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Zurück in Regensburg – Hofmeister im Haus des kursächsischen Gesandten – Kaiserwahl in Frankfurt – wertvolle Kontakte in der Stadt des Immerwährenden Reichstages - Theaterleben
ОглавлениеSchon ein Jahr vor seinem Abschied aus Leipzig hatte Grimm begonnen an seiner Dissertation zu arbeiten. Sie sollte erst 1747, also drei Jahre später, erscheinen. „De historia Imperatoris Maximiliani I. amplissimo juris Germanorum publici fonte disputatuncula ad ill. Comitem Gottlob Ludwig v. Schönberg quum summa cum laude ingentique omnium bonorum cum gratulatione ex academia Liiensi decederet“ prangt auf dem Titelblatt.
Im Brief an Gottsched vom 1. Juli 1745 berichtet Grimm, dass er im Hause des kursächsischen Gesandten von Schönberg in Regensburg „gnädig und leutseelig aufgenommen“ worden war.107 Grimm hatte nicht versäumt die Beziehungen zur Familie von Schönberg weiter zu pflegen. Für den unbemittelten Pastorensohn bot sich nichts Besseres als eine Hofmeisterstelle an, in der er sich vervollkommnen und auch nützliche Bekanntschaften machen konnte. Er übernahm im Hause Schönberg eine Erzieherstelle für den jüngeren Sohn Adolf Heinrich von Schönberg, den Bruder seines Freundes Gottlieb Ludwig von Schönberg, kümmern.
Nach dem Studium zunächst eine Stelle als Hauslehrer oder Hofmeister anzunehmen, war im 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich und galt vielfach als Übergangslösung, bis etwas Besseres zu finden war. Ja, man muss geradezu davon ausgehen, dass der Stellenmarkt für die Absolventen der Hochschulen im 18. Jahrhundert schwierig war und nach Zwischenlösungen verlangte. Aber warum hatte Grimm sein Studium schon beendet, hätte er nicht in Leipzig, im Kreise der Gelehrten, an seiner Doktorarbeit feilen und seinem Meister Gottsched im Streit um die richtige Poetiktheorie beistehen können? Leipzig war nicht gerade dafür bekannt ein Curriculum anzubieten, das innerhalb von drei Jahren die wichtigsten, für einen Abschluss relevanten, Collegia anbot, die Vorlesungen konnten sich unkoordiniert oft über mehrere Jahre hinziehen. Von Melchiors Bruder Ulrich, der wenige Jahre vor Melchior in Leipzig Theologie studierte und vier akademische Jahre in der Messestadt zubrachte (1735-1739), wissen wir, dass der gerne verlängert hätte. Allein die „eingeschränkten Umstände Seiner theuersten Aeltern“ aber machten einen längeren Aufenthalt „in dem kostbaren Leipzig ziemlich beschwerlich“.108 Er kehrte auf Verlangen seiner Eltern trotz verlockender Angebote aus dem Umfeld seiner Lehrer in Leipzig nach Regensburg zurück. Auch schon Ulrichs älterer Bruder Johann Ludwig, der später in Regensburg zum „Hansgrafen“ gewählt wurde, wäre an einer akademischen Laufbahn in Leipzig interessiert gewesen. Aus der Trauerrede Schäffers vom 8. September 1777 wissen wir, dass Melchiors Bruder Johann Ludwig auch gern eine Professorenstelle an der Universität eingenommen hätte „aber die Pflicht der Dankbarkeit sowol gegen ein durch ein erhöhtes Stipendium und andere Wohlthaten um Ihn hochverdientes Vaterland, als der Trieb, zärtlichen Aeltern, die Ihn in der Nähe bey sich zu haben wünschten, sich gefällig zu erweisen, bewog ihn zu dem in seinen Folgen gesegneten Vorsatz, Einem Hochedlen Magistrat hiesiger Stadt seine gehorsamsten Dienste anzutragen.“109
Melchior Grimm hatte nur drei akademische Jahre in Leipzig zugebracht, zwangen auch ihn die eingeschränkten Möglichkeiten des Elternhauses zu einem vorzeitigen Abbruch seiner akademischen Laufbahn? Bruder Ulrich konnte sein Theologiestudium sofort nach Ankunft in Regensburg beruflich nutzen, er hielt schon am 7. Sonntag nach Tinitatis zu St. Oswald seine erste Predigt. Was aber sollte Melchior mit seinem Studium anfangen, welche Möglichkeiten standen ihm, dem Studenten der Rechtswissenschaft, offen? Die schnelle Annahme einer Hofmeisterstelle im Hause Schönberg lässt vermuten, dass Vorgespräche stattgefunden hatten und nach Melchiors Vorstellung wird es so gewesen sein, dass er diese Anstellung als Sprungbrett für eine Laufbahn im diplomatischen Dienst sah. Als Freund von Gottlieb Ludwig von Schönberg konnte er sich dazu auch berechtigte Hoffnungen machen. Hofmeister beim Grafen Schönberg, das hatte für die Grimms nun schon Tradition, denn Melchior Grimm trat im Hause Schönberg in die Fußstapfen seines Bruders Johann Ludwig, der von 1740 bis 1745 hier als Hofmeister angestellt war und sich um Melchiors Freund Gottlieb Ludwig von Schönberg zu kümmern hatte.110
Zur Kaiserwahl nach Frankfurt
Bevor sich Grimm aber der Erziehung des jungen Grafen widmen konnte, begleitete er die Familie des Grafen Schönberg, dem Vertreter und Gesandter des polnischen Königs und sächsischen Kurfürsten, zur Wahl des Kaisers Franz I. nach Frankfurt am Main.111 Grimm blieb im Gefolge der Schönbergs mehrere Wochen in Frankfurt112 und es war keine fünf Jahre her, dass sein Bruder Johann Ludwig, damals ebenfalls als Hofmeister bei den Schönbergs, mit dem Gefolge des Grafen zur Kaiserwahl von Karl VII. in Frankfurt war. Aus den Erzählungen des Bruders wird Melchior sich eine gute Vorstellung von der Veranstaltung gemacht haben können. Am 13. September fand die Wahl statt, am 4. Oktober wurde Franz Stephan zum Kaiser Franz I. gekrönt.
Wie aus den Briefen an Gottsched zu ersehen ist, befand sich Grimm schon Ende Juni in Frankfurt. Über seinen Arbeitgeber Johann Friedrich von Schönberg hat er erfahren, dass die Theatergruppen der Neuberin und des Schönemann113 nach Frankfurt kommen sollen. Auch sollte eine italienische Oper zur Aufführung kommen. Das sind Nachrichten, die es wert sind an Gottsched geschickt zu werden. Er vergisst auch nicht zu erwähnen, dass die Comödien der Gottschedin von der Gräfin von Schönberg mit großem Vergnügen gelesen werden, besonders habe ihr das Lustspiel „Die Hausfranzösin oder die Mammsell“ gefallen. Grimm kann das Stück im 5. Teil der Deutschen Schaubühne selbst nachlesen, die Schaubühne leiht er sich bei Alexander Ferdinand, Reichsfürst von Thurn und Taxis aus. Wir wissen nicht genau, was Grimm im Gefolge der Schönbergs in Frankfurt zu tun hatte, gewiss aber ist, dass er viel Zeit damit verbrachte, sich mit kritischen Anmerkungen zur zeitgenössischen Dichtkunst zu beschäftigen. Er liest die Vorrede zu Königs Gedichten114 und ist darüber entsetzt, was er dort über Gottscheds Frau lesen muss. Dem Verfasser der Vorrede missfallen die Satiren des Critischen Almanachs, sie seien eines sittsamen Frauenzimmers nicht würdig, ein bösartiger Angriff auf die Gottschedin, die ja hinter dem Almanach steht. Grimm muss reagieren. Er schreibt eine kritische Rezension des Buches für die Regensburger wöchentlichen Nachrichten von gelehrten Sachen und überlegt, wie man über andere gelehrte Zeitschriften Einfluss nehmen könnte. Auch bringt er sich als Herr Blauröckel wieder ins Spiel, unter diesem Pseudonym hatte er ja schon einmal in den Poetenstreit eingegriffen.
Allzu viel Zeit aber kann Grimm darauf jetzt nicht verwenden. „Zerstreute Lebensart“ hindert ihn ein wenig daran, seinen „Pflichten“ gegenüber seinem Gönner und Freund Gottsched nachzukommen.115 Die Kaiserwahl und die damit verbundenen gesellschaftlichen Aufgaben lassen jetzt Grimms Aufmerksamkeit für die Dichtkunst in den Hintergrund treten. Grimm steht mit den adeligen Herrschaften ganz vorn und folgt mit Interesse den feierlichen Handlungen um die Kaiserwahl. Eine gute Gelegenheit dabei auch Menschen zu beobachten und, wenn er, wie er schreibt, das Talent der Gottschedin hätte, so könnte er wohl nach den vorgeführten Beispielen „recht gute Lustspiele im Original... liefern“.116 Auch auf den Bühnen der Stadt ist jetzt einiges zu sehen. Die Neuberin eröffnet ihre Bühne mit dem Brittanicus117, größere Erfolge jedoch feiert die Theatergruppe von Johann Ferdinand Müller, die Vornehmen gehen in die Pantomime oder in die Oper.
Anfang Dezember 1745 kommt Grimm im Gefolge des Grafen von Schönberg wieder nach Regensburg zurück. Hier holt ihn alsbald der graue Alltag wieder ein, ihm fehlt in Regensburg der höfische Glanz und noch mehr die gelehrte Welt. In seine neue Stellung als Hofmeister kann sich Grimm nicht recht einleben. Grimm arbeitet, wie er an Gottsched schreibt, „Tag und Nacht, bald wieder von hier wegzukommen“.118 Ärgerlich ist auch, dass seine eingeschickte Rezension von Königs Gedichten nicht veröffentlicht wurde. Überhaupt zeigt er sich unzufrieden mit dem Zustand einiger gelehrter Zeitschriften, die gute satirische Artikel ablehnen und deren Schreiber sich nun alle am „Hamburger Correspondenten“ ausrichteten.119 In seiner kritischen Stellungnahme zeigt sich Grimm noch ganz auf der Seite der kirchlichen Orthodoxie, der ein Unternehmen wie der „Hamburger Correspondent“ suspekt war. Nach Meinung des Pfarrers Johann Melchior Goezes120 zeigten die gelehrten Artikel im Correspondenten „wie weit hier die Freigeisterei, Skrupellosigkeit und schnöde Verachtung unserer Lehrer und Kirchenverfassung“ gingen.
Diderot, der spätere Freund Melchior Grimms, hätte an diesen Artikeln sicherlich seine wahre Freude gehabt, Grimm hatte seinen Standpunkt als Aufklärer im Jahr 1746 noch nicht gefunden. Grimm fühlt sich in Regensburg seiner „gelehrten Neuigkeiten“ beraubt und trachtet ein ums andere Mal fortzukommen.121 Er hat nun das neue Schönberg’sche Quartier am Neupfarrplatz bezogen und widmet sich der Erziehung des jungen Grafen Adolf Heinrich von Schönberg. In Regensburg tritt 1745 Joseph Wilhelm Ernst, Graf von Fürstenberg als Kaiserlicher Principalkommissar sein Amt an. Dessen Sohn, Karl Egon, Graf von Fürstenberg hatte Melchior Grimm während seiner Studienzeit in Leipzig kennengelernt. Er ist 1747 Geheimsekretär seines Vaters in Regensburg geworden. Grimm scheint mit ihm auf vertrautem Fuße gestanden zu haben, denn er bietet in einem Brief an Gottsched an, etwaige Bestellungen an den Prinzen über seine Adresse laufen zu lassen. Für die bevorstehende Vermählung des Prinzen Fürstenberg hat Grimm eine Serenade auf die Dauphine geschrieben.
Ein wenig Abwechslung bieten im ansonsten „langweiligen“ Regensburg die Aufführungen einiger Theatergruppen. Grimm hat in seinen Briefen an Gottsched verschiedentlich darüber geklagt in Regensburg zu wenig geistige Anregung gefunden zu haben, auch scheint ihn die Theaterszene wenig zufriedengestellt zu haben. In dieser Hinsicht war Regensburg sicherlich nicht mit Leipzig oder Wien zu vergleichen aber so übel stand es mit dem Theater in der Freien Reichsstadt nicht. Melchior Grimm konnte vom Gebotenen durchaus Anregung und Stimulierung der Affekte empfangen. Aus dem Briefwechsel Grimms mit Gottsched sind für die Jahre 1741 bis 1748 einige Theatergruppen überliefert. Ein Förderer des Theaters war Joseph Wilhelm von Fürstenberg-Stühlingen, der Vertreter des habsburgischen Kaisertums in Regensburg. Ihm war es wohl zu verdanken, dass Antonio Denzi mit seiner Operntruppe 1747 in Regensburg mit dem Lucio vero auftreten konnte. Grimm berichtet in einem Brief an Gottsched nach Leipzig: „Wir haben italienische Oper hier, worunter hübsche Stimmen sind.“122 Im Mai 1746 spielten die Churbayerischen Hofcomödianten123; wenig später erlebte Regensburg mit dem Aufenthalt der berühmten Kindertruppe des Philipp Niccolini eine besonderes Gastspiel, auf das auch Grimm zu sprechen kommt: „Wir haben diesen Sommer eine überaus prächtige und artige Opera Pantomime hier gehabt, worin lauter Kinder von 4-12 Jahren agieren. Es ist dieses die nämliche, welche vor einem Jahr bey dem Wahltage in Frankfurt alle übrigen Comödianten ruinirt hat und nach Abzug alles Aufwandes einen Profit von 20.000 Rthlr. gemacht hat. Es sind aber auch durchgehends allerliebste Kinder, und der Directeur Namens Nicolini ist ein geschickter Mann für die Bühne, der große Capitalien in Holland hat, daher die Verzierungen des Theaters sehr prächtig und von einem guten Geschmack sind. Sie sind nunmehr nach Wien gegangen und ich zweifle nicht, daß sie nicht künftiges Frühjahrs nach Sachsen kommen sollten.“124 Christoph Meixner125 verweist uns hier auf eine berühmte Theaterprinzipalin der damaligen Zeit: „Die Nennung einer „Principalin“ der „von verschiedenen Königlich- und Fürstlichen Höfen privilegierten Gesellschaft Deutscher Schauspieler“ auf einem undatierten Theaterzettel lässt die Vermutung zu, dass in diesen Jahren auch die wohl berühmteste und für die Theatergeschichte überaus wichtige Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuber („die Neuberin“) in Regensburg gastierte und mit ihrer Schauspieltruppe auch Grimms Trauerspiel Banise aufführte. Da auf dem Theaterzettel Grimm als „Hofmeister in einem hohen Gesandtschaffts-Hause allhier“ bezeichnet wird, lässt sich die Aufführung zumindest auf den Zeitraum zwischen 1745 und 1748 datieren.“126
Wenig zufrieden zeigt sich Grimm mit den Leistungen einer Theatergruppe, die im Spätsommer 1747 in die Stadt kommt: „Uebrigens unterfange ich mich Eurer Magnificenz mit mancherley andern schönen Neuigkeiten aufzuwarten. 1) Eine Sammlung von Zetteln einer Comödie, die wir vor einigen Monaten hier gehabt haben. Diese Zettel haben uns vielmehr belustiget als die Vorstellungen selbst, über deren Elend man hätte Thränen vergießen mögen. Dem ungeachtet finden diese Leute hier Beyfall und Unterhalt. Ew Magnificenz werden den Zettel vom sterbenden Cato darunter finden. 2) Die Nachricht von der letzten Jesuiten-Comödie nebst der lateinischen und deutschen Poesie davon. 3)“127 Über eine Veröffentlichung Gottscheds wissen wir, auf welche Theaterstücke sich Grimms Zettel bezogen. Neben der angesprochenen Jesuitenkomödie handelte es sich um die Kur-Bayerischen Komödianten unter der Leitung von Johann Schulz. Überliefert sind Aufführungen eines Dollinger-Spiels sowie der Haupt- und Staatsaktionen Artaxerxes, Catone in Utica, Merope und Anselmo.128 Folgt man Grimms Briefwechsel weiter, so gastierte um 1747/48 in Regensburg vielleicht sogar der berühmte Harlekin Franz Schuch. Exakt lässt sich das heute nicht mehr ermitteln, Grimms Namensnennung eines gewissen „Tschug“129 deutet zwar auf Schuch hin, aber dieser eröffnete zur angegebenen Zeit in Frankfurt eine Bühne und kann daher schwerlich in Regensburg ein Gastspiel gegeben haben. Neben den Wandertruppen gaben selbstverständlich in Regensburg auch die Lateinschüler der Jesuiten, des Reichsstiftes St. Emmeram und des reichsstädtischen Gymnasium poeticum ihre Theatervorstellungen; von Grimm erfahren wir darüber aber weiter nichts.
Melchior Grimm war ab Mitte der 1740er Jahre Hauslehrer beim Grafen von Schönberg und anderen Regensburger Adelsfamilien. Was waren da genau seine Aufgaben? 1746 hatte Grimm, wie er an Gottsched schreibt das „neue Hochgräfl. Schönbergische Quartier allhier mit bezogen“.130 Das neue Quartier der kursächsischen Gesandtschaft in Regensburg war das Löschenkohlpalais am Neupfarrplatz, es war das wohl bedeutendste und repräsentativste barocke Stadtpalais des 18. Jahrhunderts. Bauherr des vom Linzer Stadtbaumeister Johann Michael Prunner errrichteten Gebäudes war der wohlhabende Regensburger Großhändler Hieronymus Löschenkohl gewesen. Der war 1743 zahlungsunfähig geworden und nach Österreich geflüchtet. Prunner hatte für Löschenkohl eine vierflügelige Palastanlage geschaffen, die sich mit einer eigenwillig vorschwingenden Fassade in die Straßenfront zum Neupfarrplatz hin einpasste. „Alle repräsentativen Räumlichkeiten des vierstöckigen Gebäudes, das schon durch seine Höhe zum größten Bau am Neupfarrplatz wurde, befanden sich im Haupttrakt, der auf den Platz wies, und den direkt anschließenden Flügel. Der Empfangsbereich im Erdgeschoss ermöglichte ein Einfahren mit der Kutsche in die Vorhalle und ein Aussteigen der Gäste im Trockenen. Die ersten beiden Obergeschosse dienten als Wohn- und Audienzräume mit je einem Hauptsaal, zwei Seiten- und zwei weiteren Nebenzimmern. Im dritten Obergeschoss befand sich ein den gesamten Haupttrakt ausfüllender Ballsaal, der jedoch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zugunsten einer kleinteiligeren Raumstruktur analog der darunterliegenden Etagen aufgegeben wurde... In den Gebäudeflügeln folgten Zimmerfluchten aus bis zu vier weiteren Räumen. Prächtige Treppenhäuser und Vestibüle verbanden die Etagen miteinander.“131 Hier also ging Melchior Grimm, der Hofmeister, ein und aus, hier versuchte er seinem Zögling nützliche Lektionen zu geben, hier nahm er Anteil am Treiben in einem Gesandtenhaus, hier konnte er lernen, wie man in diplomatischen Kreisen miteinander umging.
König Friedrich II. hatte in seinem politischen Testament 1752 seine Vorstellungen eines perfekten Gesandten so formuliert: „Sie müssen Menschenkenntnis erworben haben; sie müssen aus Gesten und dem, was es an Mienenspiel bei den verschiedenen Leidenschaften gibt, die verborgenen Gedanken der Personen, mit denen sie zu tun haben, herauslesen können und durch diese über lange Zeit hinwegreichende Übung die Kunst erwerben, die vor ihnen aufs sorgfältigste versteckt gehaltenen Geheimnisse zu erraten.“132 Grimm wäre sicherlich nach diesen Maßstäben ein guter Diplomat geworden und er war es ja auch in gewisser Weise als er in späteren Jahren eine umfangreiche Korrespondenz führte, in den ersten Häusern des Adels verkehrte und zwischen den Fürstenhäusern ganz Europas hin- und herreiste. Sein elegantes Auftreten, seine eloquente Rede, seine Selbstinszenierung, sein Geschick als Vermittler, das alles wird im Hause des sächsischen Gesandten in Regensburg grundgelegt worden sein.
Die Tätigkeit als Erzieher wird dem jungen Melchior Grimm nicht sonderlich zugesagt haben. Schließlich hatte er nicht studiert, um kostbare Lebenszeit mit vielleicht unbegabten oder lernunwilligen Kindern zu verbringen. Seine Interessen lagen auf dem Gebiet der Poetik, des Theaters, der Literaturkritik und der philosophischen Strömungen der Zeit. Grimm scheint aber seine erzieherischen Aufgaben durchaus ernst genommen zu haben, denn in einem Brief an Gottsched klagt er darüber, dass eine schwere Krankheit ihn daran gehindert habe sich um den jungen Grafen von Schönberg zu kümmern.133 Wie er in seinem Erziehungsprogramm vorgegangen ist, ob es Vereinbarungen über Inhalt und Umfang der Lehrtätigkeit gab, wissen wir nicht. Beispielhaft für die Erfahrungen vieler junger Männer, die damals zwischen dem Abschluss des Studium und dem Eintritt in ein Amt als Hofmeister tätig waren, ist Johann Christian Müllers Bericht über seine „Lebensumstände“. Er war von 1746 bis 1755 als Hofmeister in vorpommerschen Adelsfamilien tätig134 und schildert uns anschaulich sein Tagwerk. Mit der Familie seiner ersten Stelle als Hofmeister waren vier Unterrichtsstunden täglich vereinbart worden. Müller nahm mit seinem Zögling vor allem Latein, Religion, Geschichte, Geographie und Heraldik durch. Darüber hinaus übte er mit ihm das Briefeschreiben, ermunterte ihn zum Verfassen von Versen und unterstützte ihn beim Anlegen einer Insektensammlung. Hofmeister begleiteten junge Adelige mitunter bis auf die Universität und nicht selten gingen sie anschließend mit ihren „Zöglingen“ auf eine Bildungsreise. Ein Beispiel für diese spezielle Variante der Hofmeistertätigkeit lieferte Melchiors Bruder Johann Ludwig Grimm, der 1736 noch als Student in Leipzig vom dortigen Bürgermeister Steger zum Hofmeister seines jüngsten Sohnes Adrian Deodat gemacht wurde. Er verbrachte mit seinem Zögling noch zwei Jahre auf der Universität Leipzig und unternahm dann mit ihm über seine Vaterstadt Regensburg von 1738 bis 1740 eine Reise nach Tirol, Italien, Frankreich, die Niederlande und Niedersachsen. Im Anschluss daran trug ihm der kursächsische Gesandte Graf von Schönberg die Stelle eines Hofmeisters für seinen Sohn Gottlieb Ludwig von Schönberg an, die Melchiors Bruder bis 1745 innehatte. Johann Ludwig begleitete 1740 den jungen Herrn Grafen zum Wahltag Kaiser Karls des VII. nach Frankfurt anschließend auf eine Reise in die Schweiz und nach Italien und schließlich nach Leipzig. Hier traf dann der junge Graf von Schönberg wieder auf seinen Schulfreund Melchior Grimm.
Es lohnt sich in diesem Zusammenhang einen Blick auf das „süße“ Leben der Gesandten des Immerwährenden Reichstages in Regensburg zu werfen, denn Milieu und Umfeld prägen bekanntlich den Menschen und helfen zu erklären, warum Menschen zu dem werden, was sie sind. Man hat verschiedentlich135 die Arbeit der Gesandten des Reichstages etwas karikiert dargestellt und lange Zeit gering geachtet. Das mag für einige Perioden seiner 140jährigen Geschichte seine Berechtigung gehabt haben, nicht aber für das 18. Jahrhundert. Die täglichen, durchaus komplexen Arbeitsabläufe waren für die Zeit gesehen gut organisiert. Die Hauptarbeitszeit der Gesandten konzentrierte sich auf das Winterhalbjahr und auf die Präsenz des Prinzipalkommissars von Anfang November bis zum ersten Mai. Und auch wenn es viele Ferien136 gab, von Müßiggang kann keine Rede sein. „Um 8 Uhr morgens wurden meistens die sogenannten „Ratszettel“ verteilt und gegen halb neun Uhr begannen die Sitzungen, die in der Regel bis 12 Uhr, bei Beratungen in den Kollegien auch bis 15 Uhr gingen. Mitunter blieben die Gesandten danach noch da, um Absprachen zu treffen.“137 Daneben traf man sich auch ständig in den Gesandtschaftsquartieren oder war sonst in Gesellschaft, tauschte Informationen, Gerüchte, Geheimnisse, Erkenntnisse usw. aus. Man versuchte Ziele und Haltung möglicher Bündnispartner oder des politischen Gegners herauszufinden, diesen zu überzeugen oder zu bestechen, kritisierte und bewertete eventuell vorliegende Beschwerden, Weisungen, Voten und Gutachten oder versuchte, mögliche Strategien bei anstehenden Abstimmungen zu vereinbaren. Besonders den informellen Treffen, darin hat sich bis heute nichts geändert, wird eine besondere Bedeutung zugekommen sein. Beim Prinzipalkommissar gab es täglich Diner zu dem man hinzugezogen werden konnte, hinzu kamen Einladungen zu Assemblées oder zum Concert. Der „kleine“ Hofmeister Grimm hatte zu diesen Veranstaltungen keine Gelegenheit und keinen Zutritt, zu den offiziellen Empfängen waren oft nur Adelige zugelassen. Bürgerliche dürfen aber mit am Tisch sitzen, wenn es „en famille“ ist und wir können annehmen, dass Grimm im Stadtpalais des Grafen Schönberg des Öfteren mit an der gräflichen Tafel saß, zumal er auch der Bruder des Hausherrn war.138 Als in den 1730er Jahren auch in Regensburg die Kaffeehauskultur aufblühte und die Cafés „Blauer Engel“, „Goldener Stern“, Goldenes Fass“, Goldener Falke, Goldene Glocke und „Weiße Rose“ zu wichtigen Kommunikationsorten wurden, konnten sich dort auch adelige Gesandte und Bürgerliche zum Gedankenaustausch treffen. Friedrich Nicolai, der in den 1780er Jahren nach Regensburg kam wusste zu berichten: „Die Gesandten und Leute vom Stande aber leben, so viel die Politik erlaubet, sehr ungezwungen und gesellschaftlich auf Wienerischem und Münchnerischem Fuß... Man thut wirklich sehr Unrecht zu glauben, daß der Umgang unter den Leuten von der großen Welt in Regensburg so steif und angemessen ist, wie die Etikette des Reichstags.“139 Neben der Arbeit darf auch das Vergnügen nicht zu kurz kommen, wobei allerdings zu bemerken ist, dass Vergnügungen bei Diplomaten häufig auch mit Kontakt- und Beziehungsarbeit verbunden sind. Die Gesandtschaften sahen sich häufig veranlasst Feste und Feierlichkeiten abzuhalten. Der schon zitierte Moser weiß für das Jahr 1747 zu berichten: „Inmittelst haben die sämtliche hohe Gesandtschafften sowohl die vorige als jetzige Woche mit Assemblées140 und Bällen, ausser Frytag und Sonnabend, täglich zugebracht; sonderlich aber waren solche Bälle und grosse Tractamenten beständig bey Hof, doch jederzeit ohne Masque, da hingegen die Gesandtschaftliche so genannte Haus=Officiers und Subalternen dergleichen Masqueraden seit 14. Tägen an verschiedenen Orten beständig gehalten haben.“141 Das Ausrichten von Festen gehörte gleichsam zu den Pflichten der diplomatischen Vertreter. Der sächsische Kameralist Julius Bernhard von Rohr vertrat in seiner „Einleitung zur „Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren“ die Überzeugung, dass es geradezu für (Ab)Gesandte verpflichtend sei Feste zu veranstalten. Es erging sogar Order besondere Illuminationen anzurichten und Feuerwerke anzuzünden.142
Wenn auch unser Melchior Grimm nur am Rande am „süßen“ Leben der Gesandten teilnehmen konnte, so stand er doch bisweilen ganz vorn und hatte über seine Freundschaft zu Gottlieb Ludwig von Schönberg und seine Hofmeisterstelle im „Löschenkohlpalais“ schon einen halben Fuß in der großen Gesellschaft. Es gelang ihm wichtige Kontakte zu knüpfen, die ihm später zugute kommen sollten. Grimm sammelte die Adressen vor allem der adligen Titel- und Würdenträger noch ohne recht zu ahnen, wozu ihm diese zukünftig noch dienen könnten.
Melchior lernt Hanß Adam von Studnitz143 kennen, der später als Hofmarschall in Gotha wirkte; eine folgenschwere Bekanntschaft wie sich bald herausstellen wird. Baron Studnitz ist als geheimer Legationsrat in gothaischen Diensten am Reichstag in Regensburg. Er gewährt Melchior Einblick in den literarischen Informationsdienst, den Baron von Thun, der Hofmeister des jungen Erbprinzen Friedrich von Sachsen-Gotha in Paris, ins Leben gerufen hatte. Studnitz ist es zu verdanken, dass Grimm 1748 etwas in Händen halten kann, das einmal zu seinem Lebenswerk werden sollte. Der Legationsrat aus Gotha gibt ihm die „Nouvelles littéraires“ des Abbé Raynal zu lesen, aus ihr sollte Grimm einige Jahre später seine berühmte „Correspondance littéraire“ machen. Den Erstkontakt mit Raynals Blättern gibt Grimm in einem Brief an Studnitz vom 19. Mai 1748 wieder: „Verehrter Herr, unser Gespräch vom Freitag hat mich tief beeindruckt, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich ihnen nahebringen könnte, wieviel an Hochachtung, an Verehrung für Ihre Person sie mir eingeflößt hat. Seit über drei Monaten war es der erste Tag, der mich – ein paar Stunden lang – entschädigt hat für die Abwesenheit des Grafen von Schomberg. Könnte ich doch nur die Wohltaten verdienen, die Sie mir zukommen ließen und gleichzeitig Ihre Wertschätzung gewinnen! Ich würde in diesem Fall nicht zögern, Ihnen von Zeit zu Zeit meinen untertänigsten Respekt zu bekunden, was Sie so freundlich waren, mir zu gestatten, was ich aber derzeit kaum zu tun wage, in der Furcht, eine so kostbare Gunst zu missbrauchen. Ich eile, die Lektüre Ihres Leib- und Magenbuchs zu beenden, obgleich doch in Wahrheit jede Zeile dieses wunderbaren Werks es verdient, für sich allein bedacht zu werden. Ich sende Ihnen zwei Ausgaben der Abschnitte aus den ‚Nouvelles littéraires’ zurück und wage, sehr geehrter Herr, die Bitte, sie mir weiterhin bei Gelegenheit zugänglich zu machen. Seien Sie überzeugt, dass niemand Ihnen in einer so aufrichtigen Hochachtung verbunden bliebe ... .“ 144 Studnitz hatte dem jungen Grimm also zwei von Raynals Nouvelles littéraires zugänglich gemacht, bevor sie an die Herzogin von Sachsen-Gotha gesandt wurden, es können aber auch Kopien gewesen sein, die Studnitz von der Herzogin erhalten hatte, so genau lässt sich das heute nicht mehr klären. Aber halten wir fest: der Ausgangspunkt für Grimms spätere französische Laufbahn findet sich in diesem Brief, den Grimm an Herrn von Studnitz richtete. In diesem Brief , datiert auf den 19. Mai 1748, bedankt sich Grimm bei Studnitz für die Überlassung einiger „pièces des Nouvelles littéraires“. Und es war Studnitz, der die erste Verbindung zwischen Grimm und dem Gothaer Hof in die Wege leitete.
Ähnlich wie in Studnitz, der am Gothaer Hof Karriere machte, sah Grimm auch in Gustav Adolf Gotter, dem in gothaischen und preußischen Diensten stehenden Komitialgesandten, ein anschauliches Beispiel dafür, wie es einem Bürgerlichen gelingen konnte, in den Reichsgrafenstand aufzusteigen. Gotter, ein Freund der Aufklärung und Freimaurer, von Friedrich II. hochgeachtet, entstammte einer bürgerlichen Familie. Durch eigene Verdienste war er in den Adelsstand aufgestiegen. Sein Lebensweg muss Melchior Grimm sehr imponiert haben und hat sicherlich auch Melchiors eigene Lebensplanung schon in jungen Jahren beeinflusst. Gotter hatte an der Universität Jena Rechtswissenschaften studiert. In Halle lernte er den späteren hannoverschen Minister und Geheimrat Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen kennen. In Wien konnte er Kontakt mit Eugen von Savoyen schließen und sein diplomatisches Geschick in einer Streitigkeit zwischen Gotha und Wien unter Beweis stellen. Herzog Friedrich II. ernannte ihn 1716 zum Legationsrat, 1720 wurde er herzoglicher Rat und außerordentlicher Gesandter in Wien. Kaiser Karl VI. erhob ihn 1724 in den Freiherrenstand. 1728 ging Gotter auf Wunsch von Friedrich Wilhelm I. als Geheimer Staatsrat nach Berlin, später kam der Vielgereiste als Komitialgesandter auch nach Regensburg.145
Zur Jahreswende 1747/48 ist Melchior Grimm schon im dritten Jahr Hofmeister beim Grafen Schönberg und ihm brennt etwas die Zeit unter den Nägeln. Das Hofmeisteramt, so viele Vorteile es auch bringen mag, füllt ihn nicht aus und er will in diesem Amt auch nicht alt werden. Bei der Stadt Dienst anzunehmen ist ihm ebenfalls kein schöner Gedanke146 und auch sonst macht ihm sein Leben in Regensburg jetzt wenig Vergnügen. Mit Gottsched bespricht er, wie es schon der Brauch ist, mögliche Veröffentlichungen, er bedankt sich artig für Zusendungen der deutschen Schaubühne, auch denkt er darüber nach, Voltaires Gedanken über Funktion und Aufgabe der Satire147 ins Deutsche zu übersetzen. – bei all dem, unserem Melchior ist es in der freien Reichsstadt etwas fad geworden und es muss bald etwas passieren. Freund Gottlob Ludwig von Schönberg ist mittlerweile Capitain im Regiment der Madame la Dauphine in Straßburg. Er hatte, wie Grimm an Gottsched schreibt, schon immer „eine große Neigung zu Kriegsdiensten gehabt.“ Graf Friesen, ein Freund der Schönbergs, mit ihm wird Grimm bald Bekanntschaft machen, ist Oberst des Regiments.148
Den Sommer des Jahres 1748 hat Grimm mit „mancherley Arbeit und Zerstreuung“ zugebracht, er überarbeitet die Banise149 für die zweite Auflage der Deutschen Schaubühne und kann dann im Dezember endlich eine Veränderung seiner Lage in Aussicht stellen: „Ich bin im Begriff in kurzem eine Reise nach Frankreich zu thun“. In seinem Brief an Gottsched fügt er hinzu: „vielleicht komme ich vorher noch auf ein paar Monate nach Sachsen und welch ein Vergnügen, Ew. Magnificienc vielleicht bey einer Durchreise durch Leipzig aufzuwarten!“150 Dazu ist es nicht mehr gekommen, denn Grimm reist schon Ende Dezember 1748 oder Anfang 1749 möglicherweise in Begleitung seines Schülers Adolf Heinrich von Schönberg, damals 14 Jahre alt, nach Paris. Über die genaue Reiseroute ist nichts bekannt, wir wissen aber, dass Grimm in Straßburg Station machte.151
Grimms Biograph Edmond Scherer, ist unsicher, als wessen Begleiter Grimm Ende des Jahres 1748 nach Paris ging und auch Jenny von der Osten, die Biographin der Herzogin Luise Dorothee von Sachsen-Gotha, fand in den Akten von Schloss Friedenstein keinen Beleg dafür, dass Grimm seinen Zögling Schönberg nach Paris führte. Einiges spricht dafür, dass Grimm den jungen Grafen Friesen dorthin begleitete, dieser Meinung war übrigens auch Grimms Biograf Heinrich Meister. Der Reichsgraf Ernst Christoph von Manteuffel152, der Friesen und Studnitz zu seinen Freunden zählte, und gute Kontakte zur Herzogin von Sachsen-Gotha pflegte, könnte in diesem Beziehungsgeflecht letztlich dafür verantwortlich sein, dass Grimm eine Empfehlung als Reisebgleiter und Sekretär des jungen Grafen Friesen erhielt. Für die Möglichkeit, dass Grimm mit Friesen nach Paris gekommen ist, spricht ach seine Erwähnung als Sekretär desselben schon im April 1749 bei der Konfirmation des Erbprinzen. Damit wäre im übrigen auch die Behauptung Rousseaus hinfällig, dass Grimm beim Erbprinzen von Sachsen-Gotha angestellt gewesen sei