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1742-1745 Studium an der Leipziger Universität - Studentenleben - die Vorbilder Gottsched, Ernesti und Mascov- Lessing und Grimm
Оглавление„Von 1742 bis 1745 studierte Grimm an der Universität Leipzig Jura, Literatur und Philosophie. Einer seiner Lehrer wurde Johann August Ernesti. Letzterem verdankte er seine kritische Wertschätzung der klassischen Literatur.“ Diese kurze Würdigung von Grimms Studienzeit in Leipzig bei Wikipedia kann uns natürlich nicht zufriedenstellen, dumm nur, dass wir über die Leipziger Zeit von Grimms Seite her so wenig wissen. Aus der kleinen Biografie, die seiner französischen Korrespondenz vorangestellt wird, entnehmen wir, dass er in Leipzig studierte und „sich dort besonders auf Philosophie, Rechtswissenschaften, alte und neuere Literatur legte.“77 Des weiteren erfahren wir, dass Grimm „eine tüchtige Philologie“ bei dem berühmten Ernesti erwarb. Die Einleitung von Kurt Schnelle zu „Paris zündet die Lichter an“ konkretisiert und hilft weiter: „1742 siedelte Grimm nach Leipzig über und wurde im Oktober an der Universität immatrikuliert. Grimms Lehrer waren Gottsched, der Altphilologe Ernesti und der Historiker und Staatsrechtler Johann Jakob Mascov.“78 Grimms Lehrer in Leipzig wurden also die Professoren Gottsched, Ernesti und Mascov. Das war ein sehr erlesener Kreis. In den „Nützlichen Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten und anderen Begebenheiten in Leipzig“ lässt sich eine Unmenge von Hinweisen auf die weit über die Universität reichende Wirkung und Tätigkeit der genannten Personen finden. Leipzig war zu Grimms Zeit ein „Mekka der Gesellschaftswissenschaften“.79 Der Herausgeber der „Nützlichen Nachrichten“ stellte in seiner Vorrede von 1739 die Stadt so vor: „Leipzig hat einen Vorzug vor vielen Städten, wegen der berühmten Universität, wegen der preißwürdigen Regierung, wegen der weisen Recht-sprechenden Kollegien, und wegen der florierenden Kaufmannschaft, ja, was noch mehr ist, wegen der reinen Religion.“80 Die Empfehlung von Gottscheds Freund Christian Gabriel Fischer hätte den angehenden Studenten Friedrich Melchior Grimm vermutlich noch mehr gefallen: „Der Ort gefällt mir sehr wol und ist von Agrement, Conversation und ungezwungener Manier zu leben der Beste in gantz Deutschland. Die Université floriet noch wol, sowohl mit guten Professoribus als auserlesenen Studiosis ... Der Societaeten in Leipzig ist eine große Zahl und dieses ist ein artiges Mittel die Gelehrte zu verbinden und zu poliren. Daher ist auch die Conduit der Leipziger Gelehrten in vielen Stücken besser als an andern Orten ... Jedoch darf man nicht denken, daß daselbst lauter Helden entspringen oder anwachsen. Es klebt auch diesem Ort die gewöhnliche Unvollkommenheit dieser Welt an, und fehlet es daselbst sowol als anderwärts an klugen Leuten, die verfallene Studia aufzurichten. Mehr als anderwärts hält man hier auf belles lettres und humanoria, welches die Studia unterhält, die zu Hall und Wittenberg bishero abgefallen. Die Station ist vor Studiosis nicht so theur als die Neben Depences, welche auff Soupiren und Spatziren ergehen. Wer darin sich zu retiriren weiß, findet in Leipzig einen Ort zu studiren, der seinesgleichen nicht hat ...“81
Wie Grimm in Leipzig gelebt hat, wo er wohnte, welche Wirts- und Kaffeehäuser er besucht hat, wie er sich kleidete, mit welchen Studenten er zusammen war, welche Ausflüge er ins Umland von Leipzig machte, darüber wissen wir so gut wie nichts. Anders als Goethe, der in Leipzig sein „Kunstwerk des Lebens“ zu gestalten begann, hat uns Grimm, wie es scheint, über seine Studienzeit fast nichts hinterlassen. Grimms Briefwechsel mit Gottsched deutet aber immerhin darauf hin, dass er auch in den Familienkreis des verehrten Meisters eintreten durfte. Leider haben sich von Grimms wissenschaftlichen Leistungen in Leipzig kaum Spuren erhalten. Ein wichtiges Ereignis aber, an dem auch Grimm beteiligt war, wird in den „Vernüftigen Nachrichten“ von 1743 erwähnt. Aus einem Bericht über die akademische Jubelfeier für Ernst Christoph, Reichsgraf von Manteuffel82 lässt sich entnehmen, dass Grimm eine Rede „in des Herrn Prof. Gottscheds Redner-Gesellschaft“ gehalten hat.83 Im Hause Gottscheds hat Grimm vermutlich auch die Grundlagen für seine spätere Tätigkeit als Musikkritiker erworben, denn hier hatte er reichlich Gelegenheit, sich mit Musik zu beschäftigen. Man darf wohl annehmen, dass Grimm in der Umgebung Gottscheds zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Musik angehalten wurde. „Das ergab sich... schon daraus, dass die Professoren der Rhetorik und Poesie für die Universitätsfeierlichkeiten die lateinischen oder deutschen Texte zu liefern hatten, die nach altem Brauch vom Universitätsmusikdirektor vertont wurden.“84
Zur schon erwähnten Jubelfeier für von Manteuffel wurde vom damaligen Musikdirektor Gottlieb Görner, der im Übrigen ewig mit Johann Sebastian Bach im Streit lag, eine Kantate instrumentiert, die am 12. August 1743 „mit Pauken und Trompeten“ aufgeführt wurde. Ein Komponist konnte damals auch kaum an der „Critischen Dichtkunst“ vorübergehen, wie die Musikforscher Walter Seruky und Hans Haase darlegen konnten, denn bei den „redenden“ Künsten konnten junge Musiker Sicherheit in Stil, Form und Ausdruck gewinnen. Wie weit das Vorbild Gottsched auch für die Musik gewirkt hatte, zeigte sich in der Schrift seines Schülers Scheibe, der ab 1737 den „Critischen Musikus“ herausgab. Grimm konnte also im Hause seines Meisters dessen Wirkungen auf Musiker und Musik hautnah erleben und auch ganz praktisch war einiges geboten: die Frau Gottscheds spielte vorzüglich Laute und Klavier und wurde von dem Bachschüler Krebs im Komponieren unterrichtet
Was war das für eine Stadt, in die Melchior Grimm im Herbst des Jahres 1742 zog? Leipzig war um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit seinen etwa dreißigtausend Einwohnern um einiges größer als Regensburg, das Ende des 18. Jahrhunderts immerhin zwanzigtausend Einwohner zählte. Leipzig war eine fortschrittliche Stadt. Sie war nicht altertümlich verwinkelt, sondern zeigte ein neues, frisches Gepräge. Breite Straßen, einheitliche Fassaden, am Reißbrett entworfene Wohnquartiere mit den berühmten umbauten Höfen, die wie Plätze wirkten, auf denen sich ein reges geschäftliches Leben abspielte. Johann Christian Müller, der 1739 von Stralsund kommend mit der Kutsche in Leipzig einfuhr, schildert uns seine ersten Eindrücke von der Stadt so: „Ich sahe hier große Vorstädte, darin schöne Häuser, Paläste und Gärten, allenthalben schöne Alleen, die Brücken, so gemauret, ja die Stadt-Mauren, alles wahr angemahlet, die Kirchspitzen der Stadt, die man kaum vor denen hohen Wohnhäusern hervorragen sehen konnte, verguldet. Wir fuhren in das Alt-Ranstädter Thor ein, und der Briel so eine lange nicht abzusehende sehr breite und gerade Gasse mit den schönsten Wirths-Häusern schien uns zu bezaubern, noch mehr aber, da wir auch die übrigen Gassen erblickten. Schlechte, oder Giebelhäuser, die man an anderen Orten häufig findet, ward man hir gar nicht gewahr. Die meisten hatten 4 oder 5 Stockwerk, waren massiv gebauet, entweder mit einem grünlichen Schwefel-Gelb, oder mit einer anderen Farbe, auch wohl mit Biblischen Historien von oben bis unten nach der Kunst in dunkelbraun mit Aschgrauen Figuren bemahlet, mehrentheils mit schönen Erkern, deren viele verguldete Verzierungen hatten, und zum Theil oben mit Gallerien und Statüen, aber auch von unten bis oben mit Bildhauer Arbeit ausgezieret waren... Das artige Sächsische Frauenzimmer, die Leipziger galanten Herren, mit allerlei andern Ausländern, Ungarn, Siebenbürgern, Jüden, Türken, Griechen, Araber, Armenier, Chineser, Persianer, Mohren, Rußen, Holländer, Engelländer p. p. in ihren unterschiedenen, seltenen Kleidern... Die Häuser haben häufig zu beiden Seiten der Thüre Gewölber, worin die Waaren, so zum Verkauf, anzutreffen sind, hinten einen Hof, der gleichfalls bebauet, woselbst unten herum kleine Cammern sind für die, so von frembden Orten in der Meße einkaufen...“85
Als die Messestadt im Jahr 1701 mit einer Straßenbeleuchtung ausgestattet wurde, konnten die stolzen Leipziger ihre Stadt schon mal mit der mondänen Seine-Metropole vergleichen, Leipzig erwarb sich den Spitznamen „Kleines Paris“. Leipzig war eine Messestadt, die ein bunt gemischtes europäisches Publikum anzog. Man konnte auf den Straßen malerische, auffallende Trachten sehen und ein internationales Sprachengewirr hören. Die Umwallung der Stadt war Anfang des Jahrhunderts niedergelegt und mit Linden bepflanzt worden. Hier wurde promeniert, hier ließ man sich sehen. Man zeigte sich galant, und auch die Studenten, die anderswo gewöhnlich durch rüpelhaftes Benehmen auffielen, wandelten, sofern sie es sich leisten konnten, in Schuhen und Seidenstrümpfen, mit gepudertem Haar, den Hut unterm Arm, den zierlichen Degen an der Seite. Johann Christian Müllers autobiographische Erinnerungen, der zur gleichen Zeit wie Grimm in Leipzig studierte, vermitteln uns ein plastisches Bild der Lebenswelt eines Studenten um 1743.86 In den mitteldeutschen Universitätsstädten Halle, Jena und Leipzig ließen sich im 18. Jahrhundert vereinfacht ausgedrückt drei Sozialtypen von Studenten ausmachen: „eine stutzerhafte Oberschicht aus Adligen und reichen Bürgersöhnen, eine diesen nacheifernde Mittelschicht und die Klasse der Armen.“87 Leipzig galt im Vergleich zu anderen Studienorten in Deutschland als teures Pflaster. Konnte man in Jena noch mit dreißig oder vierzig Talern hinlänglich gut auskommen, war in Leipzig das Doppelte oder Dreifache erforderlich.88 Von den Studenten profitierten aber nicht nur Zimmervermieter, sondern auch Schneider, Schuster, Perückenmacher, Gastwirte, Pferdevermieter, Händler und nicht zuletzt auch die Prostituierten. Gehörte Grimm schon zu den jungen Stutzern, die sich mit Eleganz und gesellschaftlichem Schliff auf die Leipziger Schaubühne an der Pleiße wagen konnten? Das ist schwer vorstellbar, er wird dem Äußeren nach eher bescheiden aufgetreten sein und allenfalls im Kreise der Kommilitonen das große Wort geführt haben. Andererseits konnte er sich wohl der eleganten Gesellschaft auch nicht ganz entziehen. Grimm traf in Leipzig wieder seinen Freund Gottlob Ludwig von Schönberg, und der wird es an Eleganz nicht hat fehlen lassen. Der schon genannte Müller, Sohn eines Handwerkers, ging ordentlich gekleidet „entweder in einen Aschgrauen, oder dunkelrothen mit Schleifen besetzten, oder auch in einen gantz dunckel schwarz braunen Kleide mit hellblauer Seide gefüttert, eine Leipziger Haarbeutel Perruque, lang nach den Schultern frisiert, einen ziemlichen Topée von schwarzen Haaren aber gepudert...“.89 So können wir uns auch Melchior Grimm vorstellen.
Gemessen am jungen Goethe, der 20 Jahre später sein Studium in Leipzig aufnahm und wohl der bekannteste Student des 18. Jahrhunderts war, fehlte es Grimm, dem Sohn eines Pfarrers aus Regensburg, vermutlich an Gelegenheiten zu mondänen Auftritten und er wird auch nicht über die Mittel verfügt haben, die dem jungen Goethe ein so auskömmliches Studentenleben gestatteten. Mit wem, außer den Professoren, verkehrte Grimm in seiner Studentenzeit? Der Umgang der Studenten untereinander ist um 1742 noch stark durch die landsmannschaftliche Zugehörigkeit geprägt. Gehörten zu seinen Kommilitonen auch junge Männer aus der Freien Reichsstadt Regensburg oder dem Bayerischen Kreis? Johann Wolfgang Goethe sah die Typologie der mitteldeutschen Studenten, wie sie in einem bekannten Stammbuchvers dieser Zeit zum Ausdruck kam, bestätigt: „In Leipzig sucht der Bursch die Mädgen zu betrügen, / In Halle muckert er und seuffzet ach und weh, / In Jena will er stets vor blanker Klinge liegen, / Der Wittenberger bringt ein à bonne amitié.“90 Diese Kennzeichnung der mitteldeutschen Studenten war landläufig: Der Jenenser galt als Raufbold, der Wittenberger als Saufbold, der Leipziger als galanter Schürzenjäger, der Hallenser als frömmelnder Weltverächter.Als „Neuling“ musste sich Grimm in Leipzig nach erfolgreicher Zimmersuche bei seinen Professoren persönlich vorstellen, eine Zeremonie, die man sich an den heutigen Massenuniversitäten kaum noch vorstellen kann. Was schreibt der bürgerliche Student Müller über seine Antrittsbesuche? „Hirauf besuchte ich verschiedene derer Herren Professorum und Doctorum, wählte meine Collegia...bei dem... Herrn Archidiacon Lechla; in Hermeneutics..., bei dem Herrn Professor Professor Möller besuchte ich die Stunde, darin er über die alte Aristotelische Philosophie lase, und bei dem großen Gottsched hörte ich über seine Teutsche Rede Kunst lesen.“91
Leipzig, Teil des gewerbereichen, lutherischen Kurfürstentums Sachsen, besaß ein „breites Spektrum an aufklärerisch-kulturellen Aktivitäten und Entfaltungen, das in seiner Universität in keinem anderen Zentrum der Frühaufklärung zu finden ist.“92 Als Untertan des sächsischen Kurfürsten war man stolz auf den selbst erarbeiteten Ruf als Stätte des Handels, der Künste und der Wissenschaften, der sich den Leistungen der Großkaufleute und der Gelehrten verdankte. Gelehrte und bürgerliche Oberschicht prägten die Kultur der Stadt. Als Grimm in Leipzig sein Studium antrat, versah noch Johann Sebastian Bach als Thomaskantor und „Director musices“ seinen Dienst. Gellert las bereits als Student der Theologie aus seinen Fabeln und die Universität konnte bereits auf eine über dreihundertjährige Geschichte zurückblicken. Mit 44 ordentlichen und außerordentlichen Professuren, von denen 17 auf die Philosophische Fakultät entfielen, war Leipzig um 1750 die personell am besten ausgestattete deutsche Universität.93
Johann August Ernesti: Ist Grimm eingeschüchtert von den großen Männern, die in seinen Studienfächern den Ton angaben? Mit Gottsched stand er ja schon auf vertrautem Fuße, die andere Koryphäe am Ort war Johann August Ernesti (1707-1781), Professor für Alte Literatur. 1742 wurde er mit der Dissertation Vindiciae arbitri in religione constituenda zum Doktor der Theologie promoviert, 1759 wurde er ordentlicher Professor an der zugehörigen Fakultät. Ernesti arbeitete mit Siegmund Jacob Baumgarten von der Universität Halle zusammen, um die geltenden theologischen Dogmatiken von ihren scholastischen und mystischen Wucherungen zu befreien, und bereitete so den Weg für die Reform der Theologie vor. Wie man in den „Nützlichen Nachrichten“ nachlesen kann, hat Ernesti seine Tätigkeit nicht im engen akademischen Rahmen gehalten. Wie Gottsched, der sich ganz unakademisch mit Schauspielern abgab, um über die Bühne in die Breite zu wirken, hat dieser rührige Mann sein Amt im Sinne der lateinischen Bedeutung des Wortes Professor betrachtet: etwas laut bekennen oder verkünden. Ernesti ist in Deutschland vor allem wegen seines Einflusses auf die Textkritik bekannt geworden. Aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse trug er den Titel „Germanorum Cicero“. In Ernestis Werk findet man allgemeine Interpretationsprinzipien, die ohne Zuhilfenahme jeglicher Philosophie entwickelt wurden, aber aus Beobachtungen und Regeln bestehen, die, obwohl von weltlichen Autoren bereits früher beschrieben und eingesetzt, niemals streng auf die biblische Exegese angewandt wurden. Konsequent kritisierte er die Meinung derjenigen, die in der Veranschaulichung der Heiligen Schrift alles auf die Eingebung des heiligen Geistes zurückführten, ebenso wie die derjenigen, die alles sprachliche Wissen missachten und jedes Wort durch Dinge erklären wollen. Grimm dürfte von Ernestis Übungen zu Ciceros „De officiis“ beeindruckt gewesen sein.94 Hier wurde in literarischer Form das Problem der Beziehungen zwischen Cicero und Cäsar ins Auge gefasst, um die praktische Moral des cicceronischen Republikanertums in ihrer Bedeutung für die bürgerliche Aufklärung herauszustellen. Wir wissen, dass Grimm später in seiner Bibliothek auch Ernestis Kommentare zum Neuen Testament neben den Kommentaren der Klassiker stehen hatte.95
Johann Jacob Mascov: Der zweite im Bunde von Grimms Lehrern war der königlich polnische und kurfürstlich sächsische Professor Dr. jur. Johann Jacob Mascov (1689-1761), er war Jurist, Historiker und Ratsherr in Leipzig. Heute erinnert im Leipziger Stadtteil Crottendorf die Mascovstraße an den Gelehrten. Melchior Grimm wird über seinen Bruder Johann Ludwig Grimm, der 1732 sein Studium der Rechtswissenschaften in Leipzig aufgenommen hatte, schon einiges Gute über Mascov gehört haben. Bei Mascov muss Grimm auf seine Kosten gekommen sein, denn Mascov war nicht bloß ein geschäftskundiger, erfahrener kursächsischer Beamter und feingebildeter Jurist, er war auch, wie vielfach gerühmt wurde, ein vorzüglicher Lehrer, welcher durch seinen lebendigen Vortrag seine Hörer mitzureißen wusste und stets seinen Schülern hilfreich zur Seite stand. Zu ihm strömten von überallher wissbegierige Jünglinge um seine Vorträge zu hören und wenn möglich jenen Unterhaltungen beizuwohnen, welche an bestimmten Tagen im Mascov’schen Hause stattfanden. An solchen Tagen waren die Privaträume des Gelehrten überfüllt wie sein Hörsaal, da sich unter seinen Hörern nicht nur Studierende einfanden. In der Mitte seiner Jünger stand Mascov, der durch sein heiteres Wesen jede Befangenheit, jeden steifen Ton zu bannen wusste. Mascov’s Biograph und Amtsgenosse Professor Ernesti wusste zu berichten, dass kein Schüler den gefeierten Lehrer verließ, ohne sich unterrichteter oder für die Wissenschaft gehobener zu fühlen.96 Auch Bruder Johann Ludwig hatte das Glück gehabt, in den Häusern seiner Lehrer Zutritt zu finden und Mascov wird den jüngeren Melchior ebenfalls gerne bei sich aufgenommen haben.Mascov gehört zu den großen Geschichtsschreibern des deutschen Volkes, seinen Ruhm begründen zwei stattliche Quartbände mit den Titeln „Geschichte der Teutschen bis zu Anfang der fränkischen Monarchie“ und „Geschichte der Teutschen bis auf den Abgang der Merowingischen Könige“. Mascov führte seine Studenten in die hohe Kunst der Quellenbehandlung ein. Er erzählt in fließender Sprache, vermag Wahres von Unwahrem, Bestimmtes von Unbestimmtem zu scheiden, zieht Denkmäler, Münzen, Inschriften und Dichter zu Rate und hütet sich dort, wo nur wenig zu finden ist, etwas hinzuzudichten. Pädagogisch wird sein Bemühen, wenn er die Hauptpersonen akzentuierter herausbildet, sobald die Geschichten weitläufig und umständlich werden. Von den Literaturhistorikern des 18. Jahrhunderts wurde die „Geschichte der Teutschen“ einhellig gelobt und war bald europaweit in den Bibliotheken zu finden, es erschienen Ausgaben auf französisch, englisch italienisch und holländisch. Grimm studierte bei Mascov Jura und hörte Geschichte. Als Johann August Ernesti 1761 in Erinnerung an seinen Amtskollegen dessen Verdienste zusammenfasste, vergaß er nicht zu betonen, welche Rolle damals der historischen Wissenschaft zukam. Mascov wandte sich dem Studium des Staats- und Privatrechts zu „welches damals wie heute dem Talent und der Geschicklichkeit die große Laufbahn eröffnete. Das deutsche Staatsrecht war längst eine historische Disziplin, ehe man im gemeinen Zivilrecht von historischer Schule sprach. Deutsche Geschichte trieb eben als vornehmste Hilfswissenschaft, wer das Staatsrecht ergriff. Auf diesem beruhte Mascovs äußere Laufbahn; sein Talent und seine Neigung bleiben ganz und gar bei der Geschichte.“97
Bei Mascov erwarb Melchior Grimm Jahre nach seinem Abgang von der Universität mit einer etwas langatmigen, rechtshistorischen Dissertation in lateinischer Sprache noch einen akademischen Grad. Der Titel der Arbeit lautete: De historia imperatoris Maximiliani I amplississimi juris Germanorum publiei fonte disputationcula ... Sie war dem Jugendfreund Gottlieb Ludwig Graf von Schönberg gewidmet.
Johann Christoph Gottsched: Grimms Stern in Leipzig aber war Johann Christoph Gottsched, an ihn sollte er sich auch noch nach seinem Weggang von Leipzig über Jahre, auch von Paris aus, halten. Ihm und der Gottschedin fühlte er sich seit Schülertagen verbunden und er wird in Gottsched eine Vaterfigur gesehen haben. Gottscheds Wirken im Allgemeinen und auf Grimm im Besonderen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als Gottsched 1724/25 seine akademische Laufbahn in Leipzig begann, boten die deutschen Verhältnisse in Literatur- und Theaterwesen ein eher trostloses Bild. Als Gottsched 1766 starb, hinterließ er ein Werk, das ihm einen bedeutenden Platz in der deutschen Kulturgeschichte einräumt.Seine Wirkung auf Melchior Grimm wird in dessen Lebenswerk an verschiedenen Stellen seiner Biografie in frappierenden Spiegelungen deutlich. Nennen wir einige Beispiele: Grimms Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte ist zweifellos seine Correspondance littéraire et critique, Gottscheds Mitwirken an der Grundlegung eines deutschsprachigen Journalismus durch die Förderung mehrerer Zeitschriftenunternehmen ist ebenso von außerordentlicher Wichtigkeit für die Verbreitung aufklärerischen Ideenguts. Grimm gehörte zum Kreis der Enzyklopädisten um Diderot und war zuständig für den Bereich der Musikkritik – Gottsched machte durch seine Übertragung des Bayleschen „Dictionnaire historique et critique“ jenes enzyklopädische Werk in Deutschland breitenwirksam, das die Ideen des französischen Aufklärers in Deutschland popularisieren half. Allerdings, und da gingen Gottsched, wie später auch Grimm, die materialistischen Auffassungen Bayles doch zu weit und er musste vorsichtig den kritischen Gehalt des Wörterbuchs durch eine Fülle von eigenen Anmerkungen entschärfen. Auch Grimm mochte später den materialistischen Standpunkt seines Freundes Helvetius’ nicht teilen. Immerhin aber verschaffte Gottsched dem deutschen Lesepublikum den Zugang zu Helvetius’ „De l’esprit“, indem er die deutsche Übersetzung von 1760 durch eine „warnende Vorrede“ vor Angriffen absicherte.
Gottsched begann seine akademische Laufbahn 1723 mit Vorlesungen zur Rede- und Dichtkunst. Denken wir an Grimms Abschiedsrede auf dem Gymnasium poeticum zurück, sie trug den Titel Das Wachstum der deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit in diesem Jahrhundert. Zu Grimms Lesevergnügen in Regensburg gehörten die „Vernünftigen Tadlerinnen“ und der „Biedermann“. Gottsched hatte 1725 in Anlehnung an die englischen Vorbilder Addison (1672-1719) und Steeles (1672-1729) die Zeitschrift die „vernünftigen Tadlerinnen“ gegründet. In dieser Zeitschrift wurde alles getadelt, was der bewusste Bürger als moralisch ungesund oder artfremd verwerfen konnte: mangelndes Nationalbewusstsein, Sprachschluderei, Modetorheit, Unnatürlichkeit und Nachlässigkeit im gesellschaftlichen Umgang, schlechte Erziehung... Dieser oft satirisch gefärbten Kritik wurde dann das Beispiel aufgeklärten Verhaltens entgegengesetzt. Die Zeitschrift musste allerdings nach zweijährigem Erscheinen auf Betreiben der sächsischen Zensurbehörden eingestellt werden, da man in einzelnen Stücken der Zeitschrift Angriffe auf lebende Personen vermutete. Den „Vernünftigen Tadlerinnen“ schickte Gottsched den „Biedermann“ (1728/29) nach. Auch er war – wie alle nachfolgenden Periodika – für Gelehrte und Ungelehrte verfasst und vom optimistischen Ethos getragen, dass Vernunft und Tugend unter den Menschen keine Seltenheit seien.
Seine journalistische Tätigkeit führte Gottsched bis 1762 in seinen Monatsschriften „Der Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste“ und „Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamtkeit“ fort. Für den wissenschaftlichen Fortschritt waren diese Zeitschriften von großer Wichtigkeit, denn sie machten ihre Leserschaft mit den Aufklärungsbestrebungen in ganz Europa bekannt.98 Die Zeitschriften verfolgen alle den Zweck in besonnener und nüchterner Anschaulichkeit ihren Lesern ohne alle unnütze „Schönseligkeit“ und „Empfindelei“ eine klare Verständigkeit und einfache Lebenstüchtigkeit zu vermitteln. Dabei schoss man bisweilen weit über das Ziel hinaus und landete bei der allerspießbürgerlichsten Nützlichkeitslehre.
Mit seinen moralischen Wochenschriften, seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, seinen und der Gottschedin dramatischen Mustern99 sowie seinem Versuch einer Literatur und Bühnenkunst vereinenden Theaterreform wird Gottsched zum Richtungsgeber für die deutsche Literatur. Er arbeitet die erzieherische Funktion der Kunst heraus und bemüht sich, der deutschen Dichtung zur nationalen Repräsentanz zu verhelfen. Mit seiner Orientierung am französischen Klassizismus und seinem starren Regelkodex stand er am Ende aber der Entwicklung einer bürgerlichen Literatur im Wege.
Gottscheds Handbücher zur Grundlegung einzelner Wissenschaftszweige wurden nachweislich an vielen deutschen Universitäten benutzt. Dazu gehörten sein „Versuch einer Critischen Dichtkunst“, seine „Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit“ und seine „Ausführliche Redekunst“ und „Deutsche Sprachkunst“. Seine pädagogischen Bestrebungen veranlassten ihn sogar Schulbücher zu schreiben. 1747 verfasste er sein „Vorübungen der Beredsamkeit zum Gebrauche der Gymnasien und Schulen“. Als seine Hauptarbeit bezeichnete er selbst seine „Deutsche Sprachkunst“, ein systematisches Lehrbuch der deutschen Grammatik, für das er bis zur ersten Auflage 1748 mehr als 24 Jahre gearbeitet hatte und das im Gegensatz zu seinen Vorläufern „nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhunderts abgefaßt“ war. Damit legte Gottsched einen wesentlichen Baustein zu einer muttersprachlichen Grammatik, die sich weitgehend an der Gegenwartssprache ausrichtete und die helfen konnte, eine einheitliche deutsche Schriftsprache über die vielen Mundartgrenzen hinweg durchzusetzen.
Die „Critische Dichtkunst“ rief aber auch zum Widerspruch auf. Besonders das Drama „Der sterbende Cato“, das nach den Regeln der aufklärerischen Poetik geschrieben worden war, wurde zur Zielscheibe für Spott und Kritik seiner Gegner unter denen sich besonders die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger hervortaten. Grimm ist hier seinem Meister mit der Satire „Lobs- und Lebenslauf Bodmers und Breitingers“ zur Seite gesprungen. Dabei benutzte er das Pseudonym Vitus Blauröckel, das er ein Jahr später zusammen mit der Gottschedin noch einmal für eine weitere Satire mit dem Titel „Volleingeschancktes Tintenfäßl eines allzeit bereiten Brieff-Secretary“ gegen die Schweizer nutzte.100
Die Zusammenarbeit mit Gottscheds Frau ist ein Hinweis auf die Vertrautheit, mit der Grimm im Hause Gottsched in Leipzig verkehrte und Grimm zeigte sich dankbar. Er war in Gottscheds und der Gottschedin Haus stets ein willkommener Gast und Mitstreiter gewesen und deshalb vergisst Grimm nicht bei allen passenden Gelegenheiten seinem Gönner und Förderer zu danken. Im Brief vom 16. Juli 1744 erinnert Grimm an die gute Aufnahme bei seinem verehrten Meister: „Eure Hochedelgebohrne Magnificenc haben mich nicht nur ehemals weit gütiger, als ich jemals hoffen konnte, aufgenommen; sondern auch seit dem Anfange meiner akademischen Jahre mit fast unzähligen Proben von Dero Gewogenheit überschüttet, so daß ich in Denenselben nicht nur einen hochgeneigten Gönner und Beförderer meiner Bemühungen, sondern auch einen gütigen Wohlthäter verehren kann.“101
Es soll in diesem Zusammenhang nicht weiter auf die Literaturfehde mit den Schweizern Bodmer und Breitinger eingegangen werden und auch Lessings Kritik an Gottscheds Poetiktheorie wollen wir weitgehend beiseite lassen. Ein Aspekt der kritischen Auseinandersetzung mit Gottsched soll aber doch hervorgehoben werden, weil er wichtig für die Entwicklung des Theaterwesens werden sollte. Es war ein Vorteil für die deutsche Literatur, wenn Gottsched die Dichter aufforderte, die Naturnachahmung zum Grundprinzip der Dichtung zu erheben. Damit lenkte er die Dichter auf die genaue Beobachtung und Gestaltung der Wirklichkeit. Es erwies sich aber als Nachteil, wenn er – befangen in Leibnitz’ und Wolffs Lehren102 – diese Wirklichkeit nicht auch gesellschaftlich sah. Er konnte darum nicht zu jener Stufe des Realismus vordringen, die Lessing dadurch erreichte, dass er in seinen literaturtheoretischen Überlegungen seine Erkenntnisse von der Kausalität in Natur und Gesellschaft anwandte.
Gottsched hatte zwischen 1730 und 1750 eine literarische Geschmacksherrschaft errichtet und war bestrebt gewesen, die Literatur durch Angleichung an das französische Vorbild stubenrein zu machen. „Er wollte die Literatur auf gehobene Nachahmung, sittliche Nützlichkeit und Wahrscheinlichkeit verpflichten.“103 Als Goethe im Herbst 1765 sein Studium in Leipzig aufnahm, war Gottsched schon nicht mehr in Mode, von den großen Männern, die jetzt den Ton angaben, war Lessing der bedeutendste. Eine andere Koryphäe war Gellert, der damals zu den am meisten gelesenen Autoren gehörte, aber auch seine Autorität war bereits im Abnehmen begriffen. Das galt noch mehr für Gottsched, er passte für Goethe einfach nicht mehr in die Zeit. Eine Begegnung mit ihm schildert er in „Dichtung und Wahrheit“ als Lustspielszene. Goethe wird ins Audienzzimmer gebeten. In dem Augenblick betritt Gottsched kahlen Hauptes im Schlafmantel den Raum. Der Bediente springt durch eine Nebentür herein und reicht ihm eilends die mächtige Allongeperücke. Mit einer Hand setzt sie sich Gottsched aufs Haupt, mit der anderen ohrfeigt er den Bedienten wegen der Verspätung. Der wirbelt wieder zur Tür hinaus, „worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte.“104