Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 6
ОглавлениеTanzende Lichter
Das kleine Mädchen sass im Gras. Um den Leib trug es einen Gürtel, und an diesem hing ein Seil, das an einen Pfosten gebunden war. Die Mutter las Äpfel vom Boden auf. Immer wieder musste sie innehalten, sich aufrichten, den Rücken dehnen und Atem schöpfen. Rosina Kunz war schwanger. Rosa und Stephan halfen ihr bei der Arbeit. Dazwischen spielten sie Fangen und fütterten das Schwein im Gehege mit faulen Äpfeln. Oder sie ärgerten die Hühner hinter dem Rücken der Mutter.
Emma sass ruhig da. Sie beobachtete ihre Mutter und die spielenden Geschwister aufmerksam.
«Mama, Mama!» Die Mutter wandte sich ihrer Jüngsten zu, lächelte und brachte ihr einen Apfel. Rund lag er in Emmas Hand. Sie ertastete seine Form, roch seinen Duft, sah seine Farben wie einen grenzenlosen Regenbogen. Den Glanz der Haut, die glatte Oberfläche, den Duft, den er ausströmte: Alles nahm sie einzeln wahr. Gleichzeitig spürte sie die Vögel in der Luft, fühlte das Gegacker, Gerenne und Geflatter der Hühner, hörte die Bewegungen der Mutter und die Rufe der anderen Kinder.
Emma hob den Apfel zum Mund und schleckte ihn ab. Die Haut war glatt und kühl, und sofort wusste sie um die Süsse darunter. Sie gluckste. Der Apfel war zu einer durchsichtigen, oszillierenden Kugel geworden. Emma schaute auf: Rund um sie herum tanzte alles in funkelnden Partikeln. Wenn sie zur Mutter sah, bewegte sich dort ein ähnliches Licht, und inmitten dieses wirbelnden Lichts befand sich wiederum ein kleines Licht. Nichts war mehr fest, ihre gesamte Umgebung hatte sich in wabbelige, farbige Puddingmasse verwandelt. Emma blinzelte, ihre Mutter nahm wieder Gestalt an, aber nicht wie zuvor in fester Form; sie erschien ihr eher wie durchsichtiger Nebel. Nun wurde das Kind in ihrem Leib sichtbar. Emma lachte auf, streckte die Arme aus. Das Kind im Leib bewegte sich zu ihr hin und drehte sich. Die Mutter stöhnte auf und legte die Hand auf den Bauch.
Emma wandte den Blick ab und sah zum Apfelbaum. Auch dieser war für sie als Gestalt hinter einer Nebelwand sichtbar. Sie bemerkte, wie er sich bewegte und farbige Nebelschwadenfinger in ihre Richtung streckte. Sie reckte sich ihm entgegen, ein kleiner Lichtstrahl traf ihre Finger. Sie erschauerte, süsse Kraft rann durch ihren Körper. Wohlwollen hüllte sie ein.
Emma lachte. Ein Windstoss fuhr durch das Geäst des Apfelbaums, Blätter lösten sich von den Zweigen, schwebten zu Boden, wirbelten um das Kind. Es jauchzte und streckte die Hände aus, stand auf und jagte den raschelnden, knisternden Blättern nach. Da, plötzlich ein Ruck – jäh wurde es zurückgerissen. Das Seil, an dem es festgebunden war, streckte sich. Emma fiel zu Boden, ein Schmerz durchzuckte sie, sie schrie auf. Mit einem Schlag war die Welt fest und starr. Die weichen Partikel, die so schön um sie herumgetanzt hatten, waren verschwunden.
Die Mutter sah sich um. «Das ist nicht so schlimm, Emma. Steh wieder auf! Du kannst nicht einfach so losrennen – musst besser acht geben!»
Die Zeine war gefüllt. Müde erhob sich die Frau, streckte den Rücken durch, stöhnte. Die Schürze spannte sich über dem gewölbten Leib. Sie fühlte sich ausgelaugt und schwach.
Rosa und Stephan krochen im Hühnerstall umher und sammelten Eier ein. Die Kleinste war still geworden, lag regungslos auf dem Rücken und staunte in den Himmel. Wolken zogen auf. Emmas dunkle Augen waren gross und unbewegt. Die Mutter erschrak: «Emma!» Da bewegte sich das Kind, wandte sich ihr zu, schauderte. Das ausgetragene Wolljäckchen schützte nicht vor der abendlichen Herbstkühle.
«Komm, Emma, gehen wir ins Haus!» Die Mutter band das Kind los und hob ächzend den vollen Korb. Emma trippelte zum Hintereingang. Eine Treppe führte in den Erdkeller hinab. Die Frau stellte ihre Last ab und öffnete die Tür zur Küche, Emma schlüpfte hinein. Die Dunkelheit liess den Raum noch kleiner erscheinen, als er war. Die Mutter zündete die Petrollampe auf dem Küchentisch an, ein warmer Schein erfüllte den Raum. Rosa und Stephan eilten mit den Eiern herbei. «So, jetzt geht ihr zum Bauer Widmer und holt Milch», beauftragte sie die beiden.
Emma hockte neben den Herd und spielte mit den Tannzapfen, die dort zum Anzünden aufgeschichtet waren. Die Mutter kauerte neben ihr nieder und entzündete das Feuer im Herd. Emma beobachtete fasziniert, wie die Flammen flackerten und Hitze verströmten.
Derbe Schritte näherten sich. Die Küchentüre öffnete sich, der Vater polterte herein, setzte sich, zog seine mit Erde verschmierten Stiefel aus und liess sie auf den Boden fallen. Er kam vom Acker, wo die Familie Kartoffeln angepflanzt hatte.
«Was ist mit den Äpfeln da draussen? Warum sind die nicht im Keller?» «Die Zeine war mir zu schwer.» «Wo ist Jakob? Der ist kräftig genug, um sie in den Keller zu tragen!» «Jakob ist mit Maria im Wald, sie sammeln Brennholz. Sie sollten bald zurück sein. Ich trage die Äpfel hinunter, sobald ich die Suppe auf dem Herd habe.» Die Stimme der Mutter klang besänftigend, entschuldigend.
Säuerlicher Geruch stieg in Emmas Nase. Wenn der Vater so roch wie jetzt, legte sich ihr Angst wie kalte Finger um den Hals. Rasch kroch sie unter den Tisch. «Mach vorwärts, ich habe Hunger!», stiess der Vater grob und ungeduldig aus. Er hatte sich auf die Küchenbank gelegt. Emma spähte unter dem Tisch hervor. Sie sah seine grossen Füsse in den handgestrickten Socken.
Der Vater begann schwer zu atmen, er war eingeschlafen. Draussen erklangen die Stimmen von Rosa und Stephan. Die Mutter öffnete die Tür und bedeutete den beiden, leise zu sein. Die zwei erblickten den Schlafenden, verstummten und setzten sich brav auf ihre Stühle. Die Mutter ging mit dem Kessel in die angrenzende Speisekammer, wo sie die Milch in das Entrahmungsbecken goss. Eine Tasse voll nahm sie mit in die Küche für den Griessbrei der Kinder. Die Suppe brodelte in der Pfanne und ihr kräftiger Geruch füllte den Raum. Draussen polterten Schritte. Jakob und Maria schleppten zwei grosse Säcke voller Äste an, die sie vor der Tür abstellten. Schnell schlüpften sie herein, bleich und durchfroren. Zähneklappernd hielten sie die Hände Richtung Feuer, um sie zu wärmen. Oswald war aufgewacht, seine Laune hatte sich gebessert. Er zog Emma unter dem Tisch hervor und setzte sie auf seine Knie. Seine Bartstoppeln kitzelten, und er roch unangenehm, aber sie hielt den Atem an und genoss seine Wärme. Dann ass die Familie schweigend, so, als verböte ein ungeschriebenes Gesetz unter Androhung drastischer Strafe, nach dem Schöpfen der Suppe ein Wort zu wechseln.
Nun kam der Augenblick, vor dem sich Emma fürchtete, Abend für Abend: Die Mutter trug sie in das düstere Eltern-Schlafzimmer. Während sie das Kind entkleidete, auf die kalte Matratze legte und mit der klammen Decke zudeckte, bereiteten die Geschwister in der Nebenkammer ihre Bettstatt vor. Maria half dem fünfjährigen Stephan. Schnell schlüpften sie in ihre Betten und zogen die Wolldecken bis zur Nase hoch.
Rosina sprach ein Gebet, strich dem Kleinkind über die Haare und ging zu den anderen vier hinüber. Emma hörte sie beten und «Gute Nacht» sagen. Die Türe schnappte ins Schloss, die Schritte der Mutter verklangen. Im Nebenraum wurde es still.
Emma war allein, der Moment, vor dem ihr graute, war da. Dunkelheit beherrschte die Welt. Finsternis und Kälte. Weder Weinen noch flehentliche Rufe nach der Mutter halfen. Angestrengt starrte sie in die Finsternis. Solange sie die Augen nicht schloss, vermochte sie, die Angst zu bannen. Bald aber übermannte sie die Müdigkeit, und dann kamen sie, die formlosen Schattengestalten mit ihrem Jammern und Weinen. Emma schreckte auf, verkroch sich zitternd unter die Decke, rollte sich zusammen wie eine kleine Katze. Die Angst schüttelte sie, bis irgendwann, irgendwann der Schlaf sie gnädig umfing.
In der Küche setzte sich Rosina zu Oswald an den Tisch. «Die Zeine mit den Äpfeln ist im Keller», brummte er. «Vielen Dank», Rosina lächelte ihn an. Er sah müde aus, ihr Oswald, müde und grau. In solchen Augenblicken zweifelte sie, ob er noch derselbe war, den sie ausgewählt hatte, damals.
«Oswald, wir benötigen ein drittes Bett für die Kinder. Es wird Zeit, dass Emma bei den anderen schläft, und wir brauchen das Gitterbett für das hier.» Sie deutete auf ihren gewölbten Leib. Er lachte derb. «Wieder ein Balg. Das einzige, mit dem wir reichlich gesegnet sind! Kannst du mir sagen, warum die Reichen nicht so viele Kinder haben wie wir? Hinten ein voller Geldsack und vorne das grosse Hängen!» Oswalds verzweifeltes Gelächter hallte durch den Raum. Seine Frau straffte sich. «Amalia hat von ihren Eltern noch ein altes Bett auf dem Dachboden. Du musst es nur holen.» «Ha, weiss der Hans davon, oder muss ich das Gnadenbett heimlich holen?» Er erhob sich und stolperte in die Nacht hinaus.