmen. Der Vater war Messerschmied, ein stolzer Handwerker, der auf allen Märkten im Osten Frankreichs für seine scharfen Klingen bekannt war. Die Achtung, die Diderot seinem Vater bei aller Gegensätzlichkeit, entgegenbrachte, drückt sich im Titel seines großen Werkes, der Enzyklopädie aus: Die Ecyclopédie des schiences, des arts et des métiers aus.
Diderot vertrat die Überzeugung, dass es keine naturgegebene Hierarchie menschlicher Tätigkeiten gebe und die Arbeit von Marmorschleifern oder Druckern ebenso vortrefflich sein könne wie die sogenannten edlen Künste des Kriegshandwerks, der Rhetorik oder des Regierens. Diderots Leidenschaft für alles Handwerkliche, seine unstillbare Neugierde auf die verschiedenen Verfahren und Methoden verdankten sich ohne Zweifel dem Beispiel seines Vaters.273
Diderot ging bei den Jesuiten zur Schule und das Schulleben mit seiner Mischung aus humanistischen Studien und körperlicher Bewegung gefiel ihm gut. Mit dreizehn Jahren erklärte er seinen Eltern die Absicht, Priester zu werden. Vom Bischof von Langres bekam er die Tonsur und konnte nun als Abbé mit schwarzer Hose, einem kurzen schwarzen Mantel und einer weißen Halskrause mit Beffchen auftreten. Er wurde jedoch nicht, wie zunächst beabsichtigt Kanonikus, sondern schlug eine andere Laufbahn ein. Nach einer mehrmonatigen „religiösen Krise“ brachte ihn der Vater ins Collège d’Harcourt nach Paris. Denis Diderot war nun sechzehn, die Familie sieben Tagesreisen entfernt, er musste lernen von seiner Freiheit Gebrauch zu machen. Über die dreizehn Jahre vom Eintritt ins Collège bis zur Veröffentlichung seiner ersten Texte im Jahre 1747 ist wenig bekannt.
1741 hatte Diderot Anne-Antoinette Champion kennengelernt. In lockerem Ton schildert er im Salon viele Jahre später seinen Abschied vom Leben eines Bohemien: „Ich komme nach Paris, will mir die Magistratenrobe anlegen und meinen Platz unter den Doktoren der Sorbonne einnehmen. Eine Frau, schön wie ein Engel, läuft mir über den Weg; ich will mit ihr schlafen, ich schlafe mit ihr; vier Kinder kommen; und so mußte ich die Mathematik aufgeben, die ich liebte; Homer und Vergil, die ich stets in meiner Tasche trug; das Theater, an dem ich Gefallen fand; und war nur zu glücklich, die Enzyklopädie in Angriff zu nehmen, der ich fünfundzwanzig Jahre meines Lebens opfern sollte.“274 Diderot heiratete 1743 Toinette, nachdem er sich mit seinem Vater überworfen hatte und Diderots Familie wusste sechs Jahre nichts von dieser Heirat. Die Ehe mit Toinette aber konnte Diderots Ansprüche ans Leben nicht erfüllen, er war ein schlechter Ehemann, die Gattin erweckte in ihm bald keine Träume und Gefühle mehr. Antoinette nahm niemals am gesellschaftlichen Leben ihres Mannes teil. Während sie im kärglichen Heim in der Rue Saint-Victor blieb, führte Denis Diderot sein Leben anderswo, er wollte leben wie es ihm passte. 1742 traf Diderot zum ersten Mal Rousseau. Beide waren ungefähr gleich alt, beide waren nach Paris gekommen, um hier ihr Glück zu machen. Beide erwählten sich Frauen zu Gattinnen, die sie nicht glücklich machen konnten und beide hielten sie an einer quasi ehelichen Bindung fest. Das hinderte sie nicht, sich da und dort zu verlieben. Diderot fand in Sophie Volland eine Geliebte, die ihm zur lebenslänglichen Freundin wurde. Sie war sowohl seine intellektuelle Gesprächspartnerin als auch seine erotisch-sexuelle Lebensgefährtin.
Diderot übersetzte zu Anfang seiner Pariser Zeit mehrere Texte aus dem Englischen, hier sind zu nennen, eine „Geschichte Griechenlands“ von Temple Stanyan und Teile des dreibändigen „Allgemeinen Wörterbuchs der Medizin“ von Robert James. Zur Veröffentlichung kam auch eine freie Übersetzung von Shafteburys „Versuch über das Verdienst und die Tugend“. Schicksalshaft erwies sich der Plan des Pariser Verlegers Francois Le Breton, der eine mehrbändige Enzyklopädie aus dem Englischen ins Französische übertragen wollte. Diderot sollte der Übersetzer sein. Bei den Vorstudien wurde Diderot bald klar, dass eine einfache Übertragung nichts wirklich Wertvolles erbringen würde. So reifte denn der Plan zu einer eigenständigen Enzyklopädie, die über alles Wissenswerte in den Künsten und Wissenschaften sowie dem Handwerk berichten sollte.
Sein erstes eigenständiges Werk erschien 1746. Das Buch trug den Titel „Philosophische Gedanken“, war in Aphorismenform geschrieben und setzte sich kritisch mit der Religion auseinander. Die mächtige Zensur beschäftigte sich bald mit dem Werk, ein Gerichtsbeschluss stufte die „Philosophischen Gedanken“ wider die guten Sitten ein und sah sie für die Verbrennung vor. Diderot wurde verhaftet und zu einer dreimonatigen Internierung in die Festung Vincennes gebracht. Einer der Gründe für Diderots Verurteilung war auch sein „Brief über die Blinden zum Gebrauch der Sehenden“. Grimm hatte seinem alten Lehrer Gottsched später den Vorwurf gemacht dieser Schrift seines Freundes zu wenig Beachtung geschenkt zu haben. Eine positive Würdigung wäre damals in Deutschland allerdings kaum möglich gewesen, denn Diderots „Brief über die Blinden“ ergriff nicht nur Partei für den Atheismus, sondern auch für den Materialismus.
Die Verhaftung Diderots erfolgte zu einem Zeitpunkt als die Vorbereitungen für den Druck des ersten Bandes der Encyklopédie in vollem Gang waren, die Veröffentlichung war nun in höchstem Grade gefährdet. Die Idee zu diesem Werk war 1745 entstanden und von 1745 bis 1765 war sein Hauptaugenmerk auf diese Aufgabe gerichtet. Bittbriefe einflussreicher Freunde konnten bald Diderots Haftbedingungen abmildern, schließlich wurde er nach drei Monaten freigelassen und konnte weiterarbeiten. Die Encyclopédie sollte zum bis dahin bestverkauften Werk des französischen Buchhandels werden. 4225 Interessenten abonnierten ab 1751 die 17 Text- und 11 Bildbände der Encyclopédie. Üblich waren Auflagen von 500 bis 1 000 Stück; mit Nach- und Raubdrucken erreichte das Nachschlagewerk der Aufklärung über 24 000 Exemplare. Denis Diderot und sein Mitherausgeber d’Alembert hatten mehr als 100 Autoren für die 72 000 Artikel versammelt.
Beim Stichwort „Encyclopédie“ geht Diderot zugleich auf Begrenzung und Auftrag der Encyclopédie ein: „Heute, da die Philosophie mit großen Schritten vorwärtsschreitet & ihrer Herrschaft alle Gegenstände in ihrem Bereich unterwirft, da sie tonangebend ist & da man das Joch der Autorität & des Vorbilds abzuwerfen beginnt, um sich an die Gesetze der Vernunft zu halten, gibt es kaum noch ein elementares Lehrbuch, von dem man völlig befriedigt ist. Man findet, daß diese Produkte auf den Fiktionen der Menschen, nicht aber auf den Wahrheiten der Natur beruhen. Man wagt Zweifel an Aristoteles & Platon zu äußern, & so naht die Zeit, in der Werke, die heute noch den höchsten Ruf genießen, einen Teil dieses Rufes verlieren oder völlig in Vergessenheit geraten werden. Gewisse Literaturgattungen, die keine unveränderliche & sinnvolle Poetik haben, weil ihnen kein wirkliches Leben & keine bestehenden Sitten zum Vorbild dienen, werden vernachlässigt werden; andere, die fortdauern, weil ihr Gehalt sie erhält, werden eine ganz neue Form annehmen. So wirkt der Fortschritt, der soundso viele Standbilder umstürzt & einige, die umgestürzt sind, wieder aufstellt. Dies sind die Standbilder jener außergewöhnlichen Menschen, die ihren Jahrhunderten vorausgeeilt sind.“275 Was sich Diderot von der Encyclopédie erwartete ist nicht wenig; in einem Brief an Sophie Volland, seine langjährige Freundin und Vertraute, schrieb er: „Mit der Zeit wird dieses Werk bestimmt eine Revolution in den Köpfen herbeiführen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, Unterdrücker, Fanatiker und Intoleranten dabei nicht gewinnen werden. Wir werden der Menschheit gedient haben, aber wir werden längst zu kaltem und unempfindlichem Staub geworden sein, ehe man uns Dank wissen wird ...“276
Wie in so manchen Verträgen steckte auch hier das gewisse Etwas im „Kleingedruckten“. Ständig von der Zensur bedroht, musste Diderot bei der Abfassung der Artikel für die Encyclopédie sehr geschickt vorgehen. Die Hauptartikel sind oft ganz brav im Sinne der absolutistischen Ordnung verfasst, Kritik und Sottisen dagegen finden sich in den Querverweisen und in solcher Camouflage hatte Diderot schon Übung. Seine erotischen Erzählungen „Les bijoux indiscrets“ sind dafür ein Beispiel. In einer Art von Vagina-Monolog berichten die Hofdamen eines Sultans von ihren Liebesabenteuern, dabei spricht das „Juwel“, der hauptsächlich betroffene Körperteil. Die Geschichten sind voller Anspielungen auf den Hof Ludwig XV. und seiner Mätresse Madame Pompadour. In seinem Sittenroman „La Religieuse“ erzählt er in Briefen die Geschichte der Suzanne Simonin. Von den Eltern ins Kloster gezwungen, wird sie unter einer fanatischen und grausamen Äbtissin zum Ziel von Repressalien und Schikanen. Ein solches Thema aufzugreifen war eine gefährliche Sache und Diderots Roman erschien erst acht Jahre nach dem Tod des Dichters 1792 in Grimms „Literarischer Korrespondenz“ zuerst in Deutschland und vier Jahre später in Frankreich. Ebenfalls erschienen erst nach seinem Tod die Dialogromane „Jacques, der Fatalist“, eine Diskussion um die Willensfreiheit des Menschen, und „Rameaus Neffe“, ein Panorama des korrupten Ancien Régime.
Diderot nimmt heute zu Recht eine Spitzenposition unter den größten Denkern des 18. Jahrhunderts ein. Dieser Platz wird auch gerne den beiden anderen Meisterdenkern Voltaire und Rousseau eingeräumt, deren Einfluss sicherlich größer war, aber Rousseau wurde von Leidenschaft und Gefühl angetrieben und Voltaire war nur Meister eines brillanten und durchdringenden Rationalismus. In diesem Trio hatte allein Diderot in seinem Kopf die Ideen der wissenschaftlichen Methode, nur er hatte das Gefühl für ein System und für große organische und konstruktive Vorstellungen. Er besaß die seltene Fähigkeit Philosophie nicht nur zu denken, sondern sie auch zu vermitteln. Und für Grimm verkörperte Diderot das Idealbild eines Mitglieds der unsichtbaren Kirche universeller Geister. Grimm stellte den Lesern seiner Correspondance littéraire Diderot als „un homme dont le gout et le jugement sont aussi exquis que son génie est profond et brillant“ vor und in der der Einleitung zum Kunstsalon von 1761 beschrieb er ihn als „le plus fort coloriste que nous ayons parmi les gens de lettres“.277
Grimm macht sich selbständig
Friedrich Melchior Grimm gehörte nicht eigentlich zu den Encyclopädisten278 aber er kannte sie alle, die sich um seinen Freund Diderot scharten, sich in den Salons trafen, Artikel vorbesprachen und Fragen der Zeit diskutierten. Er gehörte, wenn man ihn schon einer Gruppe zurechnen will, am ehesten noch zur Gruppe der Intellektuellen, die sich philosphes nannten, Männer, die das kritische, informierte und wissenschaftliche Denken als den sinnvollsten Weg ansahen, die Probleme der Gesellschaft zu lösen.
Grimm wurde über seine Correspondance littéraire bald zum Botschafter und Vermittler aufklärerischer Ideen und Projekte in ganz Europa. Den Einstieg in diese Tätigkeit bot ihm der uns schon bekannte Abbé Raynal, jener Abbé, den der Hofmeister des Erbprinzen von Sachsen-Gotha als Ergänzungslehrer für den Erbprinzen Friedrich hinzugezogen hatte. Der Abbé unterstützte aber nicht nur die Bemühungen Thuns und Klüpfels um den Erbprinzen, er war darüber hinaus auch literarischer Korrespondent der Herzogin von Sachsen-Gotha. Sie bezog seine handschriftlichen Nouvelles littéraires mit einigen Unterbrechungen von 1747 bis 1755. Raynal wurde ab 1750 Chefredakteur des Mercure de France. Große Bekanntheit aber erlangte er vor allem durch seine „Histoire philosophique et politique des établissemnts et du commerce des Européens dans les deux Indes“ an der später auch Denis Diderot mitarbeiten sollte. Die erste Ausgabe dieses Werkes sollte bald nach Erscheinen verboten werden und auch die Überarbeitung wurde sofort auf den Index gesetzt. 1781 wurde sein Werk vom Parlament von Paris dazu verdammt, vom Henker verbrannt zu werden, trotzdem hatte es einigen Erfolg bei den Lesern. Raynal selbst fand Zuflucht bei Friedrich dem Großen in Preußen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Grimm eine Zeitlang an Raynals Nouvelles littéraires mitgerabeitet hat, ehe er sie von diesem übernahm und für seine Zwecke umgestaltete. Die Korrespondenz zwischen Raynal und der Herzogin von Sachsen-Gotha weist interessanterweise eine Lücke zwischen 1751 und 1754 auf. Im Mai 1753 taucht die erste Ausgabe von Grimms Korrespondenz auf, sie trifft genau in diese Lücke. Wir können annehmen, dass Raynal, der mit zahlreichen historischen Arbeiten beschäftigt und als Chefredakteur des Mercure ordentlich eingespannt war, Grimm einfach die Korresspondenz abgetreten hat. Möglicherweise hat Grimm schon Ende 1752 seinem Freund Gottsched von Plänen berichtet, eine geheime literarische Korresspondenz an deutsche Fürsten aufzubauen.
Grimms Interesse an einem Kulturaustausch auf journalistischer Ebene zeigte sich schon in der Mitarbeit am Journal étranger, einem Periodikum, dass unter diesem Namen bis 1764 von Jean Baptiste Antoine Suard, Francois Arnaud, Antoine Francois Prévost und Pierre-Jean-Baptiste Gerbier herausgegeben wurde. Grimm bietet Gottsched an, behilflich zu sein, wenn dieser daran denke, etwas im Journal étranger bekannt geben zu wollen. Die Konzeption des Journal étranger ist wesentlich von den Überlegungen im Umkreis der Enzyklopädisten, besonders aber durch Melchior Grimm selbst beeinflusst. Er war der Verfasser des Vorwortes der ersten Ausgabe. Darin heißt es, das Ziel der Zeitschrift sei es, alle durch bloße Ländergrenzen getrennten Teile der „République des Lettres“ in ihren besten Geisteserzeugnissen im Journal étranger zu versammeln, um so nicht nur den Wissensaustausch zu fördern, sondern auch dem Interessierten schnelleren Zugang zu Kenntnissen und Überlegungen anderer Länder zu erleichtern. So sei ein auf „raison“ und „rationalisme“ beruhender Vergleich überhaupt erst möglich.279
Grimms Interesse am Journal étranger ist ein beredter Hinweis auf seinen Kosmopolitismus. Von Anfang an sah er seine Aufgabe in Paris auch darin, ausländische, schöngeistige Literatur in Frankreich bekannter zu machen. In seinem Brief an Gottsched vom 2. Mai 1754 teilt er allerdings mit, dass er keinen Anteil mehr am Journal étranger habe. Grimm will sich nun einer Aufgabe widmen, die er ganz allein zu verantworten hat. Er geht auf Raynals Angebot ein, wenn es sich denn um ein solches gehandelt haben sollte, er nahm jedenfalls seine Chance wahr, zog das Unternehmen der Correspondance littéraire neu auf und es gelang ihm innerhalb kurzer Zeit, seine Correspondance durch einen ausgewählten Abonnentenkreis auch finanziell abzusichern.