Читать книгу Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg - Winfried Wolf - Страница 17
Das Spiel mit Masken und Verkleidungen
ОглавлениеIm 18. Jahrhundert erschienen häufig Werke nicht mit dem Namen des Autors. Voltaire, Diderot, Helvétius und Holbach hatten mitunter gute Gründe, ihr brisantes Material anonym erscheinen zu lassen. Nun darf man allerdings nicht vergessen, dass im 18. Jahrhundert die Anonymität des Autors auch ein Gesellschaftsspiel war. Man braucht nur einmal die Briefbände der Zeit durchzublättern, um die Bedeutung des Ratespiels zu ermessen, wer hinter welcher Äußerung steht. Die literarische Maskerade schützte nicht nur vor Zensur und Verfolgung, sie war auch Teil eines Spiels der besseren Gesellschaft.
Das Verbergen der eigenen Identität hinter einer Maske hatte sich als Spiel an den Höfen kultiviert. Man litt und stöhnte unter den Zwängen der zeremoniellen Repräsentation, zur Entlastung hatten sich seit dem 17. Jahrhundert Maskeraden entwickelt. Über Nacht verwandelten sich ganze Hofgesellschaften in Chinesen oder Tahitianer. Von der höfisch-zeremoniellen Maskerade ist es nur ein Sprung zur literarischen Maskerade.
In diesem Zusammenhang ist ein Vergleich der Correspondance littéraire mit dem Tiefurter Journal371 interessant. Die Correspondance war dem Weimarer Kreis um Anna Amalia durch den großzügigen Vermittler deutsch-französischer Literatur Prinz August von Gotha bekannt. Wie die Correspondance littéraire war das Tiefurter Journal auf Exklusivität bedacht; die Absicht beider Medien war es, eine kleine, künstlerisch und schriftstellerisch interessierte Gruppe von Adeligen und Bürgern gegen die langweilige Hofgesellschaft abzugrenzen. Zugleich sollte innerhalb dieses Kreises eine möglichst hohe städtische Kultur und Liberalität zugelassen werden. Abdichtung nach Außen bei größtmöglicher Liberalität nach Innen – dieser Doppelstrategie fühlten sich beide Journale verpflichtet. Dieser Freiraum nach Innen und Außen konnte jedoch nur genutzt werden, wenn alle Möglichkeiten der Maskerade ausgeschöpft wurden. Das Rätsel und die Charade ist im Tiefurter Journal eine oft gebrauchte Gattung; in der Grimmschen Correspondance sind Geheimnis und Geheimhaltung (auch vor der Zensur) von Anfang an eingeschriebene Gesetze.
Für Maskeraden und getarnte Aktionen finden sich im Tiefurter Journal einige Beispiele: So beginnt die zweiunddreißigste Nummer des Journals mit einer Doppelcharade, einem Doppelrätsel unter dem Titel: „Aus dem Anakreon“. Recherchen haben ergeben, dass Prinz August von Gotha diese beiden Rätsel ins Journal lanciert haben muss.372 Sein Bruder und er waren Bezieher der Correspondance littéraire. Der Prinz nutzte seinen Kenntnisvorsprung, indem er aus diesem Zentralorgan der französisch-philosophischen und literarischen Avantgarde ein Rätsel von Rousseau entnahm, übersetzte, mit einem anakreontischen Maskentitel versah und zum Zwecke weiterer Mystifikation dazu noch ein passendes Pendant aus eigener Produktion hinzufügte. Die beiden Rätsel unterschiedlicher Herkunft übergab er unter dem Titel „Anakreon“ der Redaktion des Tiefurter Journals. Sie lauten:
„Ich bin ein Kind der Kunst, und Kind auch der Natur;
Verlängr’ ich Tage nicht, so hindr’ ich doch zu sterben.
Je mehr ich wahrhaft bin, je größer wird mein Trug;
und dann werd’ ich zu jung, wann mich das Alter drücket.“373
In der Correspondance littéraire gab Meister, der Grimms Nachfolger als Herausgeber für die Auflösung des Rätsels das notwendige Stichwort: „Le mot de cette énigme est „portrait“. Das Portrait wiederum ist die Leitidee für das vom Prinzen selbst verfasste Rätsel, die Hommage an eine Schöne:
„Entfernt von der Schönheit, die ich liebe,
kann es allein mir bittre Qualen lindern;
zwar ist es schöner, als der Gott in Amathunt,
doch minder schön, als Sie.“
Ein weiteres Beispiel für Tarnung und Verschleierung im Tiefurter Journal ist die Parallelbetrachtung von Rousseau und dem aus Weimar ausgestoßenen Lenz. Das Beispiel wirft ein neues, unvermutetes Licht auf Goethe. Goethe und Prinz August kommentierten die 1782 in Genf erschienen Rechtfertigungsbriefe Rousseaus an Diderot. In diesen Briefen, die im Tiefurter Journal abgedruckt wurden, verteidigte sich Rousseau auf das Heftigste gegen die Zumutungen sogenannter falscher Freunde. Man hatte Rousseaus Briefe dem Themenkomplex „Tyrannei der Intimität“ zugeordnet. Leitmotivisch tauchen hier zu bestimmten Briefstellen Rousseaus Kommentare mit folgenden Tenor auf: „Es kann wohl sein, dass das vermeinte Wohlwollen vermeinter Freunde ... ihn seiner Freiheit beraubten, die in ihm heftige Zweifel gegen die Uneigennützigkeit jenes Wohlwollens erregten.“374
Nun werden genau zwischen diese Enthüllungen Rousseaus im Tiefurter Journal zwei thematisch signifikante Gedichte des heimatlosen Dichters Johann Reinhold Lenz platziert. Ein Gedicht lautet:
„Der Wasserzoll 375
Ihr stummen Bäume, meine Zeugen
Ach käm’ er ungefähr
Hier wo wir saßen wieder her:
Könnt’ ihr von meinen Tränen schweigen.
L. an G.“
Die Gedichte von Lenz stammen nachweislich aus dem Besitz Goethes. Soll man hier an Zufall glauben? Liegt es nicht eher nahe, dass die Beschäftigung Goethes und des Prinzen von Gotha mit dem irritierenden Phänomen des Freundschaftsbruches zwischen Rousseau und Diderot, Goethe an einen vergleichbaren Fall in Weimar erinnert? Wird nicht mit der Aufnahme der Lenzgedichte „An die Sonne“ und „Trost“ inmitten der Rousseau’schen Rechtfertigungen das schwierige Verhältnis zwischen Lenz und Goethe mitdiskutiert. Hätte das nicht Anlass für eine Aufklärung/Dokumentation ihrer Entzweiung bieten können?
Es scheint zwar eine Parallele zwischen dem kranken Lenz und Rousseaus trauriger Gemütlslage auf, aber die damit verbundene Intention ist eine andere: man nimmt Rousseaus Rechtfertigungen gegen die anmaßenden Übergriffe der mutmaßlichen Freunde als Handhabe, um den Ausschluss des zu Übergriffen neigenden Lenz aus der Weimarer „besseren„ Gesellschaft zu rechtfertigen. Goethe wandelt das Gedicht von Lenz kurzerhand in ein zeitloses Denkmal um, indem er die Unterschrift unter diesem Vierzeiler „L. an G.“, also Lenz an Goethe, sowie den Titel „Wasserzoll“ einfach eliminiert und dafür „Denkmal der Freundschaft“ setzt. Damit ist eine Grenze überschritten worden, die heitere, noch vom Rokoko inspirierte Maskerade ist an ihr Ende gekommen.