Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 11

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Rauchende Köpfe

Rauch verhüllte die Decke, die hohen Holzstühle ächzten unter dem Gewicht der massigen Herren, roter Wein funkelte in bauchigen Gläsern auf dem Tisch. Hans Widmer zog genüsslich an seinem Stumpen. Der Gemeindeschreiber verlas gerade die Beschlüsse der Sitzung. Er nuschelte schwer verständlich vor sich hin und schneuzte sich von Zeit zu Zeit in ein kariertes Taschentuch: «Jakob Gugelmann, Kräzersämis, wird gebüsst, weil er zwei fremde Weibspersonen beherbergt hat. Auf ein Schreiben des Bezirksamtes betreffend nächtlicher Gelage und Branntweinexzesse ergeht der Beschluss, neben dem Wächter einen Nachtwächter zu bestellen. Die Wache hat wöchentlich während wenigstens drei Nächten in der ganzen Gemeinde zu patrouillieren. Die Familie des alt Ammann J. J. Zimmerli wird aufgelöst und die blödsinnigen Kinder verdingt. Samuel Widmer, Stöcklisami, ist wegen schlechten Betragens vor der Behörde zu zwei mal vierundzwanzig Stunden Gefangenschaft zu verurteilen.»

So ging es eine ganze Weile weiter, bis der Schreiber ermattet und mit heiserer Stimme zum Schluss kam.

«So, das war’s, meine Herren. Gibt es noch etwas Wichtiges, das wir heute behandeln müssen?» Der Gemeindeammann fragte es ohne viel Elan, es war spät und höchste Zeit, dass die Sitzung zu Ende ging. Ausserdem juckte ihn der enge Kragen.

Bauer Widmer meldete sich zu Wort, langsam, umständlich, etwas nervös an seiner Villiger saugend. «Zahlreiche Kartoffeläcker, die jedes Gemeindemitglied zugut hat, sind verwildert, und es wachsen dort mehr Brennnesseln als Kartoffeln. Ich wäre dafür, dass wir die Betreffenden büssen, indem wir die besagten Grundstücke als Gemeindeweideland zurücknehmen.» «Widmer, brauchst du mehr Weide für dein Vieh?» Spott schwang in der Stimme des Holzhändlers Fabian. Seine massige Gestalt schälte sich aus dem Stumpenrauch, als er sich vorbeugte. «Du weisst doch ganz genau, dass die Kartoffeln für die meisten Familien lebensnotwendig sind, weil sie sonst hungern würden.» Widmer ereiferte sich. Verstand ihn denn niemand? Zuerst widersprach ihm seine Frau, und jetzt dieser Fabian. «Ich habe nichts gegen diejenigen, die zu ihren Äckern schauen, aber wir haben im Dorf viele Tunichtgute, die lieber im Wirtshaus hocken oder zuhause heimlich Schnaps brennen, als ihre Äcker zu bestellen. Dem müssen wir einen Riegel schieben. Schaut doch einmal, wie viele blöde Kinder wir in der Gemeinde haben, die wir unterstützen müssen. Das kommt von diesem Teufelszeug! Den Grossteil unserer Gemeindeeinnahmen verwenden wir für Lebensmittel und Kleidung für die Armen, derweil ihre Äcker brach liegen. Das kann doch nicht so weitergehen!» Polternd liess er seine Faust auf den Tisch fallen und lehnte sich selbstzufrieden zurück. Damit sollte das Thema vom Tisch sein, dachte er.

Aber Gemeinderat Fabian hakte nach. «Das Problem ist, Widmer, dass die meisten von ihnen mit der Handweberei nicht mehr genug Geld verdienen, seit es die automatischen Webstühle gibt. Schau doch mal bei deinem Nachbarn in den Keller, der sitzt in diesem dunklen, feuchten Loch und weiss ganz genau, dass das, was rauskommt, nicht zum Leben reicht – unter solchen Umständen würdest auch du zu saufen beginnen. In den Spinnereien ist es nicht besser, dort müssen sie ebenfalls für einen Hungerlohn schuften. Ich sage es ungern in diesem Kreis, aber die Zustände in unserer Gemeinde, meine lieben Kollegen Gemeinderäte, sind eine Schande.»

Es wurde still. Verstohlene Blicke wurden ausgetauscht, der Gemeindeammann hüstelte nervös. Gerold Fabian war bekannt für seine ungewöhnlichen Ansichten, man wusste, dass er sogar Bücher las. Unangenehm war das, denn was er sagte, entsprach der Wahrheit. Und es verlangte nach Taten. Zudem musste man den Mann ernst nehmen, sein Holzhandel war lukrativ und brachte Geld in die Gemeindekasse.

Widmer bekam einen roten Kopf, der Schreiber einen Hustenanfall. Immer dieser Besserwisser! Der Bauer versuchte es auf die sanfte Tour. «Das ist ja gut und recht, ­Fabian, aber deswegen verwildern die Äcker trotzdem. Ich bin für Massnahmen!» Fabian lachte hell auf. «Solche Massnahmen wie diejenige, als die Gemeinde die untragbarsten Elemente nach Amerika zwangsverschickt hatte? An die hundertfünfzig waren es. Am Schürberg siehst du noch immer die kahle Stelle vom Holzschlag, den die Gemeinde durchführen musste, um die Reisekosten zu bezahlen! Und jetzt, schicken wir wieder ei­ne Schiffs­ladung hinüber? Mittlerweile haben die Amerikaner leider gemerkt, welche Geschenke wir ihnen machen und weigern sich, weiterhin solche Menschen aufzunehmen. Widmer, ich sage dir, sie haben recht: Wir können unsere Probleme nicht einfach auf die anderen abwälzen!» Jetzt hatte sich Fabian in Fahrt geredet, denn dies war eines seiner Lieblingsthemen. Er las täglich das «Aargauer Tagblatt» sowie zusätzlich die «Neue Zürcher Zeitung» und war auf dem Laufen­den.

Der Gemeindeammann griff schlichtend ein. «Meine Her­ren, beruhigen Sie sich bitte!» Schweissperlen rannen über seine Stirn. «Wir werden schon eine Lösung für dieses Problem finden.» Er stöhnte, denn das Ende der Versammlung war in weite Ferne gerückt.

Da meldete sich Hansheinrich Müller, wie Hans Widmer besass er ein grosses Bauerngut. Müller war ein kleiner, ­schmaler Mann, dessen sechs Söhne ihn um Haupteslänge überragten. Er trug meist ein fremdländisch anmutendes Beret, das er sich drüben bei den Franzosen geholt hatte. Seine hellblauen Augen schauten verschmitzt in die Welt. «Ich muss Widmer Recht geben, es nützt niemandem etwas, wenn gutes Ackerland verwildert. Am allerwenigsten den Armen. Aber Fabian hat auch recht, wir müssen etwas gegen dieses Elend unternehmen, in dem so viele Einwohner von Brittnau stecken. Vor allem dieser Schnaps, den sie selber brennen und den sie sogar ihren kleinen Kindern geben, ist ein Übel. Der Schnaps führt auf direktem Weg zur Verblödung. Deshalb schlage ich vor, dass wir Bürger, die ihr Ackerland nicht bewirtschaften, verwarnen. Wenn sie im Jahr darauf ihr Land immer noch nicht nutzen, wird es ihnen weggenommen und verpachtet. Mit dem Pachtzins kaufen wir Lebensmittel, die wir an die Bedürftigsten abgeben.» Müller hatte sachlich gesprochen, wohlüberlegt seine Gedanken, abgewogen die Worte. Jetzt sah er erwartungsvoll in die Runde.

Da und dort war ein Nicken zu erkennen oder zustimmendes Gemurmel. Bauer Widmer war noch damit beschäftigt, das Gehörte zu verarbeiten, man sah ihm an, wie es in seinem Kopf mahlte. Fabian hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, das Gesicht halb abgewandt im Schatten. Da spielte Müller seine beste Karte aus: «Ausserdem schlage ich vor, dass wir auf Gemeindekosten Wein kaufen», sagte er und hob das Glas, «es muss nicht gerade ein edler Tropfen sein.» Er schaltete eine Kunstpause ein, trank genüsslich einen Schluck, bevor er fortfuhr. «Diesen Wein geben wir in den Wirtshäusern billig ab.»

Schlagartig verstummte die Runde. Dann redeten alle durcheinander, einige der gesetzten Herren hatten sich erregt erhoben. «Dieser Müller kann nicht recht im Kopf sein! Wein billig abzugeben, wo doch viele Einwohner von Brittnau dem Alkohol verfallen sind! Verstehe einer diesen Unsinn!», krähten die einen. Andere erkannten das Bestechende der Idee.

Die Sitzungsordnung drohte zu zerfallen. Der Gemeindeammann entriss dem Schreiber zu seiner Rechten das Protokollbuch und hieb damit auf den Tisch, dass die Gläser Luftsprünge machten. «Ruhe, Ruhe, verdammt noch mal! So geht es nicht! Gemeindeschreiber, notieren Sie Müllers Vorschläge und setzen Sie sie auf die Traktandenliste für die nächste Sitzung. Das gibt uns allen Zeit, darüber nachzudenken. Die Sitzung ist beendet.»

Seufzend fuhr er mit seinem Finger unter den engen Hemdkragen. Der Finger war klitschnass. Der Wirt kam herein, riss die Fenster auf, stürmischer Wind bauschte die Vorhänge, Regen klatschte an die Hausmauer.

Die Gemeinderäte waren nicht die einzigen, die spät dran waren. Aus der Wirtsstube nebenan torkelten ein paar Gestalten die Treppe hinab, auf die Strasse, wo Wind und Wetter sie verschluckten. Diese Nacht würde der Nachtwächter allzu lange Gänge unterlassen.

Emma

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