Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 12

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Nacht

Die Nächte waren schlimm. Gegen Mitternacht hörte man den Vater mit schweren Schritten die Treppe hochsteigen. Meist war er betrunken. Heute vielleicht nicht? Vielleicht ging er nur schlafen. Banges Warten, harren auf das nächste Geräusch. Emma bemerkte, dass ihre Schwester aufgewacht war. Sie vernahmen, wie der Vater ins nebenanliegende Elternschlafzimmer trampelte. Die dünnen Wände dämpften weder Schall noch Aggression. Man hörte ihn rumoren, mit den Stiefeln auf den Boden treten, derbe Flüche ausstossen.

«He Weib, auf mit dir, zieh mir die Strümpfe aus!» «Lass mich in Ruhe, ich bin müde, ich will schlafen.» «Was? Komm jetzt, aber schnell! Sonst helfe ich dir!» Die Herzen der Kinder schlugen ihnen bis zum Hals, die Ahnung kurz bevorstehender Gefahr schnürte ihnen die Kehlen zu. Starr lagen sie in ihren Betten.

Emma spürte die Angst der Mutter und der Geschwister. Die Härchen auf ihren Armen kräuselten sich. «Nicht, Emma, geh nicht, das letzte Mal hat er dich geschlagen!», flüsterte Hulda. Im Nebenraum beschimpfte der Vater die Mutter mit unflätigen Worten, und die Kinder vernahmen heftiges Keuchen, als sei drüben ein Kampf im Gange. Die Mutter verstummte.

Emma öffnete die Tür zum Schlafzimmer der Eltern. Sie tastete nach dem Arm des Mannes. «Vater, lass bitte die Mutter schlafen. Ich ziehe dir die Strümpfe aus», flüsterte sie. Der Mann drehte sich um und liess von der Frau ab. «Ein faules Weib ist sie, immer weist sie mich ab. Ich werde es ihr zeigen!» Emma betete inbrünstig: «Bitte, hilf mir, oh mein Gott.» Sie fühlte das Unglück des Vaters und dass er nur einen Anlass zum Streiten suchte. Tief in ihrem Innern empfand sie Kraft und Sicherheit. Wieder berührte sie ihn sanft an der Schulter, ihr Körper schauderte. Der Vater wurde ruhiger und liess sich von Emma auf die Bettkante helfen. Sie schnürte seine schweren, vom Strassenstaub beschmutzten Schuhe auf und zog an einem Fuss. Er drückte ihr den andern Schuh ans weisse Nachthemd und hinterliess einen Dreckfleck.

Kaum hatte sie seine Schuhe ausgezogen, fiel er hintenüber und schlief ein. Emma hievte seine Beine aufs Bett und zog die Decke über ihn. Es war noch einmal gut gegangen.

Ihre Mutter blickte dankbar auf. Müde und abgehärmt sah sie aus. Emma ging mit leisen Schritten zu ihrem Bett zurück. Der Vater schnarchte. Ihre Schwester hatte die Decke über den Kopf gezogen, und auch in den anderen Betten rührte sich niemand. Emma flüsterte: «Es ist vorbei, er schläft.» Erleichterte Seufzer waren die Antwort. Emma kniete neben ihr Bett und dankte, dass alles gut gegangen war. Dann schlüpfte sie zu ihrer Schwester unter die Decke.

Am nächsten Morgen weckte die Mutter die Kinder früh: «Seid leise, der Vater schläft noch.» Stumm zogen die Kinder ihre Kleider an und huschten zur Mutter in die Küche, wo Haferbrei in einer Pfanne kochte.

Rosina sah ihre Tochter an: «Emma, heute kannst du nicht in die Schule, wir haben Waschtag. Ich brauche dich hier.» Emma begehrte auf. Sie ging gern zur Schule. Dort war eine andere Welt als diese hier. Eine, die ihr viel mehr entsprach! Sie wollte hinaus aus der Enge dieses Kreislaufs von Angst, Verzicht und Machtlosigkeit, in die Weite, die ihrem Wesen entsprach! Dorthin, wo es kein dauerndes Jammern oder Schimpfen gab, kein «mach dies!» oder «lass jenes!» Der Lehrer war gerecht, er plagte die Kinder nicht.

Emma mochte das Rechnen und Schreiben. Und sie liebte Geschichten. In der geistigen Beschäftigung, im Rechnen genauso wie im Träumen, entrann sie der lähmenden Schwere ihrer Umgebung. Jetzt murrte sie lauthals: «Immer muss ich waschen! Kann nicht die Rosa helfen? Wir dürfen heute in der Schule einen Aufsatz schreiben!»

Die Mutter schüttelte den Kopf. «Hast du vergessen, dass Rosa ins Bernische fährt?» Jetzt fiel es Emma wieder ein. Ihre ältere Schwester war zu einem Bauern ins Emmental verdingt worden. Maria und Jakob waren auch nicht mehr da. Maria arbeitete als Dienstmagd beim Ochsenwirt und kam nur an ihren freien Tagen heim, und Jakob hatte in der Schuhfabrik in Brittnau eine Anstellung als Schuhmacher erhalten. Er hatte Glück gehabt.

So waren Emma und Stephan nun die ältesten der übriggebliebenen fünf Kunz-Kinder. Emma seufzte. Jetzt, da Rosa wegging, musste sie noch mehr im Haushalt helfen. Wo war ihr Leben? Wo ging es hin?

«Wo ist die Emma Kunz?», fragte der Lehrer in der Schule. Stephan, der ältere Bruder, duckte sich hinter den Rücken seines Vordermannes. Otto, Emmas jüngerer Bruder, wand sich. «Sie musste zu Hause bleiben und bei der Wäsche helfen.» Der Lehrer wandte sich ab, die Kinder sollten seinen Zorn nicht sehen. Es war immer das Gleiche bei diesen kinderreichen, armen Familien! Die Kinder kamen unregelmässig zur Schule, da sie zu Hause helfen mussten. Eine Sauerei.

Emma Kunz war ein sehr begabtes Mädchen! Neulich hatte der Lehrer seiner Frau einige Abschnitte aus einem ihrer Aufsätze vorgelesen. Beide hatten sich an der lichten Kraft des Textes gefreut, an der Art und Weise, wie die Schreiberin aus schwerem Stoff einen weichen, trostvollen Umhang wob. Sie glich darin ihrem Grossvater, dessen Gedichte über das Niveau eines Dorfdichters hinausragten. Lehrer Kuhn war ein Bewunderer von Stephan Kunz, der sich mit seinen Gedichten über die ärmliche Enge seines Alltags erhoben hatte, der es trotz niederer Herkunft und kränkelndem Körper geschafft hatte, Lehrer zu werden. Möge dasselbe auch Emma gelingen, denn sie war ein besonderes Kind!

Seine Frau hatte dem Lehrer erzählt, dass die Leute im Dorf über das Mädchen tuschelten. Die Emma sei eine Komische, man wisse nie genau, wo sie hinschaue, und sie sage unheimliche Dinge. Dinge, die sie eigentlich nicht wissen kön­ne.

Wieder einmal wurde Kuhn schmerzlich bewusst, dass seine Ehe kinderlos geblieben war. Ein so aufgewecktes Kind wie Emma wäre ein wahrer Segen gewesen. Er seufzte. Der Schoss seiner Frau schien nicht fähig zu sein, Früchte zu tragen. Sie litt sehr darunter. Hatte sie sich ihm früher bereitwillig zugewandt, ihre grossen Brüste an seiner Brust gerieben und seine Männlichkeit freudig willkommen geheissen, drehte sie ihm nun den Rücken zu. Bestand er doch auf seinem Recht, kam ihm vor, als ob er einen trockenen Acker bezwingen müsste, wo früher ein Quell lustvoller Freuden gewesen war.

Emma

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