Читать книгу Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg - Winfried Wolf - Страница 13
Die Correspondance littéraire - Modell einer esoterischen Wissenskommunikation der Aufklärung – Abgrenzung nach unten
ОглавлениеIn der Einleitung, die Grimm seiner ersten Sendung der Correspondance littéraire voranstellte, machte er seine Abonnenten auf die grundlegende Zweiteilung der literarischen Produktionen in Frankreich aufmerksam: „In den Blättern, um die man uns bittet, werden wir uns wenig an die Broschüren halten, die von schlechten Schriftstellern und kleinen Geistern alle Tage Paris überschwemmen und die Literatur nur beflecken. Wir werden darauf mit einer überlegten Kritik derjenigen Bücher antworten, die auch eine Beachtung der Öffentlichkeit verdienen.“303 Grimm versäumte es nicht, in seiner Correspondance auch auf die in seinen Augen schlechte Literatur aufmerksam zu machen, sie diente ihm als negative Referenzgröße, wenn es beispielsweise darum ging, einen Autor zu kritisieren und ihn mit Spott und geistreichen Einfällen zu malträtieren. Durch die Expansion des Marktes für Druckerzeugnisse hatte die Schriftstellertätigkeit an Exklusivität eingebüßt. Viele sahen nun im Schreiben von Büchern eine bloße Möglichkeit an Geld zu kommen und auch weniger begabte Schriftsteller sahen darin für sich eine Chance. Der einsetzende Konkurrenzkampf um die Gunst der Leserschaft zwang zum Imitieren und Plagiieren anerkannter Schöpfungen anderer Schriftsteller. Davon zeugen nach Grimm verschiedene Vorgangsweisen, er verweist in diesem Zusammenhang auf Montesquieus „Persische Briefe“: „Seit den „Persischen Briefen“ des unsterblichen Präsidenten Montesquieu, gibt es kein Volk in Asien oder Amerika, von denen wir nicht einige Individuen nach Frankreich haben reisen lassen, damit sie uns ein Bild von unseren Sitten vor Augen führen. So ist der Herr aus Siam oder Mexiko gewöhnlich ein armer Teufel, der ein paar Heller braucht, um nicht Hungers zu sterben, und der ganz hinten, auf der letzten Seite, schreiben darf.“ 304
Das Kompilieren neuer Werke aus mehreren fremden Schriften hielt Grimm für die schlimmste Geißel der république des lettres: „Es ist beängstigend zu sehen, bis zu welchem Punkt die Verfasser von Abhandlungen, Wörterbüchern und allen Arten von Zusammenstellungen in den letzten Jahren gegangen sind. Sie sind wie die Raupen, die am Baum der Literatur fressen und selbst bei den Wurzeln nicht halt machen.“305 Das Auftreten schriftstellerischer Taugenichtse könnte, so Grimm, das kritisch-diskursive Potential einer öffentlichen Diskussion zunichte machen. Der einsetzende Mechanismus des Zerredens und Zerpflückens bringe jede vernünftige Diskussion zum Erliegen. Grimm macht dies am Beispiel von Rousseaus „Brief über die französische Musik“ deutlich: „Es wäre zu wünschen gewesen“, schreibt er, „dass ein Mann von Rousseaus Format die Feder ergriffen hätte. Aber es passierte, was mehr als einmal passiert ist: kleine Schriftsteller mischen sich ein und es regnet von allen Seiten schlechte Broschüren.“306 Die Skandalisierung der Kritik, die nichts anders bezwecke als sich in persönlichen Beleidigungen zu ergehen und keinerlei sachliche Diskussion zulasse, führe nur dazu, dass letztlich das Publikum das Interesse an der Sache verliere.
Grimm beobachtet auch eine Entwicklung im Buchmarkt, die nur noch wenig mit der Qualität der Bücher zu tun habe und bemüht einen Vergleich mit der Institution der mittelalterlichen Bettelmönche: „Literatur und Buchdruck erfassen heute alle möglichen Bereiche und Objekte. Das Jahrhundert der Mönche ist vergangen und die Müßigen, die auf Kosten der Öffentlichkeit lebten sind nun gezwungen andere Sachen zu machen, als lateinisch zu grölen. Die Büchermacher ersetzen die Bettelmönche, sie beschmieren das Papier wie früher die Mönche mit ihrer Bettelei dem Volk eine Steuer abverlangten.“307 Zugleich erkennt Grimm, dass es im öffentlichen Kommunikationsraum nicht nur um materiellen, sondern auch um symbolischen Profit geht. Hinter der Teilnahme an der öffentlichen Debatte stecke zum großen Teil nichts weiter als eine Strategie zur Selbstinszenierung: „Der oberflächliche Mensch plaudert, der gründlich nachdenkende Mensch hat zum Plaudern keine Zeit; er operiert, handelt und spricht nur bei seltenen Gelegenheiten oder aber er hat etwas Neues anzukündigen. Es ist klar, dass man mit dieser Methode seinen Namen nicht alle Monate in fünfundzwanzig Journalen findet ... .“308
Vom Hang zur Selbstinszenierung schließt Grimm die Vertreter der Aufklärungsbewegung nicht grundsätzlich aus. Darauf verweist seine Berichterstattung über den Streit zwischen Rousseau und d’Alembert zum Artikel „Genève“ für die Encyclopédie. Den streitenden Parteien wirft Grimm Widersprüchlichkeit, Dogmatismus, Mangel an Sachkenntnis und unverhohlene Selbstbezogenheit vor.309 Es liege aber auch am französischen Publikum, das eine öffentliche Kommunikation zum Zwecke der Aufklärung verhindere. Man müsse sich leider von der Vorstellung verabschieden, im Publikum einen vernunftorientierten und unbestechlichen Richter zu sehen. Grimm sprach im Anschluss an Voltaire und mit Blick auf einen Teil des Publikums von „Dummköpfen“ (les sots)310 oder in Anlehnung an Horaz von Zuschauern als „sklavischem Rindvieh“.311 Die Mehrheit des Publikums, erklärte Grimm, sei nur noch für Oberflächenreize empfänglich, sie lasse sich durch stilistisch brillantes Blendwerk verführen und sei wankelmütig in ihrem Urteil: „Wir sind wirklich Kinder; es ist leicht uns mit billigen Reizen zu verführen und ich glaube nicht, dass es ein Land auf der Welt gibt wo man erfolgreicher über Sachen sprechen kann, über die man nie nachgedacht hat.“312 Wie rasch sich beispielsweise die Bewertungen eines Werkes von Voltaire durch das Pariser Publikum abwechseln, beschreibt Grimm so: „Über jedes neue Abenteuer von Herrn Voltaire macht sich das Publikum lustig und schmäht seine Person, man lobt seine bisherigen Arbeiten auf Kosten des neuen Werks, am Ende ist es dann so wie mit den anderen. Vor zehn Jahren schon sagte man von diesem berühmten Mann dass es mit ihm bergab gehe.“313
In seine „Publikumsbeschimpfung“ bezieht Grimm auch die sog. bessere Gesellschaft mit ein. Grimm entlarvt sie als frivolen Pöbel, der aus reichen und ignoranten Müßiggängern bestehe.314 In seine Kritik schließt Grimm auch das Lesepublikum mit ein. Er beobachtet eine wahllose Lektüre, die nichts außer Zerstreuung und Selbsterhebung über den Autor zum Ziel habe. Aufklärerische Impulse könne man bei sinkender Qualität der Bücher und der damit zusammenhängenden Verwahrlosung der Leser nicht erwarten. Leider könne sich nur diejenige literarische und künstlerische Produktion beim Publikum behaupten, die an sich den niedrigsten intellektuellen und ästhetischen Anspruch erhebe. „Man sagt, dass es notwendig sei, für Leute von Geist zu schreiben, aber das stimmt nicht.“315 Unbequeme Wahrheiten wolle das Publikum nicht hören, es will umschmeichelt werden. Grimm sieht darin ein sicheres Indiz der nationalen Dekadenz: „Ich gestehe, dass in meinen Augen das Loblied auf die Leichtigkeit des Schluckens und Verdauens das ärgerlichste Symptom einiger nationaler Epochen war.“316
Grimm konstatiert einen prekären Kreislauf: Schlechte Schriftsteller verderben mit ihren Büchern und Broschüren den Geschmack des Publikums, indem sie es peu a peu an Grobheiten und Plattitüden gewöhnen. Die Folge davon ist, dass nun das Publikum all jenen den Erfolg versagt, die es wagen, mehr als einfache und leicht verdauliche Kost anzubieten. Gute Schriftsteller verlören auf diese Weise bald die Lust an einer schöpferischen Tätigkeit. Diese negative Wechselwirkung von schlechter Literatur und schlechtem Publikum mache auf Dauer die Hoffnung auf Selbstaufklärung durch kollektiven Gebrauch der Vernunft zunichte. Eine öffentliche Debatte im Sinn der Aufklärung komme nicht mehr zustande; die Mechanismen des literarischen Marktes lassen eine Steuerung der Kommunikation, die den Normen einer sachorientierten Argumentation und der aufklärerischen Selbstverpflichtung zur Nützlichkeit des intellektuellen Austausches folgen, nicht mehr zu.
Exkurs: Der Abbé Laurens – ein Literat zweiter Garnitur
Einer, der nicht zur „bonne compagnie“ gehörte und trotzdem in der Correspondance littéraire gleich mehrmals erwähnt wurde, war der Abbé Henri-Joseph Laurens.317 Er gehörte zu jenen Schreiberlingen, deren schlechter Stil Grimm als Abgrenzungskriterium zu wirklich guter Literatur diente. Er wollte seinen Lesern die Werke jenes Laurens nicht vorenthalten, mangelte es ihnen doch, wie Grimm meinte, „nicht an Talent“. Der Abbé Laurens hatte in den Niederlanden eine literarische Arbeit unter dem Titel „L’Arétin“ in Druck gehen lassen. Die zwei schmalen Bändchen enthalten ein buntes Gedankenallerlei; in reichlich freier Manier werden darin die verschiedensten Themen behandelt: Es finden sich Traktate über die Kindererziehung, über den Ackerbau, über die Sklaverei, über Kirchenfeste und vieles mehr. Die Correspondance littéraire kam in ihrer Besprechung des Büchleins zu folgendem Urteil: „Man hat in Holland eine weitere wenig dezente Arbeit gedruckt, genannt „L’Arétin“. Sie enthält die halb wahre, halb verfälschte Geschichte dieses ehemaligen Mönches Laurens, der im letzten Jahre das Poem „Le balai“ veröffentlichte. Seine Prosa und seine Verse sind fürchterlich. Man kann jedoch nicht umhin festzustellen, dass es dem Verfasser nicht an Talent gemangelt haben würde, wenn er es im Verkehr mit der bonne compagnie hätte kultivieren können.“318
Ein ähnliches Urteil fällt Grimm über ein anderes Werk des gleichen Autors. In der Oktoberausgabe der Correspondance littéraire von 1765 lesen wir: „Es existiert ein episches Poem im Genre der Pucelle, genannt Chandelle d’Arras, in achtzehn Gesängen. Es kommt aus Holland. Der Verfasser ist ein gewisser Herr Dulaurens, ein Mathuriner, der sein Kutte abgelegt hat und der gute Gründe dafür hat, sich nicht in Frankreich aufzuhalten. Vor einigen Jahren hat er schon eine andere Dichtung veröffentlicht, genannt „le balai“, in der man das Porträt von Herrn Kardinal de Bernis erkannte, übersät mit einer Menge Plattheiten und Impertinenzen. Dieser Herr Dulaurens ist sicherlich ein abscheulicher Poet, ganz abgesehen von den Unanständigkeiten und Obszönitäten. Aber wenn dieser Herr Dulaurens in der Welt erzogen worden wäre und wenn er es verstanden hätte, den Ton der bonne compagnie anzunehmen und seinen Geschmack zu formen, würde es ihm nicht an Talent gemangelt haben. Ihm gelingt zuweilen ein halbes Dutzend Verse, die an die Art des Herrn Voltaire erinnern. Aber sein glücklicher Einfall hält nicht lange vor, und er ertrinkt bald danach in einer Flut von Dummheiten und Zoten. Die „Chandelle d’Arras“ findet sich dank der Wachsamkeit der Polizei nicht in Paris.“319 Grimm sieht hier durchaus eine wirkliche Begabung und vielleicht sogar einen Bündnispartner der Philosophengesellschaft. Die fehlende Beachtung von Verbindlichkeiten, die in der bonne compagnie entwickelt worden sind, verbieten es jedoch, dem Nachwuchsautor schon die Hand zu reichen. Der Abbé Laurens verhielt sich einfach nicht standesgemäß.
Ende des Jahres 1765 erschien ein weiteres Werk des Abbé Laurens auf dem Büchermarkt: der „Compère Mathieu“. Es handelt sich dabei um einen satirischen Roman in drei Bänden. Der Roman ist, wie Kurt Schnelle urteilt, „ein für die Aufklärung außerordentlich bedeutsamer Streifzug durch alle menschlichen Denkbezirke. Er stellt nicht nur die bisher wirkenden Vorurteile, sondern auch die Theorien der Philosophen des 18. Jahrhunderts einer gesuchten Lebenspraxis gegenüber.“320 Der Roman weist ein Kompositionsprogramm auf, das übrigens auch in Diderots „Jacques le fataliste“ enthalten ist. Ganz offensichtlich hat Diderot bei Laurens Anleihen gemacht und er versäumte nicht in seinem „Jacques le fataliste“ auf den „Compère Mathieu“ zu verweisen, ein Buch, das nach seiner Meinung mit Rabelais’ Pantagruel zu den bedeutendsten Büchern seiner Art zähle. Grimms Urteil über das Buch jedoch fällt ungünstig aus: „Der Gevatter Mathies ist ein Schelm, der sich mit einem anderen Schelm zusammentut, und diese beiden sind Philosophen und rechtfertigen ihre Streiche mit moralischen Erwägungen, die den Schriften der berühmtesten französischen Philosophen entnommen sind. Dies bedeutet nichts anderes, als das noble Unternehmen des Verfassers der Philosophenkomödie in Romanform ausgeführt zu haben.“321 In seiner Kritik vergleicht Grimm den Abbé Laurens mit Palissot322, dem Verfasser einer antiphilosophischen Komödie, damit hat Laurens in den Augen Grimms endgültig die Grenzen des Zumutbaren überschrittenen und er entzieht ihm nun jegliche Unterstützung.
In Grimms Auseinandersetzung mit dem Abbé Laurens spiegelt sich das Verhältnis von philosophischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis. Grimms Hinweise darauf, dass der Abbé Laurens seine Talente hätte besser pflegen sollen, zeigen, dass die literarisch tonangebende Gesellschaft durchaus gewillt war, die Probleme der zu ihr stoßenden Autoren niederen Ranges zu beachten. Aber diese Autoren sollten doch gewisse Spielregeln des literarischen Anstandes wahren. Grimm beobachtete mit Argwohn, dass der Büchermarkt die Erzeugnisse aus der Feder dieser Schreiberlinge außerordentlich schätzte. Auch die Schriften des Abbé Laurens wurden ständig neu aufgelegt, wenngleich er selbst mehr schlecht als recht vom Ertrag seiner Feder leben konnte: Das Leben des Abbé Laurens war so unstet, dass ihm wenig Zeit zum Ausfeilen seiner literarischen Arbeiten geblieben sein mag. Für die Correspondance littéraire genügte es nicht, der Philosophenpartei seine Feder zu leihen, es musste auch die Form stimmen. Die derbe Art der Schriftstellerei eines Abbé Laurens war für Grimm nicht akzeptabel. Eine ästhetische Rebellion gegen die gültigen literarischen Ausdrucksmittel, die vor allem in Laurens’ Schrift „Compère Mathieu“ eine konsequente Ausprägung erhalten sollte, fand in Grimms bonne compagnie jedenfalls keine günstige Aufnahme.
Schlechter Geschmack ist unverzeihlich
In der Schilderung des fehlgeleiteten Kommunikationskreislaufes offenbart sich Grimms pessimistische Einschätzung der Möglichkeiten des Aufklärers, den Massengeschmack zu verbessern und die befürchtete Abwärtsspirale aufzuhalten.323 Grimm hat die konkreten Folgen dieser Vision der kommunikativen Abwärtsspirale für das Projekt der Aufklärung in einem ungewöhnlichen Leitartikel in der Aprilausgabe der Correspondance littéraire von 1765 eindrucksvoll beschrieben. Einmal im Jahr wird zur Saisoneröffnung der Comédie-Francaise von einem Schauspieler eine Ansprache an das Publikum gehalten. Bereits im Juni 1753 hatte Grimm den Text einer solchen Ansprache aus der Feder d’Alemberts in seiner Correspondance wiedergegeben. Grimm präsentiert nun einen eigenen Redeentwurf, der allerdings gänzlich mit der Tradition des Genres bricht. Statt der üblichen Verbeugung vor dem Parterre324 beginnt Grimm seine Ansprache mit den Worten: „Sehr bescheidene Proteste im Parterre der französischen Komödie.“ („Très humbles remontrances au parterre de la Comédie francaise“.) Das ist eine ironische Anspielung auf das Recht der Parlamente, ihre Einsprüche und Beschwerden an den Monarchen zu richten. Was aber bei d’Alembert noch eine Lobrede an das parterre (das Publikum) war, gerät bei Grimm zum Abgesang auf die Urteilskompetenz des Publikums. „Was ich nicht verzeihen kann, ist dieser falsche Geschmack, der sich breit macht, das ist der Beifall, mit dem die verschrobensten Sachen überhäuft werden während das wirklich Schöne abgelehnt wird. Die Leute wissen nicht mehr, was angemessen ist, was schicklich und sittlich ist und dem Charakter der Völker entspricht usw. [...] Das hält schon lange Zeit so an. Viele kluge Leute hatten gehofft, dass man das Gefühl für das Genie und die wahre Schönheit wiederlangen könnte. Ich aber habe schon immer befürchtet, dass der schlechte Geschmack kein guter Richter sein wird.“325 Das imaginierte parterre der Vergangenheit ist einer frivolen Meute gewichen, welches die wahren Genies – z. B. Diderot – nicht mehr zu erkennen vermag. Grimm glaubt offenbar nicht mehr so recht daran, dass mit den Möglichkeiten der Aufklärung der Geschmack der Massen zu verbessern sei. Düster hört es sich an, wenn er sagt: „votre gout se perd et se corrompt tous les jours davantage“.326
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich sein Modell eines esoterischen Kommunikationsmediums ab. Die Correspondance littéraire ist dafür genau das rechte Organ für den Auszug aus der Sphäre der literarischen Öffentlichkeit. Der unterstellte Verfall einer kritischen Öffentlichkeit erfordert geradezu die Modellierung einer esoterischen Wissenskommunikation. Somit bildet die Correspondance littéraire nach Grimm das elitäre Selbstverständnis der Aufklärer ab und stellt sozusagen einen letzten Rückzugsraum für die Aufklärung dar. Grimms Periodikum macht mit seinem Anspruch auf höchste Qualität seine Leser zu einer Gemeinschaft der Auserwählten, hier können noch wahre Genies mit den wahren Kennern in Kommunikation treten. Dazu Grimm: „Das Genie kann nur in einer kleinen Anzahl hervorragender Geister wirken; für das Vulgäre unverständlich, kann es sich freuen, wenn es seiner Zensur entkommt.“ 327 Wenn Grimm seinem Freund Diderot eine gewisse Naivität im Glauben an die Veränderbarkeit der Verhältnisse durch Aufklärung unterstellt, so ist er doch andererseits davon überzeugt, dass die Produktionen der Aufklärer nicht völlig umsonst sind und für die Nachwelt aufgehoben werden müssen. Generationen nach ihnen, so die Hoffnung, werden dann vielleicht die Archive öffnen und die Schätze zu würdigen wissen. Kirill Abrosimov hat diesen Grimmschen Gedanken aufgenommen und weiter ausgeführt.328
Grimm stellt mit seiner Correspondance littéraire, die nur einem ausgewählten fürstlichen Leserkreis zugänglich war, eine Abkürzung zu den „Lesern der Zukunft“ dar. Die Einschränkung auf wenige, sorgfältig ausgewählte, hochgestellte Empfänger mit Einfluss, sollte dafür sorgen, dass diese „Flaschenpost“ der Nachwelt auch zugestellt wird. Im staatlichen Schutze und in sicheren Archiven und Bibliotheken, wo einzelne Exemplare des Periodikums tatsächlich auch landeten, hätten die Erzeugnisse des philosophischen Geistes die besten Chancen, die Jahrhunderte zu überdauern, um schließlich anerkannt und umgesetzt zu werden. Es ist bemerkenswert, dass einige der Abonnenten der Correspondance littéraire diese zugewiesene Funktion als Archivare der französischen Aufklärung von sich aus angestrebt und umgesetzt haben. So bemühte sich beispielsweise die russische Zarin Katharina II. mit Nachdruck um die Rolle der „Gralshüterin“ der philosophes, indem sie, nicht zuletzt auch über die Vermittlung Grimms, die Bibliotheken von Diderot und Voltaire erwarb.
Die Correspondance littéraire ganz ohne Struktur und Ordnung? Der Eindruck täuscht.
Unscheinbar und ohne äußeres Gepränge kommen die Blätter der Correspondance littéraire daher; eng beschriebene Seiten im Quartformat, eine Gliederung nach Themen ist auf den ersten Blick nicht erkennbar, Überschriften fehlen, ein Beitrag folgt übergangslos dem nächsten, das ist wirklich nicht sehr leserfreundlich. Heutige Leser sind anderes gewohnt, ihnen geben Absätze und Überschriften, Hervorhebungen und Fettdruck die nötige Orientierung. Grimms Correspondance littéraire ist auch keine Sammlung von Briefen mit persönlichen Anreden und Grußformeln, wie man es vielleicht von der Titulierung her erwarten könnte; es ist eine auf den ersten oder gar erst auf den zweiten Blick erkennbare Ansammlung von Berichten und Mitteilungen über Ereignisse des Pariser Kulturbetriebes. Erst beim Durchlesen lassen sich absichtsvolle Anordnungen und Arrangements erkennen. Nun werden auch Beiträge kenntlich, die als Briefe bekannter Absender aufgenommen wurden und denen Briefe anderer bekannter Autoren beigesellt oder gegenübergestellt werden.
Man erkennt: Grimms Correspondance littéraire erwartet von ihren Abonnenten keine Antworten, sie ist kein öffentliches Forum, sie versteht sich nicht als Debattierclub, trotzdem ist sie mit ihren Beiträgen häufig der Form eines kunstvollen Dialoges nachgebildet. Denn das ist das Besonderes an Grimms Correspondance littéraire: in ihr wird die Vielgestaltigkeit der Aufklärung mit den Stimmen ihrer hervorragendsten Vertreter im Originalton einem auserlesenen Publikum zu Gehör gebracht. Grimm erwartet von seinen Abonnenten keine Mitsprache, ja er verbittet sich sogar jedes Dreinreden, das widerspräche seinem Konzept von Unabhängigkeit und Freiheit der Meinungsäußerung. Das Besondere seines Arrangements aber ist, dass es trotzdem zu einem Dialog kommt. Die Vielgestaltigkeit der Beiträge, die Hereinnahme der unterschiedlichsten Stimmen, lässt die Correspondance littéraire zu einem kollektiven Organ der Aufklärung werden.
Grimm folgt mit der Anordnung seiner Beiträge den Vorgaben des Sokratischen Dialogs: die Wahrheitssuche gründet sich auf der Akzeptanz von Meinungs- und Standpunktunterschieden, sie ist ihm die notwendige Voraussetzung für eine freie und fruchtbare Kommunikation. Grimm sieht sich dabei als Beförderer einer kritischen Urteilsbildung, die sich der kollektiven Wahrheitssuche verpflichtet hat. Seine Mittel sind: kompromisslose und selbstbewusste Kritik sowie originelle Wissensproduktion statt komprimierter Wiedergabe des bereits Gedachten und Geschriebenen. Grimm gibt im Unterschied zu anderen literarischen Korrespondenten nicht bloß den Geschmack des Publikums wieder, er plappert nicht nach, was auf der Straße oder in den Salons geredet wird, er präsentiert die Neuigkeiten der „republique des lettres et des arts“ vom Standpunkt eines „philosophe“ aus. Er versteht seine Correspondance littéraire als Werkstatt für systematische Aufklärungsarbeit. Er stellt die Beiträge in kontextuelle Zusammenhänge, er unterzieht sie einer kritischen Prüfung und er versucht sich an einer experimentellen Umgestaltung diverser ästhetischer und gesellschaftspolitischer Problemfelder. Ziel seines Vorgehens ist dabei immer eine ganzheitliche Reform von Kultur und Gesellschaft. Seine kunstvollen Arrangements, die er ganz im Sinne eines lebendigen Dialogs zusammenstellt, sollen an drei Beispielen verdeutlicht werden.
Grimm hat häufig Briefe führender Aufklärer in sein Periodikum aufgenommen. Kunstvoll und geschickt ordnet er Texte, die ihm von ihren Absendern oder Empfängern überlassen wurden, in neue Beziehungsgeflechte ein und fügt ihnen neue Bedeutungskomponenten hinzu. Eine solche Neukontextualisierung können wir beispielsweise an der Aufnahme von Diderots Brief an Landois nachvollziehen. In diesem Brief legt der Philosoph sein deterministisches Glaubensbekenntnis ab.329 Der Adressat des Schreibens spielt aber für Grimms Arrangement keine große Rolle, der Brief wird vielmehr als Diderots Antwort auf Voltaires philosophisches Gedicht „Poème sur le Désastre de Lisbonne“ präsentiert. Mit diesem Gedicht hatte sich Grimm im unmittelbar vorangehenden Beitrag hart auseinandergesetzt. Gleich im Anschluss an Diderots Brief fügt Grimm sein eigenes kurzes Billet an Diderot ein, in dem er den Brief des Freundes als ein philosophisches „chef-d’oeuvre“ bezeichnet und ansonsten in allen Dingen Diderot beipflichtet. Die Diskussion zentraler Probleme der französischen Aufklärungsphilosophie, wie etwa die Existenz des Bösen, wird anschließend in einem Brief Rousseaus an Voltaire fortgeführt. Rousseau schließt sich darin mehreren kritischen Einwänden Grimms und Diderots an, bekräftigt hier aber auch seinen eigenen Standpunkt, wonach dem Glauben Vorrang vor der Vernunft einzuräumen sei. Gerade die Aufnahme von Rousseaus fideistischem Standpunkt zeigt wiederum, dass Äußerungen aus fremder Feder im Kontext der Correspondance littéraire nicht immer der Meinung des Redakteurs entsprechen müssen. Grimm nimmt also auch Briefe in sein Periodikum auf, die seine eigene Position infrage stellen können. Akzeptanz der Meinungs- und Standpunktunterschiede stehen für die Polyperspektivität der Correspondance littéraire.
Eine weitere Variante schriftlicher Kommunikation begegnet uns erstmals in der Besprechung des Kunstsalons von 1761330; hier wird die Methode der Intertextualität zum ersten Mal auch im Schriftbild sichtbar gemacht. Grimm setzt seine Kommentare mitten in den Text Diderots ein und markiert die Schnittstellen im Manuskript mit Sternchen (*). Diese Intervention setzt sich in auch in den nächsten Salons fort und steht für Grimms Bemühungen, den intellektuellen Austausch in Dialogform zu führen. Auf diese Weise wird der Leser zum Teilnehmer einer Auseinandersetzung gemacht, die der Schärfung seiner eigenen Urteilskraft dienen kann.
Im Rahmen der „philosophischen Allianz“331 fasst Grimms Correspondance littéraire kommunikative Akte unterschiedlicher Herkunft auch nachträglich zu einer Einheit zusammen. Grimm verknüpft Briefe unterschiedlicher Absender so geschickt miteinander, dass der Eindruck einer lebendigen Kommunikation entstehen kann. So publiziert er beispielsweise in der Februarausgabe der Correspondance littéraire von 1763 den Brief Katharinas II. an d’Alembert vom 13. November 1762332, worin sie ihn bittet, Erzieher des Thronfolgers Paul zu werden. In der gleichen Ausgabe platziert Grimm den Brief des Grafen Iwan Schuwalov an Diderot vom 20. August 1762333, in dem dieser dem Philosophen den Vorschlag macht, die „Encyclopédie“ in Riga zu Ende zu führen. Diesen beiden Schreiben fügt Grimm einen Brief Voltaires an Diderot hinzu, in dem Katharina II. zu einer Heldengestalt der Aufklärung erhoben wird.334 In dieser Zusammenstellung der Briefe wird Voltaires Schreiben als die eigentliche Antwort auf die beiden Briefe aus St. Petersburg präsentiert. Katharina wird für ihr Engagement und ihr Eintreten für die Belange der Aufklärung gelobt und besonders hervorgehoben. Mit dieser Zusammenstellung der Briefe gelingt es Grimm, den symbolischen Dialog zwischen europäischen Fürsten und französischen Aufklärern im Medium seines Periodikums darzustellen.
Die Abonnenten von Grimms Correspondance littéraire und Grimms Kampf um die Unabhängigkeit seines Periodikums
Zum fürstlichen Abonnentenkreis, den Grimm auch auf späteren Reisen noch ausweiten konnte, zählten nahezu alle Höfe Europas. Die Correspondance wurde von Schreibern außer Reichweite der Zensoren beispielsweise in Zweibrücken mit der Hand vervielfältigt und unkontrolliert durch die Diplomatenpost, also über Gesandtschaftskuriere oder Sekretäre den Abonnenten zugestellt; zu den ersten Empfängern gehörte die Herzogin Louise Dorothée von Sachsen-Gotha-Altenburg und die Brüder Friedrichs II., deren Abonnement der nach Preußen geflohene Abbé de Prades335 vermittelt hatte. Diese Geheimhaltung hat den Reiz des Unternehmens beträchtlich erhöht, handelte es sich doch um eine Art Freimaurerei in der „Gelehrtenrepublik“. Die Geheimhaltung des Inhalts der Correspondance littéraire gab dem Medium ein zusätzliches Gewicht: es signalisierte ein Komplizenschaft der europäischen Elite, die sich im Geist der Aufklärung als république des lettres verstand. Grimm hat diese Gemeinschaft der Aufgeklärten mehrfach thematisiert, am eindruckvollsten geschah dies in dem berühmten „Sermon philosophique“, den er für das Jahr 1770 an den Anfang seiner Correspondance littéraire stellte.336
Die Correspondance lasen nahezu alle deutschen Fürsten, die Liste von Grimms Abonnenten liest sich dementsprechend wie ein Who’s who des deutschsprachigen Adels: Prinz Georg Wilhelm von Hessen-Darmstadt, die Fürstin Sophie Christiane Charlotte Friederike Erdmuth von Nassau-Saarbrücken, Herzog Christian IV. von Zweibrücken, Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, die Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt, hinzu kommen Christian VII. von Dänemark, Georg III. von England, die Zarin Katharina die Große, Friedrich der Große, Gustav III. von Schweden, Stanislaw II. von Polen, Großherzog Leopold von Toskana, die Prinzen August Wilhelm und Heinrich, die Brüder Friedrichs II. von Preußen. Unter den Lesern der Correspondance waren auch manche Nicht-Nobilierte oder – wie etwa Johann Wolfgang von Goethe – einige geadelte Bürgerliche. Der Geheime Rat Goethe wusste es zu schätzen, dass er zum (geheimen) Zirkel der Empfänger gehörte: „Auch mir war, durch die Gunst hoher Gönner, eine regelmäßige Mitteilung dieser Blätter beschieden, die ich mit großem Bedacht eifrig zu studieren nicht unterließ.“337 Private Personen ließ Grimm als Abnehmer der Correspondance littéraire prinzipiell nicht zu. Sie konnten ihm nicht jene strenge Diskretion, deren seine Wahrheitsliebe und Offenheit bedurfte, garantieren. Wenn Grimm seine Leser immer wieder an ihre Pflicht erinnert, sein Werk nicht der Öffentlichkeit preiszugeben, so ist dies sicher keine „Wichtigtuerei“, sondern eine leicht begreifliche Sorge, da für ihn seine ganze Existenz auf dem Spiel stand.
Der Bezugspreis gestaltete sich unterschiedlich; Wie genau Grimm bei der Preisgestaltung vorging, ist nicht bekannt, man kann aber wohl davon ausgehen, dass er einen mehr oder weniger einheitlichen Preis verlangte. In der Preisliste, die Frederika Macdonald ihrem Buch „La Légende de Jean-Jacques Rousseau“ für die Jahre 1763 – 1766 beigefügt hat, sieht es so aus, als habe Grimm die Kosten den Möglichkeiten der jeweiligen Bezieher oder Landeskassen angepasst. Diese Liste hat auch André Cazes in sein Buch „Grimm et les Encyclopédistes“ übernommen. Die Authentizität von Macdonalds Liste ist jedoch mehr als zweifelhaft. Die angegebenen Bezugspreise gehen sehr weit auseinander, Grimm hatte aber einen mehr oder weniger festen Preis für seine „feuilles“angesetzt. Die Liste führt etliche Namen von Personen auf, die in Frankreich beheimatet waren, die Correspondance littéraire wurde aber bekanntlich außerhalb Frankreichs vertrieben. Einige der aufgeführten Personen gehörten nicht dem Adel an, Grimm schickte seine Correspondance aber ausschließlich an Prinzen. Gut möglich, dass Frau Macdonald hier einige Listen durcheinander gebracht hat. Dies ist im übrigen nur ein Beispiel dafür, dass die „Grimmforschung“ noch lange nicht zum Abschluss gekommen ist und viele Fragen offen bleiben.338
Werfen wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf die Produkutionskosten. Vieles deutet darauf hin, dass angesichts des Lohnniveaus für Kopisten im 18. Jahrhundert, eine handschriftlich kopierte Correspondance littéraire auch bei geringer Auflagenhöhe durchaus rentabel sein konnte. Eine geheime, von der Zensur nicht beschnittene Information hatte eben ihren Preis und konnte im Allgemeinen zu einem weit höheren Preis als gedruckte Periodika verkauft werden. Francois Moreau, der sich mit der Frage der Rentabilität der Correspondance littéraire auseinandergesetzt hat, kommt jedenfalls zu folgender Schlussfolgerung: „Drucksache und Manuskriptform sind gleichzeitig vorhanden und ergänzen sich manchmal. Es scheint so, als ob das handschriftliche Manuskript Heimlichkeit und Seltenheit miteinander verbindet. Das hat eine stark psychologische Wirkung und sorgt für den wirtschaftlichen Erfolg.“339 Nach dem Siebenjährigen Krieg erlebte die Correspondance littéraire die Zeit ihres größten Erfolges. Fast alle bedeutenden Höfe bezogen Grimms Periodikum, dementsprechend müssen Grimms Einnahmen recht beträchtlich gewesen sein. Er spricht in diesem Zusammenhang 1771 von einer „Angelegenheit von etwa neuntausend Livres pror Jahr“ von denen man aber dreitausend für Kopierarbeiten und Bürokosten abziehen müsse.340
Zu den Beziehern der Correspondance littéraire gehörte zeitweilig auch Friedrich der Große. Von ihm erhielt der enttäuschte Grimm 1766 aber die „Ordre“ ihm keine Ausgabe mehr zuzuschicken. Nun war es aber Grimms Ehrgeiz, von Friedrich dem Großen gelesen zu werden und so bittet er die Herzogin von Gotha um Vermittlung. Luise Dorothee von Sachsen-Gotha kam seinen Bitten nach, aber der „Weihrauch“, den Grimm seinem Brief an die Herzogin beigegeben hatte, war dem König von Preußen etwas lästig: „Das Periodikum, das Sie geruhen mir zu senden, ist gut geschrieben“, schreibt Friedrich am 26. Mai 1763 und er fährt fort: „Ich kenne den Ruf des Autors, er kommt aus Gera und er hat den kleinen Propheten geschrieben. Er ist ein Mann vont Geist, der sich in Paris ausgebildet hat. Wenn er mir seine Blätter zusenden will, verlange ich jedoch, dass er im Stil nicht gar so übertreibt.“ 341 Herzogin Luise Dorothee nimmt ihren Korrespondenten in Schutz und verweist darauf, wie sehr sich Grimm in Paris bemüht habe, sein Ansehen zu festigen und wie sehr ihm daran gelegen sei, von Friedrich II. gelesen zu werden.342
Friedrich aber konnte angeblich an Grimms Wortkaskaden und übertriebenen Schmeicheleien auf Dauer keinen Gefallen finden („flatterie de Grimm trop maladroite“).343 Überdies hatte er schon seinen eigenen Korrespondenten in Paris, der ihm mit der Diplomatenpost auch sog. Kulturnachrichten zukommen ließ. Was Friedrich II. an Grimms Correspondance nicht passte, war aber wohl weniger Grimms Schreibstil, es war Grimms Standhaftigkeit, mit der er die Unabhängigkeit seines Perdiodikums verteidigte.
Grimm wollte sich mit seiner Correspondance littéraire eine unabhängige Stellung bewahren, eine inhaltliche Ausrichtung nach den Wünschen eines Fürsten widersprach seiner Konzeption. Um sich gegen die Einmischungsversuche eines preußischen Königs zu Wehr setzen zu können, appellierte er an die ebenfalls legitimen Interessen anderer Abonnenten. Gegenüber der Herzogin von Sachsen-Gotha drückte er es in einem Brief aus dem Jahre 1765 so aus: „Ich finde, der Held (Friedrich II.) sollte mit dem, was er bekommt, zufrieden sein. Ich kann nicht einfach eine Form ändern, die Ihre Hoheit schon so lange gebilligt haben, die der schwedischen Königin seit fünf Jahren gefällt, und die die Zustimmung der russischen Kaiserin, die mich erst letztes Jahr um Zusendung der Korrespondenz bat, gefunden hat. Wenn ich Form und Ton ändern würde, könnte das dem ganzen Norden missfallen und vielleicht nur bei unserem Helden erfolgreich sein.“344 Mit dem Hinweis auf andere Loyalitätsverpflichtungen konnte Grimm eine gewisse Unabhängigkeit erlangen. Wie erfolgreich Grimm dabei vorging, zeigt sich im Umgang mit dem polnischen König Stanislaw Poniatowski. Stanislaw wollte sich nicht auf die Rolle eines passiven Rezipienten reduzieren lassen; er machte Grimm zahlreiche Verbesserungsvorschläge, die alle darauf hinausliefen, dass Periodikum in einen reinen Debattierklub zu verwandeln. 345 Dieser radikale Änderungsvorschlag hätte die Existenzberchtigung der Correspondance littéraire grundsätzlich in Frage gestellt. Grimm anwortete mit dem Hinweis, dass seine Konzeption der Correspondance die Anerkennung von zahlreichen gekrönten Häuptern Europas genieße: „Ich zähle zu meinen Abonnenten mehr als zwölf gekrönte Häupter oder souveräne Prinzen, die immer nur die Qualität gefordert haben, die allein meine Korrespondenz zu bieten hatte. Mein Herr, ich kann mich einer Liste von illustren Namen rühmen, die von Rang als auch von ihren Verdiensten her, meine Liste schmücken können.“ 346
Grimm achtete sehr auf die Einhaltung der von ihm ausgegebenen Regeln zur Einhaltung der Diskretion. Zu den strikt einzuhaltenden Regeln gehörte das Verbot von Abschriften. Sie hätten einer unkontrollierten Veröffentlichung Tür und Tor geöffnet. Eine Indiskretion Stanislaw Poniatowskis hatte zur Verbreitung der Briefe Abbé Galianis geführt. Nach Grimms Ermahnung war der König von Polen bereit, jegliche Lektüre des Periodikums an seinem Hof zu unterbinden. Das Abonnement der sächsischen Kurfürstin Maria Antonia, deren nachlässige Haltung zur Publikation einiger Texte aus der Correspondance littéraire geführt hatte, wurde gar nach mehreren Protestschreiben Grimms ganz beendet. Grimm hatte die Kurfürstin von Sachsen über den Grafen von Schulenburg an das fürstliche Ehrenwort erinnert, keine Informationen weiterzugegeben. Dabei ließ Grimm sogar den Vorwurf tyrannischer Willkür anklingen: „Die Fürsten sind es gewohnt den Interessen des Einzelnen wenig Beachtung zu schenken und sie denken nicht an die Folgen, die sich aus ihren Fehlern ergeben. Sie, Herr Graf werden ohne Zweifel daran leiden, dass die erhabenen Worte eine großen Fürstin durch mein Voruteil verletzt werden. Die Ehre der verwitweten Kurfüstin ist mir so wichtig wie die der anderen.“347 Grimms Brief an den Grafen deutet auf eine weitere Spielregel beim Vertrieb der Correspondance littéraire hin: an jedem Fürstenhof gab es einen Ansprechpartner, der für sämliche Modalitäten des Abonnements zuständig war. Zu einigen Kontaktpersonen baute Grimm ein enges Vertrauensverhätltnis auf, damit besaß er vor Ort einen treuen Fürsprecher, bei anderen ging das Verhältnis nicht über das Geschäftliche hinaus.
Nur als „Diener mehrerer Herren“, deren Loyalitätsansprüche sich gegenseitig einschränkten, konnte Grimm sein Streben nach Unabhängigkeit verwirklichen – das war mitunter ein heikler Balanceakt. Melchior Grimm hat versucht, mögliche Kritik an seiner Correspondance durch private Post an die Empfänger seiner Periodika abzufangen. Zwar hatte es Grimm durch den Mehradressatenbezug geschafft, seine kritische Berichterstattung jeglicher Einflussnahme von außen zu entziehen, trozdem musste eine Vorkehrung getroffen werden, eventuellen Empfindlichkeiten begegnen zu können. Geschickt setzte Grimm dafür den privaten Briefwechsel mit seinen fürstlichen Abonnenten zur rhetorischen Absicherung der Correspondance littérarie ein. Dazu zählte die oft gebetsmühlenartige Herabsetzung der eigenen Arbeit zum bloßen Geschwätz. Diese bewusste Verharmlosung konnte aber helfen, die scharfen Ecken und Kanten der Correspondance zu glätten und zu entschärfen. Grimm präsentierte sich in den begleitenden Briefen oft als dankbares Mündel, dessen Unternehmen auf Nachsicht und Gnade seiner „augustes pratiques“ angewiesen sei.348 Die Spielarten von Grimms Selbsterniedrigungen reichten vom offiziellen Unterwerfungsgestus gegenüber einer mächtigen Herrscherin bis zur galanten Reverenz an die Adresse einer „souveraine des coeurs“.349 Wenn man Grimm später oft als harmlosen Schwätzer, der sich in Demutsgesten den fürstlichen Adressaten gegenüber erging, darstellte, dann kann sich das nur auf seine private Korrespondenz beziehen, die lange Zeit der Absicherung seines Periodikums diente. Einige Autoren sprechen in diesem Zusammenhang gar von einer „knechtischen Veranlagung“ Grimms oder bezeichnen ihn als „notorischen Opportunisten“.350 Das greift sicherlich zu kurz und wird der komplexen, diskursiven Strategie, deren Grimm sich virtuos zu bedienen wusste, nicht gerecht.
Grimms „Eröffnungsbrief“ an die Herzogin Luise Dorothee von Sachsen-Gotha ist ein Beispiel dafür, wie Grimm sich am Hofe eines Fürsten einzuschmeicheln versuchte. Nachdem Grimm der Herzogin, die ja zu den frühen Abonnenten seiner Correspondance littéraire gehörte, 1762 einen Besuch abgestattet hatte, schrieb er ihr von Frankfurt aus den folgenden Brief:
„Verehrte Dame, das Glück, von Euer allergnädigsten Hoheit empfangen worden zu sein, ist heute für mich ein zauberhafter Traum, dessen Trugbild man vergeblich festzuhalten sucht. Ich erwache, aber ich bin nicht mehr in Gotha, ich liege Ihnen nicht mehr zu Füßen. Verehrte Dame, es bleibt in mir nur das bewegende Schauspiel einer Fürstin, die zu Recht in Europa berühmt ist durch ihren Geist und ihre Fähigkeiten, noch mehr aber durch ihre Tugenden. Sie umgeben sich mit Freundschaft, Vertrauen und Sanftmut, Eigenschaften, die Herrschern so selten nahe kommen können. Sie sind eine glückliche Mutter, eine verehrte Herrscherin, die außerordentliche Güte zu vereinen weiß mit der Würde ihrer Stellung in der Gesellschaft und erhabenen Gefühlen. Wenn mich dieses Schauspiel so tief bewegt hat, so durchdringt mich die Erinnerung an die Güte Eurer Hoheit, und ich kann nicht daran denken, ohne Tränen zu vergießen. Verehrte Dame, ich bin nicht in der Lage, Ihnen meinen Dank auszudrücken. Ihre Gunsterweisungen waren grenzenlos, und ich werde niemals so glücklich sein, in meinem ganzen Leben einen Beweis meiner Verehrung und meiner Verbundenheit zu liefern. Diese Vorstellung ist so voller Bitterkeit, dass ich sie kaum ertrage. Ich werde nach Paris zurückkehren und mich einer Arbeit widmen, deren Wert nur in der Nachsicht Eurer Majestät besteht. Ich muss in dieser Aufgabe all meinen Ehrgeiz zusammennehmen. Erlauben Sie wenigstens, verehrte Dame, dass ich, der ich Euren Hof verlassen musste und fern Eurer Staaten lebe, mich weiterhin zu Euren Untertanen zähle. Wenn ich deren Glück auch nicht wirklich teile, so liegt dieses doch in meiner Empfindung. Auch ich kann so Eure allergnädigste Hoheit lieben und Eure Tugenden tief verehren. Darin findet sich mein Glück und mein Ruhm, und wenn es allzu verwegen erscheint, mich zu dem Kreis so vieler durch Geburt und Verdienste erlauchter Personen zu zählen, die Euren Hof darstellen und sich in Eure Wohltaten teilen, so mögen sie mir diesen meinen Stolz verzeihen angesichts der gütigen Aufnahme, die mir Eure Hoheit hat angedeihen lassen.
In tiefstem Respekt verbleibe ich, verehrte Dame, der allerdemütigste und allergehorsamste Diener Eurer Hoheit, Grimm. Frankfurt, heute am 21. November 1762.“351
Der Brief enthält nichts als anbiedernde Gesten der größten Demut, er ist, sagen wir es offen, ein „Gleitmittel“ für Grimms Art von Beziehungspflege. Letztlich hat er mit diesen Texten aber bei seinen Adressaten auch den erwünschten Erfolg gehabt, selbst wenn schon zu seiner Zeit seine überaus devote Art zu schreiben, belächelt wurde. Grimms Biograph Edmond Scherer findet Grimms Briefe an die Herzogin „par leur misérable courtisanerie“ ein wenig schmierig, aber sind Grimms Schmeicheleien so weit entfernt von Voltaires ebenso übertriebener Höflichkeit? Und vergessen wir nicht: zu Grimms Zeiten maß man verbindlichen Redensarten nur einen formellen Wert bei, im übrigen hatte der Beziehungsarbeiter Grimm alle Ursache, seine Anhänglichkeit an den Gothaer Hof zu zeigen, schließlich waren gute Verbindungen für ihn die Grundlage seiner Existenz. Es ist freilich Scherer zuzustimmen, wenn er folgende Hyperbel nicht eben geschmackvoll findet: „Je ne puis Votre Altesse prendre la plume pour m’écrire sans me sentir le coeur serré; i lest vrai que le moment qui suit cette image est délicieux et fait toujours couleur mes larmes.“352
Redaktionelle Verantwortung für die Correspondance und private Korrenspondenz mit den Empfängern seines Perdiodikums erforderten aber einen enormen Zeit- und Kraftaufwand, das musste über kurz oder lang zu einer chronischen Überbelastung führen. Das für einen allein nicht mehr zu bewältigende Arbeitspensum brachte Grimm schließlich neben vielen anderen Gründen im Jahr 1773 dazu, die Verantwortung für die Correspondance an Jakob Heinrich Meister abzugeben. Hinzu kam, dass sich nach seiner Russlandreise auch eine alternative Beschäftigung angeboten hatte. Sein besonderer Zugang zu Katharina II., der sich durch einen regen Briefwechsel und persönliche Begegnungen herausgebildet hatte, machte eine Fortführung der Correspondance littéraire jedenfalls unmöglich, hinzu kam wohl auch, dass Grimm erkennen musste, das im ausgehenden 18. Jahrhundert die kulturelle Vormachtstellung Frankreichs im Sinken begriffen war und damit auch die Existenzberechtigung von speziellen Kulturnachrichten infrage gestellt werden konnte.
Was im übrigen Friedrich II. angeht, der auf auf den Emfpang der Correspondance littéraire verzichtet hatte, er lernte den zu Anfang unterschätzten Grimm später noch genauer kennen und schätzen und 1769 bekam Melchior Grimm endlich auch die lang ersehnte Audienz beim König von Preußen in Sanssouci. Nach der persönlichen Begegnung mit dem König entspann sich ein längerer Briefwechsel, der sich bis zum Mai 1786, drei Monate vor dem Tod des Königs, erstreckte.
Die Lieferung der Correspondance erfolgte, wie schon angesprochen, vierzehntägig, von 1773 an monatlich. Die Mitteilungsblätter waren von unterschiedlicher Länge. Im Mai 1753 waren es nach Angaben des Historikers Tourneux353, der ab 1877 sechzehn Bände der Correspondance herausgegeben hatte, sechs Seiten, am 15. Juni 1753 kam die Correspondance auf dreizehn Seiten und am 1. Juli auf vier Seiten. Im November 1759 umfassten die Blätter gar nur eine Seite, am 1. Januar 1770 waren es wieder 31 Seiten.