Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 9
ОглавлениеSchule
«Zapple nicht so, Emma, ich kann dir die Zöpfe nicht ordentlich binden!» «Beeile dich, Stephan wartet nicht auf mich!» «Stephan ist noch nicht fertig, er wäscht sich draussen am Brunnen.» Rosina zog den Kamm durch das widerspenstige Haar ihrer Tochter. Emma wurde ruhiger.
Heute war es soweit, sie durfte in die Schule gehen. In die Schule, in der ihre Geschwister lesen und rechnen gelernt hatten. In das Haus voller Wissen, in dem es Bücher gab, in dem der Lehrer von fremden Welten erzählte. Geschafft! Emmas Haare waren gebändigt und fielen ihr in ordentlichen Zöpfen über den Rücken hinab. Der blaue Kittel über dem grauen, wollenen Rock war frisch gewaschen und wies nur eine winzige Flickstelle auf. Emma war glücklich. Ihre jüngeren Geschwister Otto und Hulda sassen auf der Küchenbank und machten lange Gesichter.
Eine langweilige Zeit würde für sie beginnen. Emma hatte ihnen Geschichten erzählt und sie aufgeheitert, wenn sie traurig waren oder der Hunger in ihren Mägen rumorte. Mit Emma war der krumme Apfelbaum draussen im Garten zum Schloss geworden, auf dem Hunderte von Apflingen wohnten und ein reges Leben führten. Apflinge waren winzige, wunderschöne Wesen mit durchsichtigen, schillernden Flügeln, welche, unsichtbar für die Erwachsenen, die Welt bevölkerten. Am Abend, wenn sie alle im Bett lagen und Emma ihnen neue Geschichten von den Apflingen erzählt hatte, konnten sie die Wesen in den Bäumen neben dem Haus wispern hören. Sogar Stephan und Rosa, die beiden älteren Geschwister, waren verstummt, wenn Emma Geschichten spann. Und was war mit Mina, der einjährigen Mina, die am gleichen Tag wie Emma Geburtstag hatte – wer würde sie jetzt aus der Wiege nehmen, wenn sie weinte?
Emma wechselte einen Blick mit Hulda und Otto, die verloren auf der Küchenbank sassen, und versuchte sie zu trösten. «Die Schule dauert nicht lange, mittags bin ich wieder zu Hause!»
Unvermittelt wurde die Küchentüre aufgerissen, ein Schwall kalter Luft, durchsetzt mit dem Geruch des Misthaufens vom Hof, quoll in die Küche. «Emma, komm jetzt! Ich will nicht zu spät sein.» Der zehnjährige Stephan stand ungeduldig in der Tür, das Gesicht und die Hände rot vom kalten Wasser des Brunnens. Die Mutter strich Emma übers Haar: «So, jetzt kannst du gehen!»
Es war nicht weit zum kleinen Schulhaus. Blühender Flieder säumte den Weg, die Strasse war schlammig vom Regen der vergangenen Nacht. Stephan und Emma umrundeten die ärgsten Pfützen, bemühten sich redlich, sich nicht gleich am ersten Schultag mit Dreck vollzuspritzen.
Die Schulhausglocke ertönte mit hellem Klang, die Türe mit den schweren Beschlägen öffnete sich, der Lehrer rief die Kinder herein. Emma kannte ihn vom Sehen, den schlanken, wendigen Mann, dessen Haarpracht zu einem schütteren, graublonden Kranz geschrumpft war. Sein Leuchten kam ihr angenehm vor. Mit ruhiger Stimme begrüsste Lehrer Kuhn die murmelnde Kinderschar und wies jedem seinen Platz im muffig riechenden Schulzimmer zu, die Erstklässler in die vorderste Reihe. Emma kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, ganz entrückt stand sie da, die Stimme des Lehrers, der sie zum Sitzen aufforderte, drang nur schwach an ihr Ohr. Da waren sie, all die magischen Gegenstände, von denen die älteren Kinder erzählt hatten: die grosse, schwarze Tafel an der Wand und auf dem Tisch des Lehrers eine grosse, blaue Kugel. Das war also ein Globus; darauf sollte man die ganze Welt sehen können! Wie war dies möglich?
Hinter dem Tisch hing das Bild eines Mannes an der Wand, der steif wie ein Stock vor einem Haus stand und streng ins Schulzimmer hinab sah, als wollte er jedes einzelne Kind persönlich an den Ernst des Lebens erinnern. Zugleich strahlte sein Gesicht eine seltsame Sehnsucht aus, die von weither kam, wie der rote Sand, den der Südwind mit sich brachte. Der Mann kam Emma vertraut vor. Wer war er? Emma stutzte: Der Mann auf dem Bild drehte den Kopf und blinzelte ihr zu. Sie schrak auf, eine Glocke ertönte. Herr Kuhn hielt sie in der Hand. «Setzt euch jetzt! Keiner springt oder steht herum!» Hastig schlüpfte Emma in die Schulbank. Die erste Schulstunde hatte begonnen.
Die Mittagsglocke ertönte, Stühlerücken, die Kinder stürmten zur Tür hinaus, in die warme Sonne. Der Lehrer sammelte seine Bücher auf dem Pult ein. In der vordersten Reihe war ein kleines Mädchen sitzen geblieben. Kuhn schaute auf, seine Augen folgten den versonnenen des Mädchens auf das Bild hinter ihm. «Emma?», fragte er, «Emma Kunz?» Das Mädchen zuckte zusammen, kam von weit her zurück. «Weisst du, wer das ist?», fragte Kuhn. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ein fragender Blick aus grossen braunen Augen ruhte auf ihm. «Das ist dein Grossvater, Stephan Kunz. Er war hier Lehrer, so wie ich. Und er war bekannt für seine Gedichte. Hat dein Vater nie von ihm erzählt?» Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf, eine widerspenstige Locke hatte sich aus einem der Zöpfe gelöst und hing ihr ins Gesicht.
«Emma, Emma, wo bist du?» Emmas Bruder Stephan schaute zur Tür herein. Zögernd stand Emma auf, warf noch einmal einen Blick auf das Bild des Grossvaters: «Lesen Sie mir ein Gedicht von ihm vor?» Ihre Worte klangen leise, aber bestimmt, mehr Aufforderung als Frage. Gerührt schaute der Lehrer auf die kleine schmale Gestalt vor sich, in deren Gesicht die braunen Augen wie tiefe Brunnen wirkten. Er legte eine Hand auf Emmas magere Schulter. «Ja, das werde ich, Emma!» Stephan packte Emma an der Hand, das Verhalten seiner kleinen Schwester war ihm peinlich. «Komm jetzt, Emma. Wir müssen heim!» Er zog sie mit sich fort.
Verträumt trottete Emma neben Stephan her, der mit einem Stecken auf die Büsche am Wegrand einschlug. «Jetzt weisst du, wie das geht mit der Schule, von jetzt an kannst du alleine gehen.» Er war wütend. Bei Emma wusste man nie, was ihr einfiel oder was sie sagte. Hoffentlich hatten die anderen Buben nicht gesehen, dass er sie an der Hand aus dem Schulzimmer holen musste. Und wie sie mit dem Lehrer geredet hatte, als ob sie ein Geheimnis mit ihm teilte. «Stephan, sei nicht böse auf mich. Hast du gewusst, dass dieser Mann an der Wand unser Grossvater ist? Er hat mir sogar zugezwinkert!» «Du spinnst, da war gar kein Mann!» Emma kicherte. «Ich meine den Mann auf dem Bild an der Wand! Der Lehrer hat mir erklärt, dass sei unser Grossvater. Er sei Lehrer gewesen und habe Gedichte geschrieben.» «Von dem habe ich noch nie gehört! Bist du sicher, dass er gesagt hat, er habe Gedichte geschrieben? Hier in Brittnau schreibt niemand Gedichte. Das tun höchstens die komischen Leute in den Büchern, die nichts Besseres zu tun haben.» Stephan stiess die Küchentüre auf, alle sassen am Tisch, so, wie er befürchtet hatte. Stephan zog den Kopf ein.
«Warum kommt ihr so spät?», knurrte der Vater drohend. «Wer zu spät kommt, kriegt nichts!» Stephan schlüpfte schnell auf die Bank neben Otto und Hulda, die mit gesenkten Köpfen ihre Suppe löffelten. Die Mutter war aufgestanden und schöpfte Suppe in zwei Teller. «Ich habe gesagt, sie bekommen nichts zu essen!» «Oswald, das war der erste Schultag für Emma, da kann es etwas später werden!» Emma ging zu ihrem Vater. Zutraulich legte sie ihm die Hand auf den Arm. Sie war die einzige, die sich das traute. «Vater, stimmt es, dass unser Grossvater Lehrer war und Gedichte schrieb?» «Wer hat dir denn das erzählt?» Rosina am Herd erstarrte. «Der Lehrer, der Herr Kuhn.» «Er soll euch besser etwas beibringen statt alte Geschichten aufwärmen, die ihn nichts angehen.» «Stimmt es, Vater?» Emma blieb beharrlich. Röte überzog das Gesicht des Vaters. «Was kümmert dich das? Ja, er war Lehrer, aber er musste vorzeitig mit der Arbeit aufhören, wegen seiner Gesundheit. Dann sass er im Garten unter dem Baum und schrieb Gedichte. Wir Kinder durften mit der Mutter am Webstuhl schuften, damit wir nicht verhungerten. So einer war dein Grossvater. Dank seiner Gedichte sitze ich immer noch im Keller am Webstuhl. Jetzt iss deine Suppe. Ich will nichts mehr davon hören!» Rosina stellte rasch die vollen Teller vor Emma und Stephan auf den Tisch.