Читать книгу Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg - Winfried Wolf - Страница 19
Correspondance konkret - Frau von Épinay: Briefschreiberin und Geliebte – Die Affaire Rousseau –– Grimm in diplomatischen Diensten
ОглавлениеUm die Auswahl und den Inhalt der Beiträge in der Correspondance littéraire besser beurteilen zu können, muss ein wenig auf die Leitideen aufklärerischen Denkens um die Mitte des 18. Jahrhunderts eingegangen werden. Neue Vorstellungen vom Menschen und von der Welt, von der Gesellschaft und vom Staat bilden sich heraus und dringen in das literarische, künstlerische und wissenschaftliche Schaffen ein. Wir können bei einigen Aufklärern eine Hinwendung zum Materialismus und Sensualismus beobachten, das entsprach einer Radikalisierung des Denkens. Großen Einfluss hatten die philosophischen und wissenschaftlichen Positionen des Engländers John Locke, der in seinem berühmten Buch „Versuch über den menschlichen Verstand“ (1690) einen strikt sensualistischen Standpunkt eingenommen hatte. Lockes Ausführungen hatten für die Erkenntnistheorie weitreichende Folgen: Claude-Adrien Helvétius etwa legte in seinen Büchern „Diskurs über den Geist des Menschen (De l’esprit, 1758) und „Vom Menschen“ (De l’homme, 1772) den Entwurf einer materialistischen und biologistischen Psychologie und Philosophie vor. Ganz auf dieser Linie stand auch Julien Offray de La Mettrie mit seinem Buch „Der Mensch als Maschine“ (L’homme machine, 1748) La Mettrie hatte, von materialistischen Grundansichten ausgehend, strikt atheistische und antiautoritäre Positionen formuliert, die ihn in den Augen des Staates und der Kirche gefährlich erscheinen ließen. Auch Denis Diderot hatte sich den Lockschen Überlegungen zum Sensualismus und Empirismus angeschlossen: in seinen „Gedanken über die Auslegung der Natur“ (1754) formulierte er eine materialistische Philosophie, die allerdings von einem allzu mechanischen und kruden Materialismus im Stil La Mettries absah. Der französische Philosoph Condillac wiederum ließ in seiner Abhandlung über die Empfindungen, die Wahrnehmungen nur als Anlass für die Empfindungen gelten. Er verneinte die Erkennbarkeit des Wesens der Dinge. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Auslegungen der Natur führten zu einem Streit um die Grundpositionen eines philosophischen Materialismus, der sich um die Erklärung von Bewusstseinsprozessen bemühte. Diderot rückte von mechanisch-materialistischen Deutungsversuchen ab und widmete sich seiner Enzyklopädie, die als Rationales Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe ab 1750 erschien.
Inmitten dieser geistigen Auseinandersetzungen entstand die Correspondance littéraire. Sie ist die Umsetzung der neuen Erkenntnisse mit literarischen Mitteln. Die geschickte Zusammenstellung der Beiträge diente der Unterhaltung eines neugierigen aber nicht immer gelehrten Publikums, daher standen ernste neben weniger ernsten Beiträgen, witzige Anekdoten neben philosophischen Erörterungen, Komödien neben Tragödien. Karl Kraus schrieb: „In dieser Korrespondenz hat der Deutsche (Grimm) in französischer Sprache die Kunst der aktuellen Darstellung und der informativen Kritik geschaffen, über Literatur, Musik, Kunst, Mode, Theater, Persönliches, Lokales, Tratsch spricht er so lebhaft, so anschaulich, dass man noch heute seine Berichte über die Bagatellen des Pariser Lebens aus der Pompadourzeit mit mehr Interesse lesen muss, als die Telegramme von gestern Abend.“379 Alles, was Kraus anspricht, ist in Grimms Correspondance zu finden, aber es muss doch heftig widersprochen werden, wenn Melchior Grimm auch für Klatsch und Tratsch vereinnahmt wird. Solche journalistischen Formate wollte er nicht in sein Periodikum aufnehmen. Seiner langjährigen Abonnentin Luise Dorothea von Sachsen-Gotha teilte er einmal mit: „Es ist für mich beschlossene Sache, dass ich nie die kleinen Erzählungen, die kleinen Verdrießlichkeiten und Histörchen, die meine Vorgänger in Cafés aufsammelten, zum Besten geben werde.“380
Nachrichten aus dem gesellschaftlichen Leben der französischen Metropole hat Grimm aber nicht ausgeschlossen, doch die Anekdoten, die man auch in der Correspondance littéraire, wenn auch nicht sehr zahlreich, finden kann, sind keine bloße Selbstbespiegelung der Pariser bonne compagnie, auch dienen sie nicht der Befriedigung der Sensationsgier fürstlicher Abonnenten, sie fungieren vielmehr in erster Linie ebenfalls als Mittel der Aufklärung. Man könnte sagen: Die eingestreuten Geschichten versinnbildlichen eher die von Grimm verfolgten Linien der kritischen Reflexion auf amüsante Weise. Ein Beispiel dafür ist die Wahl des Comte de Clermont in die Académie francaise. Ein talentfreier, intriganter Literat, Jean-Pierre de Bougainville, so Grimms Erzählung, ging als ein aussichtsreicher Kandidat ins Rennen um einen vakanten Sitz in der Académie. Kurz vor dem Wahlgang schloss Maréchal de Richelieu eine Wette mit Président Hénault ab, dass letzterer trotz gegenteiliger Behauptung nicht für Bougainville stimmen werde. Die plötzliche Bewerbung des Comte de Clermont, der anschließend einstimmig gewählt wurde, entschied den Ausgang der Wette. Die Geschichte, die hier von Grimm erzählt wird, folgt dem Muster der höfischen Anekdote: der Höherstehende sticht den weniger noblen Amtsadeligen aus. Indem Richelieu die Entscheidung Hénaults, von der dieser selbst noch nichts weiß, vorhersieht, degradiert er ihn zu einer Marionette; seine Überlegenheit gründet sich auf die eigene Herkunft und die Nähe zum König. Die eigentliche Pointe der Geschichte aber besteht darin, dass ein Zufall im letzten Moment die Wahl eines unwürdigen Kandidaten verhindert. Das offenbart in Grimms Denken eine tiefgreifende Krise der Académie francaise und bekräftigt zugleich seine Abwertung dieser wichtigsten Pariser Kulturinstitution als geeigneter Auswahlinstanz. Wir werden an weiteren Beispielen sehen, dass Grimm immer dort, wo er mit der journalistischen Textsorte der Anekddote das Unterhaltungsbedürfnis seiner Abonnenten befriedigt, dies fast immer mit einer aufklärerischer Kritik verbindet.
Man könnte annehmen, dass Grimm, der selbst häufig die Pariser Salons besuchte, hier Stoff und Anregungen für die Correspondance fand. Es gibt jedoch nicht viele Berichte über das Pariser Salonleben und seine Mitteilungen beschränken sich auf jene Salons, die als Treffpunkte der philosophes angesehen werden konnten. Das waren namentlich die Salons von Madame Geoffrin, Madame Necker, Mademoiselle de Lespinasse und Baron d’Holbach. Es war ihm wichtig, hier die Vorrangstellung der philosophes im sozialen Raum der Salons zu betonen. Dementsprechend beschäftigte sich die längste Berichterstattungssequenz der Correspondance littéraire, die einem Pariser Salon gewidmet war, mit dem Subskriptionsprojekt für eine Statue Voltaires (1770). Das Projekt wurde zwar bei Madame Necker beraten, doch nicht die Gastgeberin stand im Mittlepunkt der Auseinandersetzungen, sondern die anwesenden Mitglieder der parti philosophiques. In der Correspondance erscheinen die (ausgewählten) Salons als ein von den philosophes dominierter Raum, der ausschließlich von deren überlegenem esprit und ihrer Virtuosität in der Kunst der Konversation beherrscht war.
Programm und journalistisches Ethos der Correspondance littéraire
Verfolgt Grimm mit seiner Correspondance ein Programm? Grimm skizziert an mehreren Stellen in der Correspondance littéraire das Programm seiner Arbeit. Er will sich nicht mit Kleinkram aufhalten, sondern Bücher und Projekte ansprechen, die über dem Tagesgeschehen stehen und seiner Meinung nach würdig sind, die öffentliche Aufmerksamkeit zu fesseln. Er denkt aber auch an sog. saure Gurkenzeiten, literarisch unfruchtbare Monate, an Zeiten, die kaum Material zur Besprechung bieten. Er plant daher auch eine „genaue und gerechte Darstellung des gegenwärtigen Standes der Literatur in Frankreich“. 381 Besondere Beachtung will Grimm in seinen Besprechungen den spectacles schenken, „cette partie brillante de la littérature francaise“. Und auch die Künste sollen nicht vergessen werden, überhaupt soll nichts der Kritik entgehen, was ihrer würdig sei.
Ein redaktionelles Programm lässt sich in der Correspondance littéraire auf den ersten Blick nicht erkennen. Grimm verfährt wie der Reporter einer Tageszeitung und bespricht ohne bestimmte Anordnung literarische und gesellschaftliche Projekte und zwischendurch geht er auch auf Tagesereignisse ein. Der eigene Anspruch, nur das Große und Überdauernde zu würdigen, wird nicht immer eingehalten.
Wenn Grimm sich für die Besprechung große Werke vornimmt, könnte man als Leser erwarten, dass auch Auszüge und Inhaltsangaben präsentiert werden. Grimm geht einen anderen Weg: Er greift einzelne, ihm nützlich erscheinende Sachverhalte heraus, stürzt sich auf unterhaltende Details und knüpft daran seine eigenen Gedanken und Vorschläge. Er fordert ausdrücklich von allen Journalisten eine Prüfung der Hauptideen der zu besprechenden Werke, faiseurs d’extraits (Auszüge) wiederzugeben, hält er für überflüssig. Gute Werke bräuchten solche nicht; „man muss sie lesen und darf sich nicht auf einen trockenen und geschmacklosen Auszug beschränken, unter dem Vorwand, mit diesem Skelett die Substanz zu erhalten“.382 Und - es sollte nur über Bücher geschrieben werden, die zu neuen und interessanten Beobachtungen und Einsichten beitragen können.
Als Richtschnur seiner Kritik nennt Grimm die Kriterien Offenheit, Wahrheit und Gerechtigkeit. Grimm verpflichtet sich: Weder persönliche Freundschaft noch Zwistigkeiten sollen mein Urteil beeinflussen. Achtung und Höflichkeit auch den Gegnern gegenüber sollen selbst in der Polemik gewahrt bleiben.383 Grimms Kritik fällt, wie wir noch sehen werden, mitunter recht scharf aus, bleibt aber in aller Regel sachlich und kommt ohne Beleidigungen aus.
Betrachtet man die Beiträge Grimms für seine Correspondance littéraire im großen Überblick und über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren hinweg, lässt sich Grimms Vorgehensweise deutlich nachzeichnen und man sieht, wie er sein Perdiodikum in eine Werkstatt der systematischen Aufklärungsarbeit384 verwandelt.
Wenn Grimm in seiner Rolle als Kritiker Urteile abgibt, spricht er nicht im Namen des Pariser Publikums bzw. der bonne compagnie; er präsentiert seine Wertungen stets als individuelle Meinungsäußerungen, deren Wahrheitsanspruch er jedoch durch rationale Argumente und durch ausgeprägte Empfindsamkeit für das Wahre und Schöne stützt.
Die aufklärerische Zielsetzung seines Periodikums verpflichtet ihn zur programmatischen Auswahl in der Berichterstattung. Er verzichtet ausdrücklich auf den Anspruch, allumfassend zu berichten.
Grimm kommt mit seiner Correspondnace littéraire auch dem traditionellen Informationsauftrag einer literarischen Korrespondenz nach. Seine ausführlichen Berichte sieht er nicht als lästige Pflichtübungen an, sie sind für ihn die notwendige Grundlage für innovative, theoretische Konzpte und praktische Reformvorschläge. So enthalten die Theaterrezensionen Grimms neben kleinen Hinweisen zum Inhalt auch ausführliche Schilderungen von Kostümen und Bühnenbildern. Ebenso würdigt er schauspielerischer Leistungen. Eingehende Besprechungen, die sich nicht selten über mehrere Lieferungen erstreckten, setzten die fernen Empfänger in die Lage, die aktuellsten Theaterstücke noch vor Drucklegung wie aus einer Pariser Loge zu verfolgen. Die facettenreiche Theaterkritik, die Grimm und Diderot in der Correspondance ihren Lesern anboten, war gleichzeitig ein Probierraum für die Formulierung einer neuen Theaterästhetik, die wiederum zum Ausgangspunkt für eine Theaterreform werden konnte. Wie Grimm als Theaterkritiker seine Leser quasi ins virtuelle Pariser Theater zu entführen vermochte, so konnte Diderots lebendiger Dialog mit den Bildern, seine Leser mitten in den Ausstellungssaal des Louvre versetzen, wo er ihnen die Illusion eines direkten Kontaktes mit den Kunstwerken ermöglichte.
Neben der Schönen Literatur, dem Theater und den Bildenden Künsten, deren Kenntnis die Leitwährung der europäischen Hofkultur darstellte, genossen auch Philosophie und Pädagogik, Geschichte und Geographie, Staatstheorie und politische Ökonomie die besondere Aufmerksamkeit Grimms. Damit unterschied sich Grimms Correspondance von den meisten anderen literarischen Korrespondenzen, die diesen Themen eher eine marginale Rolle zuwiesen. Für Grimm aber waren Philosophie, Staatstheorie und Geschichte wichtige Themengebiete des gesellschaftlichen Diskurses der philosophes und den wollte er seinen fürstlichen Lesern, seinem aufklärerischen Auftrag folgend, nicht vorenthalten.
Die Correspondance littéraire war nicht zuletzt durch Grimms Leitung und Formung auch ein Gemeinschaftsunternehmen. Grimm versuchte von Anfgang an, seine Freunde unter den Pariser philosophes für eine Mitarbeit an seinem Periodikum zu gewinnen. In den frühen Jahren der Correspondance gehörten neben Diderot und Rousseau die drei mit Grimm befreundeten Dichter Desmahils, Margency und Saint-Lambert sowie Grimms Lebensgefährtin Madame d’Épinay zu seinen Mitarbeitern. Während seiner langen Reisen in den Jahren 1757, 1759, 1762, 1769 und 1772 wurde sein Periodikum vollends zu einem kollektiven Unternehmen. Die ehemaligen Koautoren, Diderot und Madame d’Épinay schrieben nun nicht mehr nur Rezensionen für die Correspopndance littéraire, sondern übernahmen auch die Führung der Redaktionsgeschäfte. Das sicherte die Fortexistenz der Correspondance und entlastete Grimm als Herausgeber. Unter den Autoren, die für die Correspondance littéraire schrieben, zu ihnen gehörten beispielsweise Suard, Étienne Noel Damilaville, Charles Bonnet, Louis-Jean-Marie Dauberton und Baron d’Holbach, verdienen der Abbé Galiani und Voltaire eine besondere Erwähnung. Galiani, der nach seiner Pariser Zeit, noch in engem brieflichen Kontakt mit Madame d’Épinay stand, blieb auch mit der Redaktion der Correspondance littéraire aktiv verbunden. Seine kritischen Kommentare konnte man zwischen 1771 und 1773 in einer eigenen Rubrik der Correspondance finden.
Eine maßgebliche Rolle im Gemeinschaftsunternehmen Correspondance littéraire spielte kein Geringerer als Voltaire. Er schrieb zwar keine Artikel für Grimms Perkiodikum, nahm hier aber trotzdem eine zentrale Stellung ein. Grimm und Madame d’Épinay hatten den Patriarchen von Ferney während ihres gemeinsamen Aufenthaltes von Februar bis Oktober 1759 besucht. Seit dieser Zeit fanden Briefe, philosophische Dichtungen und polemische Texte, die Voltaire über Mittelsmänner Grimm zukommen ließ, reichlich Aufnahme in der Correspondance littéraire. Grimm publizierte zwischen 1761 und 1769 insgesamt 355 Briefe des führnden Kopfes der Aufklärung.
Mit dem kollektiven Charakter der Correspondance littéraire übersetzte Grimm, und das ist keine kleine Leistung, das aufklärerische Ideal der dialogischen Wahrheitssuche in eine spezifische Kommunikationsform, von der sich sein Nachfolger später Stück für Stück wieder verabschiedete.385