Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 8
ОглавлениеSchwarze Flecken
Emma hüpfte auf der holprigen Strasse. Die dunklen Zöpfe tanzten ihr auf dem Rücken. Silbrig glänzende Regenpfützen lockten; Emma sprang mit grossen Sätzen darüber. Sie trug ihre Sonntagsschuhe, es waren die einzigen Schuhe, die sie besass. Die durfte sie sonst nur zum Kirchgang anziehen. Heute war eine Ausnahme, sie begleitete ihre Mutter zur Gemischtwarenhandlung von Frau Peng. Die Mutter wollte Sockenwolle kaufen. Das war ein seltenes Vergnügen.
Eine Hupe quäkte plötzlich grell und laut hinter dem Kind. Erschrocken und ohne sich umzusehen rannte Emma zu ihrer Mutter und klammerte sich an ihre Hand. Der Dorfarzt knatterte in seinem neuen Automobil an ihnen vorbei. Kies spritzte auf, Staub hüllte sie ein. Emma staunte das schwarze Wunderwerk an, das ohne Pferde fuhr, die Mutter schimpfte: «Diese Ungeheuer sind unser Untergang!»
Frieda Järmann, die ihnen entgegenkam, stimmte in das Schimpfen mit ein. «In Zofingen gibt es viele davon!», wusste sie zu berichten. Man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher auf der Strasse. Die Pferde haben Angst vor diesen Ungetümen, und schon manch einer ist vom Ross gefallen.»
Zofingen! In Zofingen war Rosina schon lange nicht mehr gewesen. Das Garn für den Webstuhl und die fertigen Arbeiten brachte Oswald selbst dorthin zum Händler.
Die beiden Frauen tauschten ein paar Neuigkeiten aus, und dann ging jede wieder ihres Wegs. In Brittnau blieb wenig Zeit zum Klatschen, man war arm, Arbeit gab es mehr als genug, freie Zeit weniger. Während der Begegnung hatte sich Emma still verhalten, aber jetzt zupfte sie aufgeregt an Mutters Jackenärmel. «Mama, Mama, hast du gesehen, die Frau Järmann hat einen schwarzen Fleck auf der Brust. Der war schon letzte Woche da, aber jetzt ist er viel grösser geworden! Sag, Mama, hast du ihn auch gesehen?»
«Nicht so laut», mahnte Rosina Kunz ihre Tochter, «was sollen die Leute denken, wenn sie dich hören?»
«Aber der schwarze Fleck auf ihrer Brust ist wirklich viel grösser als letzte Woche, Mama. Schau doch!» Emma drehte sich an der Hand der Mutter um und zeigte auf Frau Järmann. Das Mädchen war kaum zu halten, die Mutter, peinlich berührt, schimpfte verärgert. «Hör jetzt auf, mit dem Finger auf die Leute zu zeigen! Das gehört sich nicht! Komm jetzt. Ich habe nichts gesehen, weder heute, noch letzte Woche.» Sie zerrte das Kind in die andere Richtung.
Emma verstummte. Das Bild des dunklen Flecks auf der Brust der Nachbarin hatte sie aufgewühlt. Die Reaktion der Mutter kannte sie. Die fand so vieles seltsam, was Emma sagte, und meist hiess es dann: «Schluss jetzt mit diesem Unsinn!» Aber sie konnte nicht einfach aufhören, diese Dinge zu sehen, selbst wenn sie gewollt hätte. Es war unmöglich.
Emma geriet ins Grübeln. Was hatte dieser Fleck zu bedeuten? Viele Menschen trugen solche Flecken. Sie waren unterschiedlich gross, in zahlreichen Farbtönen. Und viele veränderten sich rasch.
Dann vergass das Kind die Begegnung, denn sie waren beim Laden angekommen. Das Glöcklein über dem Eingang bimmelte, als Rosina Kunz die Türe aufstiess. Emma liebte diesen Laden. An den Wänden standen Gestelle, vollgestopft mit Waren: schwarz glänzende Gummistiefel neben Pickeln, Schaufeln, Äxten und Hämmern; graue Sockenwolle neben exotischen, farbigen Stoffen und daneben Petrollampen in jeder Grösse. Es roch durchdringend nach Mottenkugeln, nur ab und an wob sich feiner Veilchenduft vom Parfum der Besitzerin dieser Schatztruhe hinein.
Diese stand hinter dem schweren Tresen, eine geblümte Bluse straff über die gemiederte Brust gezogen, die schwarzmelierten Haare akkurat zu einem Knoten aufgesteckt. Immer im Blickfeld hatte sie die grosse, silbern verzierte Kasse, die klingelte, wenn die Schublade mit dem Geld heraussprang. Frau Peng war eine Auswärtige. Niemand wusste so recht, woher sie kam und weshalb sie gekommen war. Eines Tages war sie da gewesen und hatte dem alten Fridolin Müller das Geschäft kurzerhand abgekauft. Zu viel habe sie nicht dafür bezahlt, wollten gewöhnlich gut Informierte im Dorf wissen.
«Guten Tag, Frau Kunz, schön, Sie wieder einmal zu sehen. Und wer ist das kleine Mädchen? Das ist doch nicht die Emma? Du bist aber gewachsen!» Die schrille Stimme der Frau kontrastierte seltsam mit ihrer Leibesfülle und durchdrang das Warme, Wohlige des Raums, so dass Emma schauderte. Rosina Kunz liess sich Sockenwolle zeigen und prüfte mit kundiger Hand deren Festigkeit. Diese Socken mussten lange halten, für weiche, dünne Wolle, die rasch zerriss oder sich nach der dritten Wäsche auflöste, hatte sie keine Verwendung.
Emma schaute sich um, es gab so viel zu sehen, die Sonne schien durch das kleine Schaufenster und brachte Myriaden tanzender Staubkörner in der Luft zum Glitzern. In einem der Gestelle im Nebenraum leuchtete es rot. Vorsichtig schielte Emma zu den beiden Frauen, aber die handelten gerade den Preis für die Wolle aus. Das Mädchen war unbeobachtet. Es schlich zum Gestell und griff sich einen roten Ballen. Es war Wolle, aber was für welche! Wolle, wie sie Emma noch nie gefühlt hatte! Ihre Hände versanken im weichen, zarten Flaum, ihr war, als berührte sie ein frisch geschlüpftes Küken. Und dann diese Farbe! So rot wie die Rosen, die beim Pfarrer im Garten wuchsen. Emma staunte. Ganz versunken war sie in diese unbekannte Herrlichkeit, die ihre Sinne entdeckt hatten. Emma presste den Knäuel an ihre Wangen.
Ein schrilles Lachen riss sie aus ihren Empfindungen. «Ihre Kleine hat einen guten Geschmack, Frau Kunz! Das ist die feinste und teuerste Wolle, die ich hier habe. Sie stammt von Merinoschafen, die haben ein besonders weiches Fell. Wie wäre es, wenn Sie Ihrer Emma daraus einen Pullover strickten?» Frau Peng liess erneut ihr meckerndes Lachen ertönen, als sie anfügte, sie würde den Preis auch anschreiben, wenn man nicht liquide sei im Moment.
Rosina packte Emma heftig am Arm. «Leg die Wolle zurück, du weisst ganz genau, dass du hier nichts anfassen darfst!» Das Kind erschrak, begann zu schluchzen. Rosina wandte sich zur Theke: «Wie Sie sehr wohl wissen, Frau Peng, habe ich für dergleichen kein Geld. Es ist schon schwer genug, ohne dass jemand meinen Töchtern irgendwelche Rosinen ins Ohr setzt. Kann ich bitte bezahlen?» Die Kasse klingelte. Die Staubkörner in der Luft hatten aufgehört zu tanzen.
Einige Monate später läuteten die Kirchenglocken mitten unter der Woche. Die Menschen trugen schwarze Kleider, und der Pfarrer sprach vom plötzlichen, unerwarteten Ableben und dass der Herr gebe und der Herr nehme. Frieda Järmann wurde zu Grabe getragen.
Emma sass mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter in der Kirche. Sie war nicht überrascht von Frieda Järmanns Tod. In den letzten Monaten war der schwarze Fleck grösser geworden, so gross, dass er Frau Järmanns natürliches Strahlen überdeckte. Und ohne dieses Strahlen, hatte Emma für sich festgestellt, gab es kein Leben. Nur die Überraschung der anderen Menschen erstaunte sie: dass sie vom unerwarteten und plötzlichen Tod von Frau Järmann sprachen. Das war doch schon seit einiger Zeit klar. Konnten sie das nicht erkennen?
Gerne hätte sie der Mutter erzählt, was ihr in der Kirche in den Sinn gekommen war. So gerne wäre sie losgeworden, was sie bedrückte. Sie wollte wissen, was sie nicht verstand. Fragen wimmelten in ihrem Kopf wie Ameisen in einem Ameisenhaufen. Auf dem Heimweg nahm Emma einen neuen Anlauf, mit ihrer Mutter zu sprechen.
Doch diese wollte nichts davon hören. «Hör auf mit diesen Phantastereien, dafür bist du mittlerweile zu alt», schalt sie, «ausserdem bringt das nur Ungemach!» Rosina packte Emma an der Hand und eilte die Strasse entlang. Daheim wartete bestimmt schon Oswald und war ungehalten über das verspätete Mittagessen, und die zwei Kleinsten, Otto und Hulda, warteten bei ihrer Schwägerin. Ausserdem schmerzte ihr Rücken, der Bauch war schwer und wölbte sich weit vor unter dem schwarzen Kleid. Rosina Kunz war innerhalb von drei Jahren zum dritten Mal schwanger. Schatten lagen unter ihren Augen.
Sorgen gruben sich wie Furchen in ihre Seele. Je weniger Arbeit ihr Mann hatte, desto mehr trank er. Gewöhnlich kam er spät in der Nacht aus dem Wirtshaus, wenn sie alle längst schliefen. Er fiel zu ihr ins Bett wie ein Stein und rieb sich an ihrer Wärme. Dann schlief er ein und ihr war kalt.