Читать книгу Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg - Winfried Wolf - Страница 5
Das protestantische Pfarrhaus als Pflanzstätte – Leben im Glashaus – Keimzelle der Bildung – Pfarrer als Gelehrte
ОглавлениеMelchiors Eltern besaßen in Regensburg ein stattliches Haus in der Krebsgasse.4 Ob hier in der Krebsgasse 6 auch Melchior geboren wurde, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, aber er wird hier seine Kindheit verbracht haben. Im gleichen Haus wohnte von 1725 bis 1749 auch der kursächsische Gesandte beim Immerwährenden Reichstag, Johann Friedrich von Schönberg. Die Schönbergs sollten für Friedrich Melchior Grimm später noch besondere Bedeutung erlangen. Nachdem sein Bruder Ulrich Wilhelm 1743 die früh verwitwete Tochter von Hieronymus Löschenkohl, einem Regensburger Bankier und Handelsmann, geheiratet hatte, wohnte Friedrich Melchior einige Jahre bei seinem Bruder und seiner Schwägerin im Palais Löschenkohl. 1741 gab Grimm als Adresse noch die Mahlergasse an, vermutlich war damit die heutige Malergasse gemeint, die parallel zur Pfarrergasse verläuft.5 Ob er dort ein Zimmer besaß, konnte nicht geklärt werden. Die evangelischen Superintendenten Regensburgs wohnten im Haus Pfarrergasse 5. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1749 führte sein Bruder Ulrich Wilhelm den Grimmschen Haushalt weiter. Ihm folgte im Amt des Superintendenten dann Jakob Christian Schäffer.6 Mit ihm erlangte das Pfarrhaus in der Pfarrergasse einige Berühmtheit. Schäffer widmete sich nämlich neben seiner Tätigkeit als Pastor und Superintendent mit Leidenschaft botanischen, zoologischen, mineralogischen und physikalischen Studien. Er legte eine umfangreiche Sammlung von ausgestopften Vögeln, Insekten und Pflanzen an. Sein naturhistorisches Museum galt als eine Sehenswürdigkeit in Regensburg. Selbst Goethe, der auf seiner Reise nach Italien 1786 nur wenige Stunden in der Stadt zubrachte, versäumte nicht, sich das Privatmuseum des gelehrten Pastors in der Pfarrergasse anzusehen.7 Hat er bei dieser Gelegenheit an seine Begegnung mit Grimm 1777 auf der Wartburg gedacht? War ihm das Haus in der Pfarrergasse (oder Mahlergasse) aus Grimms Erzählungen schon bekannt? Vermutlich hatte Grimm um dieses Zeit schon die Erinnerung an seine Heimatstadt weitgehend gelöscht und nicht mehr viel von Regensburg gesprochen.
Wie können wir uns das Leben im Haus der Grimms um 1740 vorstellen? Was erzählen uns die Quellen? Die Quellenlage ist leider spärlich und beschränkt sich auf wenige Äußerungen von Melchior Grimm und dessen Bruder Ulrich. Wie sich der junge Gymnasiast in Regensburg fühlte, erfahren wir aus den Briefen an Johann Christoph Gottsched8. Einen kleinen Blick auf das Familienleben der Grimms gewährt uns auch Johann Ludwig Grimm, der einen Lebenslauf seines Vaters Ulrich Wilhelm Grimm verfasst hat. Dieser Lebenslauf wurde nach der Trauerrede beim Begräbnis des Vaters verlesen.9
Uns liegt also keine Milieubeschreibung des Grimm’schen Haushalts vor. Keiner der fünf Söhne hat nachweislich seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben. Wir kommen jedoch der Person Friedrich Melchior Grimm etwas näher, wenn wir versuchen uns zumindest eine ungefähre Vorstellung davon zu machen, wie ein Pfarrhaus im 18. Jahrhundert organisiert war.
Versuchen wir also das Wenige, was wir wissen mit dem für typisch Gehaltenen zu verbinden. Das Unterfangen dürfte im übrigen nicht allzu kühn sein, denn das protestantische Pfarrhaus ist ein Topos der deutschen Kulturgeschichte.
Natürlich nahm alles bei Martin Luther seinen Anfang. Sein Haushalt wurde zum Prototyp des evangelischen Pfarrhauses und wir dürfen annehmen, dass bei den Grimms in der Freien Reichsstadt Regensburg das vorgegebene Muster zumindest in groben Zügen wiederzufinden war, wenn auch hier nicht die großzügigen Verhältnisse eines ehemaligen Klosters der Augustiner herrschten. Keine Frage, die konkrete Ausgestaltung des Grimm’schen Haushalts hatte wenig mit Luthers „Großbetrieb“ zu tun, aber Luther hatte doch die Leitlinien für den evangelischen Pfarrhaushalt gesetzt.
Als Luther den Zölibat der Priester aufhob, stellte er sie mitsamt ihren Familien sozusagen ins Schaufenster der Gesellschaft. Der Lutherische Haushalt wurde zum Prototyp des evangelischen Pfarrhauses: Während Martin Predigten schrieb, lehrte und diskutierte, leitete Katharina einen Haushalt, der den Umfang eines mittelständischen Betriebes hatte. Jene Anwesen in Kleinstädten und auf dem Lande, in denen nach dem Rückzug des Katholizismus nicht mehr Priester und Haushälterinnen, sondern vielköpfige Pfarrersfamilien lebten, waren in der Regel bescheidener, aber sie waren nicht mehr nur Dienstgebäude, sondern Pflanzschulen der Gesellschaft. Hier wurde vorgelebt, vorgedacht und beschrieben, wie die Gesellschaft im Ganzen organisiert sein sollte. Dieses Grundgerüst des familiären Lebens im Pfarrhaus hat sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten.
Von den Pfarrersfamilien, die ja ein besonders gottgefälliges Leben vorleben sollten, bildete sich bekanntlich das protestantische Arbeitsethos heraus, eine der Grundlagen für den Siegeszug des Kapitalismus. Bescheidenheit und Zurückhaltung schützen vor den Versuchungen, sich Luxus zu erschwindeln. Die protestantische Arbeitsethik verheißt Fleiß und Pflichtgefühl. Fontane lässt einen preußischen Offizier im Stechlin sagen: „Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht.“ Der protestantische Pastor war hart gegen sich wie gegen andere. Er gab nicht vor, dem lieben Gott zu dienen, um in Wahrheit die eigene Macht und Glorie zu mehren.
Das protestantische Pfarrhaus war auch eine Keimzelle der Bildung und in seiner Bibliothek begegnete den Pfarrersöhnen die Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Bildung wird groß geschrieben im evangelischen Pfarrhaus: aus den Kindern soll ja etwas werden.
Es gibt einige konkrete Beispiele für das Leben im evangelischen Pfarrhaus. Die jüngst im Deutschen Historischen Museum gezeigte Ausstellung „Leben nach Luther“ richtet ihre Scheinwerfer auf den Mythos des evangelischen Pfarrhauses. Doch was ist dran am Mythos eines Milieus, das deutsche Dichter und Erfinder, Gesinnungstäter und Spitzenpolitiker bis heute auf die Erfolgsspur bringt? Im Untergeschoss des Pei-Baus wird der praktische Sinn der protestantischen Geistlichkeit demonstriert. Wir können dort eine Waschmaschine aus dem 18. Jahrhundert bewundern, erfunden von dem Regensburger Superintendenten Jakob Christian Schäffer, dem Amtsnachfolger von Ulrich Wilhelm Grimm. Pfarrer Schäffer war allerdings nicht der Erfinder der Waschmaschine an sich; sein Verdienst lag vielmehr in der konstruktiven Weiterentwicklung eines bereits bestehenden Konzepts, aber er war wohl der erste, der ein gebrauchsfähiges Modell für den Privathaushalt herstellte und dieses einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte.10 Der Berliner Schriftsteller und Reisende Friedrich Nicolai, der Schäffers Museum fünf Jahre vor Goethe11 besuchte und sich für dessen Experimente interessierte, konnte bei Schäffer eine Papiermühle in Augenschein nehmen mit der man aus Pflanzenteilen, Abfallholz und sogar halbvermoderten alten Dachschindeln durch Kochen in Lauge und Kalkbrühe festes Papier herstellen konnte.12
Verweltlichung und Vergeislichung: Martin Greiffenhagen hat in seinem Vorwort zur Kultur- und Sozialgeschichte des evangelischen Pfarrhauses mit den Begriffen Verweltlichung und Vergeistlichung die zwei Seiten der reformatorischen Theologie herausgestellt, die für die protestantische Praxis von Bedeutung wurden.13 Die Kirche wendet sich den Zuständen und Dingen dieser Welt zu, das ist die Verweltlichung. Die Vergeistlichung kann nach Luther in jeder Tätigkeit eine theologische Dimension eröffnen. Der evangelische Christ lebt seinen Glauben in jeder Stunde und mit jeder Hantierung. Gott ist stets gegenwärtig mit seiner Frage: Vergeudest du deine Zeit nicht, nutzt du deine Gaben, gibt dein Leben Sinn im Blick auf das ewige Heil? Diese Grundorientierung wird auch Melchior Grimm in seinem Elternhaus erfahren haben. Im evangelischen Pfarrhaus war die gesamte Familie zu einem exemplarisch-christlichen Leben verpflichtet.
Der evangelische Geistliche als Hausvater: Melchior muss sein Vaterhaus als Pfarrhaus vor allem deshalb erleben, weil der Beruf des Pfarrers ein häuslicher Beruf ist. Als Pfarrer kennt der Vater weder die strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit noch die genaue Unterscheidung von Wohnhaus und Arbeitsstätte. Er wohnt nicht nur im Haus, sondern er arbeitet auch zuhause. Sein Beruf füllt das ganze Haus und das hat natürlich Konsequenzen für die Erziehung der Kinder. Melchior wird dieser Erziehung nicht entkommen sein.
Im Glashaus: „Das Pfarrhaus ist ein Haus mit gläsernen Wänden“, schreibt Wolfgang Steck.14 Die Familie des Pfarrers ist zu einem Exempel praktischen Christentums verpflichtet. Die Bewohner des Pfarrhauses spielen anderen ihr privates Leben vor. Es ist als ob sie ihre Ehe für andere führten, als ob sie ihre Kinder für andere erzögen. Nichts geschieht im Verborgenen, alles spielt sich in der Öffentlichkeit ab, vor den Augen der anderen und unter ihrer Kontrolle.
Kinder: Produkte einer Pfarrhauserziehung.Die exemplarische Funktion des Pfarrhauses spielt vor allem auch für die Erziehung der Kinder eine wichtige Rolle. Da das Pfarrhaus eine öffentliche Angelegenheit ist, muss auch in der „Kinderzucht“ ein Beispiel gegeben werden. Pfarrerskinder müssen so sein, wie jeder gute Familienvater seine eigenen gern hätte: bescheiden und gehorsam, wohlerzogen und erfolgreich in Schule und Beruf.15 Die Erziehung der Kinder gehörte schon vor dem „pädagogischen“ Jahrhundert zu den wichtigsten Aufgaben des Pfarrers, galt es doch vor allem deren unschuldige Seelen zu schützen. Wir wissen nicht, ob Johann Melchior Grimm ein liebender oder strenger Vater oder beides zugleich war. Melchiors „Freiheiten“ scheinen aber auf einen aufgeklärten, einen eher liberalen Vater hinzudeuten, einen Vater, der auf die Einsicht des Kindes setzt. Ein fortgesetzter Zwang zur Anpassung der Kinder in ihre Verhaltensrollen wird im Hause Grimm aber auch nicht notwendig gewesen sein, es genügte ja im alltäglichen Leben schon die Erziehung durch die dauernde, alltägliche Anschauung vorgeführter christlicher Praxis und überzeugender Sinnvermittlung.
Hat sich Melchiors Vater intensiv um den Unterricht seiner Söhne gekümmert, um ihnen den Weg zum Gymnasium, zur Universität zu ebnen, um sich Kosten zu ersparen? Wir können es annehmen, denn Melchior gehörte zu den guten Lateinschülern, das Lernen machte ihm Spaß, sein Interesse für die Literatur und das Theater werden in der kleinen Bibliothek des Elternhauses, im Gespräch mit dem Vater und dem älteren Bruder, eine Grundlage gefunden haben. Häuslicher Unterricht war bei fünf Söhnen wohl auch aus Kostengründen notwendig, ein Scheitern an Schule oder Universität wollte und konnte man sich nicht leisten. Eine Vorbereitung zuhause bringt Vorteile für Schule und Universität und studieren muss der Sohn, weil der Vater auch studiert hat. Ein Handwerk zu lernen kommt ja nicht infrage, dazu wäre ein Herr Pfarrer zu stolz gewesen.16
Anstöße für Dichtung, Literaturwissenschaft und Philosophie: Intensiver und individueller Unterricht im Pfarrhaus kann, das war damals nicht anders als heute, die Anlagen der Kinder zweifellos fördern. Die häusliche Unterweisung bewirkte vielfach wohl auch eine gewisse Frühreife der Pfarrerskinder. Melchiors selbstbewusster, manchmal schon altkluger Ton in den Briefen an Gottsched weist in diese Interpretationsrichtung. Der tägliche Umgang nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit den alten Sprachen, die faktische Bilingualität und teilweise Multilingualität der Pfarrerskinder, war eine gute Grundlage für ihre hermeneutischen Fähigkeiten, ihre literarische Bildung und ihr Stilempfinden als Dichter.17 Dem Pfarrersohn Melchior Grimm hat die häusliche Anregung im Elternhaus offensichtlich nicht genügt; er suchte in seinen letzten Schuljahren für den starken Vater der Kindheit einen Nachfolgevater und fand ihn in einem anderen Pfarrerssohn, in Johann Christoph Gottsched, dem Professor für Weltweisheit in Leipzig. Er wird für die nächsten Jahre sein Idol, sein Bild soll im Zimmer hängen, sein Beitrag zur Literaturtheorie wird zum Maßstab für erste eigene dichterische Versuche.
Dass Melchior Grimm einmal zum Kreis der Enzyklopädisten gehören sollte, dass seine Correspondance littéraire, philosophique et critique dazu beitragen sollte die Ideen der Aufklärung über ganz Europa zu verbreiten – das war 1741 in seinem vorletzten Jahr am Gymnasium poeticum nicht vorherzusehen aber die Konstellation etwas zu werden, war günstig. In der Geschichte des Pfarrhauses begegnet man ungewöhnlich vielen Pfarrern, die wissenschaftliche und dichterische Neigungen kultivieren und die Neigungen der Väter blieben häufig nicht ohne Wirkung auf die Pfarrerskinder. Nicht alle waren erfolgreich in ihren Bemühungen, manche zerbrachen an eigenen und fremden Ansprüchen, andere aber wurden zu Lichtgestalten der gelehrten Welt. Wie unterschiedlich das Endprodukt einer Erziehung im Pfarrhaus ausfallen konnte, kann ein Hinweis auf bekannte Namen des 18. Jahrhunderts deutlich machen.18 Die Liste der Naturforscher, Erfinder und Konstrukteure, Philosophen, Musiker und Komponisten, Philanthropen, Systematiker und Mathematiker, Psychologen und Pädagogen, Theoretiker und Dichter, alles Pfarrer oder Söhne von Pfarrern, ist lang und zeigt, wie machtvoll das Pfarrhaus Kulturgeschichte geschrieben hat. „Das betrifft vor allem die Zeit nach 1740, in der die Aufklärungsdiskussion vollends das geistige Leben auch in Deutschland bestimmte. Die Philosophie der Aufklärung wird“, wie Christine Eichel, bezogen auf die Literatur aus dem Pfarrhaus, schreibt, „zur Matrix der dichtenden Söhne..., die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts auf der literarischen Bühne erscheinen. Befeuert werden sie gleich doppelt: sie haben den Bildungswillen des Elternhauses erlebt, das Engagement im Namen des Seelenheils. Hinzu treten die Ziele der Aufklärung: die „sittliche Besserung des Menschen“ und Voltaires „Écrasez l’infame“, was sich mit den Zielen des Pfarrhauses durchaus verschränken lässt.19
Was wäre wohl aus dem begabten Melchior Grimm geworden, wenn er nicht frühzeitig Freunde beim Adel gefunden, nicht eine Reise nach Paris unternommen, nicht Rousseau und Diderot getroffen hätte? Hätte aus ihm ein Lessing werden können? Schwer vorstellbar, Grimm war nicht der rebellierende und freigeistige Pfarrersohn, seine Konflikte mit den Autoritäten sollten in geschmeidigeren Bahnen ausgetragen werden.20