Читать книгу Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg - Winfried Wolf - Страница 6
Auf der Poetenschule in Regensburg – Briefe an Gottsched – erste literarische Versuche - Melchior schreibt ein Trauerspiel
ОглавлениеFriedrich Melchior Grimm erhielt seine Schulbildung auf dem protestantischen Gymnasium poeticum in Regensburg. Schon der Bruder hatte diese Schule „mit allgemeinem Beifall und Lob seiner verdienten Lehrer“ besucht.21 Was war das für eine Schule? Welchem Lehrplan folgte sie? In Regensburg gab es schon vor Melchiors Zeit zwei bedeutende Schulen, das katholische Jesuitengymnasium St. Paul und das evangelisch-reichsstädtische Gymnasium poeticum. Letzteres fand sich in der Gesandtenstraße und war im 16. Jahrhundert gegründet worden. Nachdem sich die Sympathien der Reichsstadt mit der Lehre Luthers verstärkt hatten, geriet die junge Poetenschule bald ins protestantische Fahrwasser. 1530 erbat der Rat der Stadt auf dem Augsburger Reichstag mit Erfolg eine Empfehlung des berühmten Melanchton, um angesehene Lehrer nach Regensburg zu bringen.22 1655 wird ein eigenes Schultheater mit Orchesterraum und ansteigenden Sitzreihen erwähnt. Wir wissen nicht, ob dieses Theater noch bestand oder genutzt wurde, als Melchior Grimm die Schule besuchte. Er, der in seinen letzten Schuljahren ein Trauerspiel23 verfasste, hätte sich vermutlich als hauseigener Autor über eine geeignete Spielstätte in Regensburg gefreut.
Als Melchior Grimm die Poetenschule in Regensburg besuchte, waren die Schülerzahlen im Vergleich zum vorangegangenen Jahrhundert stark zurückgegangen. Um 1601 wurden 266 Schüler unterrichtet, für das 18. Jahrhundert rechnet man durchschnittlich mit nicht mehr als 80. Die Klassen, die gebildet wurden, waren anfangs keine Jahrgangsklassen, sondern Leistungsgruppen. Daher umfasste beispielsweise eine erste Klasse Kinder im Alter zwischen 5 und 14 Jahren. Zu Melchiors Zeit gab es vor dem Eintritt in das Gymnasium so etwas wie eine Vorschule auf der man die Grundzüge des Lesens und Schreibens lernen konnte. Es liegen keine Angaben darüber vor, mit wie viel Jahren Melchior Grimm in die erste Klasse kam. Wenn er mit fünf Jahren eintrat und die Schule 1741 beendete, beläuft sich seine Schulzeit auf 13 Jahre. Vater Melchior Johann Grimm ließ seinen Kindern jedenfalls eine gute Schulbildung zukommen und Melchior fand großes Gefallen an den Lateinübungen und der Beschäftigung mit der Literatur.24 Die Ausbildung der Kinder wird dem Grimm’schen Haushalt einiges gekostet haben, Melchior hatte noch vier Brüder25, die alle die Schulzeit an einer ordentlichen Schule durchlaufen mussten. Mit irdischen Gütern war die Familie nicht gesegnet. Melchior schildert seinen Ausgangspunkt später mit den Worten, er sei ohne Vermögen auf die Welt gekommen. So übel kann es aber dem jungen Grimm nicht ergangen sein. Als Sohn eines Pastors gehörte er immerhin zu den wenigen, die überhaupt eine höhere Lehranstalt besuchen konnten. Im Pfarrhaus gab es außerdem Bücher und die Auseinandersetzungen mit dem studierten Bruder, der auch für den erwünschten Lesestoff sorgen konnte, waren wichtige Anregungen.
Das Gymnasium poeticum wurde von Kindern besucht, deren Eltern der städtischen Oberschicht entstammten oder aus Pastorenfamilien kamen. Aber auch angesehene Handwerker schickten ihre Kinder auf diese Schule. Begabte Schüler aus sozial schwächeren Schichten konnten über Stipendien wohlhabender Bürger oder des Rates der Stadt einen Schulplatz erhalten. Regensburgs Poetenschule, darauf weist schon der Titel hin, folgte einer sprachlich-literarischen Ausrichtung, sie wird zum Grundstein zu Grimms philologischer Bildung. Natürlich stand von Anfang an die im Protestantismus verbreitete Idee der Glaubensfestigung durch die Schule Pate. „Zur größeren Ehre Gottes, zur Fortsetzung der Reformation, zum Ruhme und Wohlstand der Stadt, zum Besten der Kirche und des Staates“, so hätte es über dem Schulportal stehen können. 26 Man sah nicht nur die Ideen des Humanismus grundgelegt, sondern es spielte auch das Bedürfnis nach qualifizierten Theologen und Verwaltungsbeamten eine wesentliche Rolle.27 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Schule durch einen städtischen Ausschuss, das sogenannte Scholarchat, das unmittelbar dem Rat unterstellt war, verwaltet wurde. Melchiors Bruder, Ulrich Wilhelm Grimm, trug u. a. den Titel eines Scholarchs.28 Lehrer und Rektoren waren gleichzeitig auch protestantische Geistliche, Melchiors Neffe Johann Ludwig Grimm war Professor am Gymnasium poeticum. „So zieht sich“, wie Diethard Schmid in seinem Aufriss der Regensburger Schulgeschichte schreibt, „durch die Entwicklung des Gymnasium poeticum von Anfang an der Geist des Humanismus gepaart mit dem eher sachlichen Protestantismus, der gezwungen war, mit dem in Regensburg nach wie vor mächtigen katholischen Partner und dessen wachsendem Einfluss zu leben.“29
Wir wissen nicht genau nach welchem Stundenplan Melchior Grimm unterrichtet wurde. In der Lateinschule alter Prägung wurde Grammatik, Rhetorik und Dialektik gelehrt. Hier sei ein Seitenblick auf Friedrich Schiller gestattet, der 1767 noch mit der Vorstellung später einmal Theologie zu studieren, in die Lateinschule von Ludwigsburg eintrat. Der Besuch der Lateinschule ist in dieser Zeit u. a. Voraussetzung dafür, in ein Predigerseminar mit anschließendem Theologiestudium aufgenommen zu werden. Dass das Curriculum eine „kirchlich erzwungene Einseitigkeit“ aufweist30, ergibt sich zwangsläufig aus der dem Schultyp zugewiesenen Funktion. An Schillers Schule in Ludwigsburg beginnt der Unterricht im Sommer um sieben und im Winter um acht Uhr. Mit einer längeren Mittagspause dauert der Unterricht sieben Stunden wochentags, zuzüglich verpflichtend der sonntägliche Kirchenbesuch mit anschließender Katechisation, einer Religionsübung, bei der meistens nur das Glaubensbekenntnis, allerlei Bibeltexte und zahllose Kirchenlieder auswendig gelernt werden. Latein ist das mit Abstand wichtigste Fach, das unterrichtet wird. Die Schüler übersetzen hier Texte aus dem Lateinischen ins Deutsche und umgekehrt, sie üben sich in lateinischem Stil, verfassen lateinische Dialoge und erhöhen so ihre lateinische Rede- und Ausdrucksfähigkeit. In Latein spielen die Schüler Theater, damit wird Latein fast zur lebenden Sprache. Friedrich Schiller gehört zu den besten Lateinern seiner Schule, er beherrscht das Lateinische so gut, dass er Jahre später die Schwestern Lengefeld mit der Dichtung Vergils bekannt machen kann, indem er ihnen vom Blatt weg vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt.31 Der Unterricht von Altgriechisch ist verglichen mit Latein nicht so umfassend, zielt aber mit seinen Grammatikübungen und dem eingehenden Vokabellernen darauf, die Schüler zu eigenständigen Übersetzungen des Neuen Testaments zu befähigen. Hebräisch spielt dagegen nur eine marginale Rolle und für die Musik und Mathematik hat man gerade mal eine einzige Unterrichtsstunde pro Woche übrig.
Einen detaillierten Tagesablauf kennen wir aus der Fürstenschule St. Afra, diese Schule besuchte Gotthold Ephraim Lessing, der spätere Gegenspieler von Grimms Übervater Gottsched. Zu Lessings Zeit umfasste jeder Schultag in St. Afra zehn Unterrichts- und Arbeitsstunden. Den Schwerpunkt bilden Religion und Latein mit insgesamt 40 Wochenstunden. Es folgen Griechisch mit vier, Hebräisch mit drei Wochenstunden, Französisch, Rhetorik, Mathematik, Geschichte und Erdkunde mit zwei Wochenstunden. In Privatstunden können sich Schüler mit neuesten Tendenzen in der Philosophie und Naturforschung sowie dem Englischen vertraut machen. Zwei Monate des Jahres bleiben den Schülern zum Selbststudium. Ferien gibt es nicht, nur zwei Wochen Urlaub alle zwei Jahre.32
Im Ganzen gesehen ist das Unterrichtsgeschehen in der Lateinschule von einer Lernkultur geprägt, die man, auch wenn es einzelne Ausnahmen geben mochte, mit Katharina Rutschky wertend als schwarze Pädagogik bezeichnen kann.33 Physische und psychische Gewaltanwendung seitens der Lehrer ist noch etwas ganz Normales und so gehört es einfach dazu, dass die Schüler bei mangelnden Leistungen und kleineren Disziplinverstößen eingeschüchtert, verprügelt oder zeitweise eingekerkert werden. Melchior Grimm scheint seine Schulzeit aber unbeschadet an Körper und Geist zugebracht zu haben. Laut Schulordnung von 1610 sollen Lehrer am Gymnasium poeticum in Regensburg ohne Zorn auf „unfleiß oder boßheit“ der Schüler mit wohlmeinenden Ermahnungen reagieren und nur, wenn das nicht hilft, mit Ruten strafen. Untersagt sind Schläge auf den Kopf, die Nase oder die Backe des Schülers. Verboten ist den Lehrern auch, die Schüler an den Haaren zu reißen oder Beulen zu schlagen. Lehrer sollen sich auch beim Strafen so verhalten, „daß discipuli sie lieb haben“.34
Über die Schulverhältnisse in der Reichsstadt Regensburg und die wechselnden Stundentafeln am Gymnasium poeticum wissen wir einigermaßen gut bescheid. Wie die katholischen Schulordnungen hoben auch die evangelischen besonders das religiös-sittliche Prinzip hervor. Für das um 1537 entstandene städtische Gymnasium poeticum kann die lateinische Schulordnung in der Fassung von 1654 herangezogen werden. Diese Schulordnung besagte auch, dass die deutsche Schule in zwei Schularten aufgeteilt wird: in die Extraordinari- oder Wachtschule35 und in die Ordinari-Schule.36 In diesen Schulen erlernten die Regensburger Kinder das Lesen, Schreiben und Rechnen. Nach der Organisationsregelung von 1658 wurde zur Vorschrift gemacht, dass man vor Eintritt in das lateinische Gymnasium poeticum den Besuch beider Schule schaffen musste, die Beherrschung von Lesen und Schreiben war Voraussetzung für den Übertritt. Auch Melchior Grimm besuchte wie seine älteren Brüder Johann Ludwig und Ulrich Wilhelm den Unterricht in den öffentlichen Schulen der Stadt.37
Das Gymnasium führte zur Zeit Melchior Grimms sechs Klassen. Der tägliche Unterricht begann im Sommer wie im Winter um 7 Uhr. Die Zahl der wöchentlichen Pflichtstunden betrug im 18. Jahrhundert 28 bis 30 Stunden, hinzu kamen Privatstunden. Den Großteil der Stunden nahm der Unterricht in Latein ein. 1615 werden in der 2. und 3. Klasse 20 von 28 Wochenstunden dafür angesetzt. In den oberen Klassen wurde der Lateinunterricht zugunsten des Griechischen eingeschränkt. Bei der Stundenübersicht von 1656 ist Griechisch in den Klassen 3 bis 6 mit zusammen 16 Stunden vertreten. Die Sachfächer Geschichte und Arithmetik werden je einstündig gegeben. Zu Beginn der Stundentafel erscheint stets das Fach Religion von der 2. bis zur 6. Klasse mit insgesamt 13 Wochenstunden. In der letzten Klasse kommt das Fach Ethik hinzu. Als bemerkenswert stabil erweist sich über den Wechsel der Stundentafeln hinweg das Fach Musik. Ihm wurden vier Wochenstunden zugewiesen.
Etwas Besonderes wurde den Schülern mit dem Auditorium geboten. Aus einzelnen Privatvorlesungen, die von Professoren des Gymnasiums poeticum gehalten wurden, entstand 1664 das sog. Auditorium. Hier konnten sich die älteren Schüler auf den Wechsel an eine Universität vorbereiten. Das Auditorium bot Vorlesungen in Theologie, Philosophie, Mathematik, Physik, Astronomie, Geschichte und Geographie aber auch in den orientalischen Sprachen und der klassischen Philologie an. Das war eine gute Einrichtung, dadurch konnte man auch den kostspieligen Studienaufenthalt in einer fremden Stadt verkürzen helfen.38 Ob Melchior in den beiden letzten Schuljahren „Anweisungen in den ersten Grundsätzen der Rechtsgelehrsamkeit“ wie sein Bruder Johann Ludwig von dessen Taufpaten, Herrn Mylius, erhalten hat, wissen wir nicht.
Auch Melchior Grimm wird zunächst, ähnlich wie Schiller oder Lessing, die Schule als Vorbereitung auf ein Universitätsstudium gesehen haben. Danach konnte dann vielleicht bei entsprechenden Verbindungen zu den höheren Kreisen eine Hofmeisterstelle, eine Assessoren- oder Sekretärsstelle folgen. Anders als der Bruder jedoch, der schon in früher Jugend eine besondere Lust und Neigung zur Theologie zeigte, beschäftigte sich Melchior in den oberen Klassen mit ersten literarischen Versuchen, die er zur Beurteilung an den großen Reformer der deutschen Sprache und Literatur Johann Christoph Gottsched nach Leipzig sandte. In einem Brief an Gottsched beschreibt sich der 17 jährige Melchior so: „Ich bin ein junger Mensch, welcher erst in anderthalb Jahren die hohe Schule zu Leipzig besuchen wird. Außer dem, dass ich auf dem hiesigen Gymnasio die lateinische Sprache, und andere freye Künste treibe, habe ich meine größte Lust in Sittenschriften, und anderen überhaupt nach meiner Einsicht wohlgeschriebenen Büchern gefunden.“39 Der junge Gymnasiast aus Regensburg breitet dem hochverehrten Gottsched selbstbewusst seine Leselektüre aus und kokettiert ein wenig mit seinem Leben in der Provinz. „Ich habe den Patrioten40 zu meiner großen Erbauung gelesen“, teilt er mit. „Ich habe die vernünftigen Tadlerinnen41 nicht minder mit dem größten Nutzen und Vergnügen meistentheils durchgeblättert. Den Biedermann42 aber habe ich nie zu Gesichte bekommen können. Oefters bedaure ich, dass unser Regensburg so unglücklich ist, keinen rechten Buchladen zu haben. So habe ich z. E. niemalen ein Buch, von Ew Hochedelgebohren Magnificenz unvergleichlichen Schriften, zu sehen bekommen.“43 Vom Bruder Ulrich erhielt er Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen und De la manière d’enseigner et d’étudier les belles-lettres. Melchior hat diese Bücher mit großem Vergnügen gelesen und dabei sein Urteilsvermögen schulen können. Selbstkritisch gesteht er ein, schon auf manche Scheingelehrtheit hereingefallen zu sein und er zeigt sich dankbar denjenigen gegenüber, die ihm wie Gottsched durch kluge Betrachtungen die Augen öffnen können. Seinem Briefpartner Gottsched weiß er geschickt, aus heutiger Sicht stark übertrieben, zu schmeicheln, indem er dessen Verdienste um die Geschmacksbildung der Deutschen herausstellt. Der junge Melchior gibt in seinem ersten Brief an Gottsched vollmundig und etwas altklug seiner Hoffnung Ausdruck, noch die Zeit erleben zu können, in der die Deutschen es einmal dem Ausland so richtig zeigen können. Ihm, Gottsched wird die Rolle des Mittlers und Vordenkers zugewiesen, ihm wird es dereinst zu danken sein, dass die Deutschen „zur edlen Nachfolge der alten Griechen und Römer und neuern Franzosen“ werden.44 Vor allem den Franzosen zollt Melchior seine Bewunderung, vergisst dabei aber nicht dann doch seinem Leipziger Idol allein die Strahlenkrone aufzusetzen: „Frankreich hat es weit gebracht: Wir können aber gegen einen Boileau, Rollin, Fontenelle, Fenelon, Voltaire und kurz gegen alle große Lichter dieses Reiches unsern Gottsched setzen.“45 Auch Frauen sind unter den großen Lichtern zu finden. Melchior gibt Beispiele: Italien kann mit seiner Bassi46 prahlen, Frankreich mit seiner Dacier47 und die Deutschen können stolz auf ihre Kulmus48 sein. Das ist kühn gesprochen und Melchior muss schauen, dass er wieder auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kommen kann.
Grimm preist Gottsched und dessen erste Ehefrau, Luise Adelgunde Victoire Kulmus, in den höchsten Tönen, sein Werben ist jedoch nicht ohne Eigennutz. Er will ein Lob von erster Stelle und er hat konkrete Wünsche vorzubringen. Er und sein Schulfreund Gottlob Ludwig von Schönberg49 dürsten nach einem Bildnis der Kulmus, ein Wunsch, der durch die Lektüre ihrer Schrift Triumpf der Weltweisheit angeregt worden war. Ein Bild von Gottsched besaß Melchior bereits in einem Buch, nun verlangt ihn danach, einen Abriss derjenigen zu besitzen, welche dem Vaterland in seinen Augen so viel Ruhm machte. Die Gymnasiasten Grimm und Schönberg werden wohl in dieser Hinsicht nicht anders gewesen sein, als viele Jugendliche heute, die ihre Idole auf Plakaten in ihren Zimmern hängen haben. Melchior sollte schneller als gedacht in den Besitz eines Kupferstiches der Kulmus kommen; er hatte seinen Brief an Gottsched noch nicht gesiegelt, da schickte ihm der Buchhändler den vierzehnten Teil der Zuverlässigen Nachrichten50 mit dem gewünschten Bildnis darauf.
Melchiors erster Brief an Gottsched, den er mit „heftiger Begierde“ schreibt, enthält aber mehr als nur Lobpreisungen auf den großen Meister und die Bitte um ein Bild von dessen Freundin, der Kulmus. Melchior hat vor allem auch das Bedürfnis, sich selbst ins rechte Licht zu rücken, er will schon als Gymnasiast mit eigenen Werken glänzen. Dem großen Gottsched gegenüber aber muss er sich klein machen und es wäre ja auch unklug sich schon auf die gleiche Stufe stellen zu wollen. Melchior legt seinem Brief zwei eigene Werke bei, die er zwar als Stümperei bezeichnet, von deren Gültigkeit er aber, wie er schreibt, vollkommen überzeugt ist. Es handelt sich um eine Ode und um die Satire wider die Verächter der Weltweisheit. Die Ode hebt schmeichlerisch Gottscheds Verdienste hervor:
„So ist auch die Beredsamkeit seit kurzen prächtig gnug gestiegen, So sehen wir die Weltweisheitauch nimmer in dem Staube liegen.Warum? Ein großer Gottsched wacht,Der ist auf Deutschlands Ruhm bedacht,Der lehret uns vernünftig schreiben, Der zeiget uns, was Unverstandfür albre Tollheitsfrucht erfand,Und wie man müsse Künste treiben.“ 51
In seiner Ode geht Melchior auch auf die prahlerischen Franzosen ein und schreibt:
„So pralt, ihr Franzen, immerfort,Daß euerm Boileau 52 keiner gleichet.Seht! Leipzig ist der Musenort,Da wohnt Apoll, der ihn erreichet.Ja was Racine 53 , Rousseau , Voltaireund andre große Helden mehrEuch iemals wichtiges erwiesen:In unserm Gottsched: Ja allhierWird noch weit mehr in ihm gepriesen.
Als Melchior Grimm acht Jahre später auf einer Gesellschaft des Baron von Thun Rousseau kennen und schätzen lernte, wird er ihm wohl nichts über seine schwärmerische Jugendphase und die Herabwürdigung der „Franzen“ erzählt haben.
Melchior scheint sich auf seiner Schule in Regensburg recht gelangweilt zu haben oder ist es jugendlicher Überschwang, der ihn in seinem Brief vom 28. August 1741 die Feder diktiert: „Ich muss noch ein ganzes Jahr in Regensburg bleiben, und, was das ärgste ist, meine Zeit noch dazu müßig zubringen. Wir haben einen Lehrer der Weltweisheit, welcher wohl selbst nicht weis, was sie ist. Seine Kunst besteht darinnen, daß er den Hugo Grotius, Leibnitzen, Wolfen und andern, welchen die gelehrte Welt soviel zu danken hat, für Leute ausschreyet, welche gefährliche Meynungen hätten, da er doch ihre Grundsätze weder weis noch versteht. Der Rektor ist zwar ein sehr fein gelehrter und in den freyen Künsten wohlgeübter Mann, aber er ist kein Philosoph. Mit hin bleibet diese so nützliche als nothwendige Wissenschaft liegen... Ich bringe also meine Zeit mit Lesung nützlicher Bücher zu.“54
Die Briefe Friedrich Melchior Grimms werden als die frühesten erhaltenen Texte des deutschen Pfarrersohns aus Regensburg angesehen. In seinem Nachwort zu den Briefen an Johann Christoph Gottsched geht Jochen Schlobach auf die Bedeutung dieser Korrespondenz auf Grimms späteren Werdegang ein: „Der besondere Wert der Briefe Grimms an Gottsched und seine Frau besteht darin, dass sich in ihnen sein Weg vom Gymnasium in Regensburg auf die große Bühne der europäischen Kulturhauptstadt Paris und der europäischen Höfe nachzeichnen lässt. Schon vor dem Studium ist Grimm in höchstem Maß an Literatur interessiert und leidet unter dem Mangel an intellektuellem Austausch in den engen Regensburger Verhältnissen.“55 Im August des Jahres 1741 muss er zu seinem Leidwesen noch ein ganzes Jahr in Regensburg bleiben. Stadt und Schule werden ihm zu eng und er fühlt sich unterfordert. Den Lehrern am Gymnasium poeticum fehlt es nach Meinung des jungen Gymnasiasten an Gelehrsamkeit und Philosophie.
Ein Jahr vor seinem Studium in Leipzig schreibt Grimm ein weiteres Lobgedicht auf Gottsched. Er ist voller Hoffnung und platzt geradezu vor Neugier auf sein Studium an der von der Aufklärung geprägten Universität in Leipzig:
„Wer Gottscheds Schriften liest, wird schon so sehr entzückt,Wie wird erst diesem seyn, den dessen Umgang schmückt.“ 56
Und schon in seiner Satire wider die Verächter der Weltweisheit wird sein Engagement für die Philosophie der frühen Aufklärung deutlich:
„Thalia, schweigst du noch, da alle Stümper nunIn der gelehrten Welt verzweifelt windig thun?Ein ieder will sich selbst zum großen Helden krönen,Ein ieder sich ia nach vielen Titeln sehnen: Obgleich die Wissenschaft im Kopfe rostig ist,Obgleich der Wurm im Haupt schon längst am Hirne frißt.“ 57
Gottsched scheint das junge Talent aus Regensburg ernst genommen zu haben, denn er hat ihn zu weiteren literarischen Produktionen ermuntert.58 Grimms Tragödie Banise wird von Gottsched korrigiert und später in der Deutschen Schaubühne publiziert.
Für einen Gymnasiasten des 18. Jahrhundert ist es durchaus nicht ungewöhnlich sich als Dichter zu versuchen. Auch Lessings erste schriftstellerische Versuche reichen in die Schulzeit zurück. Melchior Grimm legt seinen Briefen an Gottsched des Öfteren Werke aus der eigenen Feder bei und hofft damit die Aufmerksamkeit des großen Meisters auf sich zu ziehen. Einer möglichen Missachtung baut er vor, indem er die eigene Dichtkunst als „Stümperey“59 oder „Geschmiere“ bezeichnet, gleichwohl hofft er auf Lob und Anerkennung. Bei Gottsched war Grimm an der richtigen Adresse, denn dieser ermunterte geradezu junge Dichter, mit neuen Stücken zur „Rettung des deutschen Witzes und Namens“ beizutragen, wie er 1741 in der Vorrede zum zweiten Band der „Deutschen Schaubühne“ schreibt.
Im Sommer des Jahres 1741 hat sich Melchior Grimm als junger Dichter an eine Arbeit gemacht, die ihm, wie er vorauszusehen vorgibt, nicht allzu viel Ehre einbringen wird. Nach der Lektüre des zweiten Teils der Deutschen Schaubühne, kam ihm in den Sinn selbst ein Trauerspiel zu verfassen. Er geriet auf die Banise, die er vermutlich etliche Jahre vorher schon auf der Komödiantenbühne in Regensburg gesehen hatte.60 So wie er das Trauerspiel als Zuschauer erlebte, sollte es bei ihm nicht werden. Er will sich daher mit Bedacht an die Arbeit machen und vorher sorgfältig die Argumentationslinien der Critischen Dichtkunst61 durchlesen. Grimm hofft, die bearbeitete Banise seinem Meister in Leipzig bald zur Beurteilung vorlegen zu dürfen. Im Dezember schickt Grimm einen ersten Vorbericht an seinen Mentor. Zwar versucht er den Vorgaben des Meisters zu entsprechen, schränkt aber bescheiden ein, eine Banise verfertigt zu haben „deren Kräfte sich nicht weiter, als ihres Verfassers, erstrecken.“ Weiter schreibt Grimm „Die Verbesserungen, welche ich hier gehorsamst überschicke, sind aus meiner Feder, ohne, dass ich deswegen von jemand wäre erinnert worden, geflossen. Denn ich weiß dermalen in ganz Regensburg niemanden, welcher nur einige Kenntnis von der Schaubühne62 hat. Mein Bruder, der mir vielleicht an die Hand gehen könnte, befindet sich in Frankfurt beym Wahltage. Und also habe ich außer der critischen Dichtkunst keine Anweisung.“63
Grimms Banise ist eine Dramatisierung des Barockromans Die Asiatische Banise Oder Das bluthig-doch muthige Pegu (Erstdruck 1689). Der Roman war im 18. Jahrhundert noch sehr populär, stammte von Heinrich Anshelm Ziegler und Kliphausen und war mehrfach umgeformt oder als Vorlage für Opernlibretti benutzt worden.64 Grimm hat auf Anraten Gottscheds in den folgenden Jahren immer wieder Korrekturen am Text seines Trauerspiels vorgenommen, es sollte das einzige des späteren europäischen Kulturkorrespondenten bleiben. Der veröffentlichten Fassung von Grimms Banise im vierten Teil der Deutschen Schaubühne ist also eine von Gottsched veranlasste grundlegende Revision durch den Autor vorausgegangen. Grimms Banise ist schon bei den Zeitgenossen auf heftige Kritik gestoßen. In Schützes Hamburgischer Theater-Geschichte sind die kontroversen Meinungen zusammengetragen worden.65 Wir lesen u. a.: „Herr Grimm (hat) ein elendes Trauerspiel zusammengeleimt“... Immerhin hebt Belouin, ein anderer Kritiker, drei frühaufklärerische Trauerspiele hervor, eines davon ist die Banise von Grimm; es sei „“avec un peu de bonne volonté“ und könne durchaus an die Seite von Goethes Iphigenie gestellt werden.
Um was geht es in Grimms Trauerpiel? Grimm beschreibt in Übereinstimmung mit der Romanvorlage die Befreiung der Prinzessin Banise aus den Händen des Tyrannen Chaumigrem und dessen Tötung durch den Prinzen Balazin. Doch eins nach dem anderen: Kaiser Chaumigrem will Banise, Tochter des ermordeten Vorgängers, heiraten. Bedrängt wird sie auch vom lasterhaften Oberpriester Rolim. Banise, die mit Balazin, dem König von Arakan verlobt ist, weist diese Anträge zurück und soll deshalb dem Gott Karkovit geopfert werden. Der Plan ihres Bruders Xemin, ihr als verkleideter Priester zu helfen, schlägt fehl und deshalb tötet er sich selbst, bevor man ihn ermordet. Balazin, der sich ebenfalls als Priester einschleicht, tötet Chaumigrem und befreit so Banise und Pegu vom Tyrannen.
In Grimms Trauerspiel Banise steht der Gegensatz von positiver und negativer Figur im Mittelpunkt des Geschehens. Auf der einen Seite die tugendsame, aufrechte und standhafte Banise, auf der anderen Seite der lasterhafte und illegitime Tyrann Chaumigrem. Banise zeichnet sich durch ihre hohe sittliche Qualität aus, sie wird einerseits im Affekt dargestellt (Erkennung des Bruders), andererseits auch in einer schwankenden Situation gezeigt (widerwillige Zustimmung zur Flucht) und erst am Ende findet sie zu einer angemessenen Haltung, indem sie sich der göttlichen Führung unterordnet. Chaumigrem trägt ebenfalls mehrere Konflikte aus. Entweder schlägt er aus eigenem Antrieb falsche Wege ein (Negierung der göttlichen Weltordnung) oder er lässt sich von seinem intriganten Oberpriester zu einer sittlichen Fehlentscheidung verleiten. In den Protagonisten des Stücks stehen sich Tugend und Laster gegenüber und Grimm bemüht sich nachvollziehbar um eine begründete und problematisierende Darstellung der beiden Rollen. Die übrigen Figuren erhalten kein markantes Persönlichkeitsprofil.
Grimm arbeitet besonders die Opferrolle seiner Hauptfigur Banise heraus, sie gilt es, dem Gottsched’schen Affekt-Modell folgend, als Instrument zur Rührung der Zuschauer einzusetzen. Die Teilhabe am Schicksal der Banise soll beim Publikum Mitleid und Bewunderung hervorrufen. Beide Affekte erreichen ihren Höhepunkt in den Schlussszenen, als die Opferung Banises unmittelbar bevorsteht: Die stoische Gefasstheit, mit der Banise als weltliche Märtyrerin ihr Schicksal erträgt, nötigt Bewunderung ab, ihr gänzlich unverschuldetes Leiden ruft Mitleid hervor. Der Dichter soll an dieser Stelle selbst zu Wort kommen:
Banise.
Nein, so weit soll mich nicht mein Ungemach verleiten,Vermessentlich das Recht der Götter zu bestreiten.Ich ehre, was sie thun: was ihr Verhängniß fügt,Scheint unbegreiflich zwar: jedoch ich bin vergnügt,Und kann mich wohlgefaßt auf ihren Wink bequemen.
Der Opferpriester:
Stirb mit dergleichen Muth, du bist bewundernswerth.Gieb keinem Bilde Raum, das dich hierinnen stört!Sey standhaft!
(...)
Banise (zu Abaxar).
Mein Freund, dein Redlichseyn hat viel für mich gewagt;Nur das Verhängniß hat uns alles Glück versagt,Und endlich seinen Zweck an mir hinaus geführet.Erzähls dem Balazin, ich weis, er wird gerühret.66
Mit dem Schema der belohnten Tugend (der Opferpriester ist in Wahrheit Prinz Balazin, Banises Verlobter und Befreier) und des bestraften Lasters (der Tyrann wird getötet) erfüllt Grimm das Lehrsatz-Konzept Gottscheds. Die vernünftige Weltordnung bestätigt sich und erweist ihre Gültigkeit sogar für den Fall, dass der einzelne situationsbedingt ihre Wirksamkeit nicht erkennen kann. Es verschließt sich dem intellektuellen Vermögen des Menschen, sein Schicksal selbst zu gestalten und sich über die göttliche Allgewalt zu erheben, die – trotz aller Herausforderungen und Prüfungen – schon im Diesseits die ethische Grundordnung zur Geltung bringt.67 In Chaumigrem zeigt Grimm einen tyrannischen Herrscher, der dem aufgeklärt-absolutistischen Staatsideal in jeder Hinsicht widerspricht. Damit ist nun durchaus keine Kritik am zeitgenössischen Absolutismus ausgesprochen. Beim jungen Grimm geht es noch nicht darum, ein ideales Herrschaftsverhältnis zu diskutieren, in Grimms Banise steht vielmehr die Liebesthematik im Vordergrund:
Abaxar.
Doch, Freund, denkt Balazin wohl seine Braut zu retten?Sie ist seit Monatsfrist in unglücksvollen Ketten:Der Schluß ist auch gemacht, daß sie heut sterben soll.Mich dünkt, es wisse dieß der König alles wohl;Denn ihrentwegen ist der Krieg ja unternommen,Und ihr allein ist er zur Rettung angekommen.68
Mein Martong, glaube mir, du kennst die Liebe nicht,Die zwischen diesem Paar die zarten Myrthen flicht.Nein, ich versichre dich: bloß um Banisens wegenWird Balzin das Schwerdt nicht eher niederlegen,Als bis er sie erhält. Er suchet seinen RuhmIn seiner Braut Besitz, und nicht das Kaiserthum. 69
Die politische Dimension fehlt aber in Grimms Trauerspiel trotzdem nicht ganz: Der gestürzte und ermordete Xemindo wird abstrakt als „beste(r) Kaiser“ apostrophiert und Chaumigrem als „Afterkaiser“ abgewertet. Der Tyrann Chaumigrem negiert die absolutistische Herrschaftslegitimation, indem er sich über die Götter erhebt und seine Machtposition ausschließlich individualistisch-triebhaft rechtfertigt. Auf ihn häuft Grimm alle nur erdenklichen Abscheulichkeiten: Zorn, Wollust, Rachgier, Mordgier, Grausamkeit. Im Verlauf des Stücks begrenzen sich diese Affekte mitunter wechselseitig: Die Wollust, die durch die schöne Banise immer wieder neue Nahrung erhält, lässt den Tyrannen zögern, seiner Wut zu folgen und sie zur Opferung freizugeben. Banises anhaltende Verweigerung bringt ihn schließlich zum völligen Kontrollverlust: „Ich knirsche schon vor Grimm, ich rase vor Entsetzen.“70 Am Beispiel des sinnlich-lasterhaften Chaumigrem wird dann die verhängnisvolle Wirkung der fehlenden Affektkontrolle vorgeführt.
Im Gegensatz dazu unterwirft sich Banise widerspruchslos der göttlichen Macht. Sie zeigt eine erfolgreiche Affektkontrolle, die letzlich ja auch belohnt wird. Banises Tugend ist stark religiös geprägt: Gelassenheit, Frömmigkeit, Ergebung in die göttliche Fügung, Bereitschaft zu sterben, Verzicht auf weltliches Glück etc. Sie findet Trost in den Gebeten an die Götter. Wie reagiert sie als ihr die Vertraute, Fylane, vorschlägt zum Schein auf Chaumigrems Drängen einzugehen? Banise weist diesen Vorschlag entrüstet zurück:
Die Tugend herrscht in mir. Es ist der Götter Wille,Den ich voll Großmuth auch im Sterben noch erfüll.Mehr kann ich selbst nicht thun. Ihr Götter, seyd gerecht;Und eurer Macht gefällts, daß heute mein GeschlechtMit mir vergehen soll. Wir mußten ja verderben! 71
In Grimms Trauerspiel, das sich zwar mit der philosophischen Konzeption seines verehrten Lehrers Gottsched vermitteln lässt, bleiben theologische Elemente dominant. Das Stück gibt Beispiele vorbildlicher Affektbeherrschung bzw. völliger Affektverfallenheit ohne groß die Rolle der Vernunft zu thematisieren. Es sind vielmehr die christlichen Züge des Grimmschen Menschenbildes, die auffallen. Banise besitzt eine Tugend, die ihrer besonderen Frömmigkeit entspricht. Das ist noch ganz das Theater des Barock!
Wie wir aus den Briefen an Gottsched wissen, konnte es Melchior Grimm kaum erwarten nach Leipzig zu kommen. Leipzig muss ihm im Vergleich zum eher provinziell empfundenen Regensburg wie das Mekka des Geistes vorgekommen sein. Und in der Tat, die Universitätsstadt Leipzig hatte ja auch einiges zu bieten.
Bevor Grimm jedoch sein Studium in Leipzig beginnen und Gottsched persönlich kennenlernen kann, mussten in Regensburg noch einige Dinge erledigt werden. Grimm arbeitet weiter an seiner Banise, zwei Aufzüge sind bereits fertig. Über weitere Pläne berichtet er in seinem Brif vom 30. Juni 1742. Er dachte dabei an zwei Übersetzungen aus dem Französischen: an das Paradestück von Alexis Piron „Die Metromanie“ (1738), eine Komödie zum Ausbruch der Verswut bei einem französischen Zeitgenossen, geschrieben in klingenden Versen und dazu von Louis de Boissy „Das trügerischen Äußere oder der Mann des Tages“. In diesem Stück personifizeirt die Hauptperson die geistige Frivolität und nichtssagende Höflichkeit der Leute von Welt.72 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Grimm sich am Ende seiner Gymnasialzeit imstande sah, französische Literatur ins Deutsche zu übersetzen. Hatte er Privatunterricht in französischer Sprache bekommen? In der Stundentafel seiner Schule lässt sich ein solches Angebot nicht finden.
Grimm bietet auch noch ein eigenes Stück mit dem Titel „Der Schäfer“ an. Er wollte „darinnen vornehmlich zeigen, wie höchst töricht die Menschen beiderlei Geschlechts in ihrem Umgange öfters handeln.“73 Grimm berichtet in seinem Brief an Gottsched vom 30. Juli 1742 über einen Streit, den er mit Georg Heinrich Behr, einem Arzt aus Straßburg bekommen hatte. Es geht um Logogryphen oder Worträtsel.74 Behr hatte in den „Regensburger wöchentlichen Nachrichten von gelehrten Sachen“ mit Logogryphen glänzen wollen, war damit aber bei Grimm auf Ablehnung gestoßen: „Ich habe deßwegen mich in eben diesen Zeitungen darwider gereget, welches ich desto leichter thun konnte, weil ich ordentlich seit einiger Zeit daran arbeite und die italienischen und französischen Artikel darein verfertige. Ich habe so gar selbst eine Logogryphe gemacht, aus keiner andern Absicht, als dem D. Behr zu zeigen, wie schlecht und elend die Kunst sey, wovon er ein so großes Geschrey gemacht hatte. Das Hauptwort von meinem Worträthsel war Logogryphenschmiede. Ich nehme mir die Freyheit dasselbe gedruckt beyzulegen,75 wie wohl der Herausgeber es dort und da nach seinem Dünkel verändert hat.“76
Melchior Grimm, mit 19 Jahren selbstkritischer aber auch selbstbewusster Stückeschreiber, Theater- und Kunstkritiker, Kommentator in gelehrten Zeitschriften, belesen und sprachbegabt steht am Ende seiner Schulzeit bereit, die Welt zu erobern. Ausgerüstet mit einer klassischen Vorbildung, sind nun die Grundlagen für seine Entwicklung auf den Gebieten der Literaturkritik und Geschichte gelegt. Und schon in Regensburg sammelte er, so muss gesagt werden, einen entscheidenden Teil von Kenntnissen und Erfahrungen, ohne die er später nie in der Lage gewesen wäre, so sicher und schnell in den Gang der literarischen Entwicklung Europas einzugreifen, Zusammenhänge aufzudecken, Nachahmungen, schlechte Kopien und Plagiate zu entlarven. In Leipzig will er die Bühne der gelehrten Welt betreten. Vorher aber muss noch eine Abschiedsrede gehalten werden. Es ist in Regensburg Brauch, dass sich Gymnasiasten, die ihre Schule verlassen, um auf die Universität zu wechseln, sich mit einer wohlgesetzten Rede verabschieden, Grimm macht dies in deutschen Versen. Der Titel der Rede lautet zukunftsweisend: „Das Wachstum der deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit in diesem Jahrhundert.“