Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 14
ОглавлениеJulia
«Nein, du kannst Julia nicht besuchen!» Die Stimme der Mutter klang bestimmt. «Sie ist sehr krank, und niemand kann ihr helfen. Die Krankheit ist ansteckend, deshalb wirst auch du nicht hingehen. Freundin hin oder her. Ich will nichts mehr davon hören!»
Emma blickte ihre Mutter abwesend an. Sie wusste, sie würde Julia besuchen. Sie wusste nur noch nicht, wie sie das bewerkstelligen wollte. Julia war ihre einzige Freundin, sie verspottete Emma nie, wenn diese etwas sah, was die anderen Kinder nicht wahrnehmen konnten. Sie teilte ihr Pausenbrot mit Emma, wenn diese nichts dabei hatte. Das war deshalb aussergewöhnlich, weil Julia Lerch die Mädchen des ganzen Dorfes zu Freundinnen hätte haben können. Sie hatte ein freundliches Wesen und stammte aus einer besseren Familie. Allen war es ein Rätsel, was die beliebte Julia an der komischen Emma fand.
Emma wandte sich ab, schwieg und begann mit dem Abwasch. Diesmal würde sie ihrer Mutter nicht gehorchen. Sie würde den erstbesten Augenblick nutzen, um sich davonzustehlen.
Wenig später klopfte sie scheu bei Lerchs an die Haustür. Sie war noch nie da gewesen. Lerchs waren wohlhabende Leute, sie wohnten weit entfernt vom Handweber Kunz. Die Familie besass ein herrschaftliches, strahlend weiss getünchtes Haus, dessen Vorgarten mit Blumenrabatten verziert war. Julias Mutter öffnete die Tür. Ihr Gesicht war bleich, und in ihren Augen verschwand Gottes wunderbare Schöpfung wie ein Stecken, den man in einen brackigen Tümpel wirft.
«Was willst du?» Unfreundlich, wie es sonst nicht ihre Art war, fuhr sie das Mädchen an. Innerlich ärgerte sie sich über sich selbst: Sie hatte nicht die Absicht gehabt, die Türe zu öffnen. Der Kummer über die niederschmetternde Diagnose, welche der Arzt ihr am Morgen eröffnet hatte, schnürte ihr das Herz zu. Frau Lerch wollte nichts und niemanden sehen. «Was willst du?», wiederholte sie ihre Frage, ohne zu bemerken, dass sie dem Kind gar keine Zeit gelassen hatte zu antworten.
Emma zuckte zusammen, aber dann blickte sie der Frau mutig in die Augen. «Ich will Julia besuchen.» «Julia ist schwer krank, sie kann jetzt niemanden empfangen.» Anneliese Lerch wollte entschieden auftreten, aber die Augen des Mädchens stimmten sie milde. In diesen Augen lag ein verborgener Zauber, ein Licht, das sie anrührte. «Wer bist du?», fragte sie. «Ich bin die Emma Kunz, ich sitze in der Schule neben Julia.» «So, du bist Emma!» Anneliese Lerchs Gesicht hellte sich auf. «Julia hat viel von dir erzählt. Komm herein, Julia freut sich sicher über Abwechslung. Aber komm ihr nicht zu nah, die Krankheit ist sehr ansteckend.»
Die Frau führte Emma in ein grosses Zimmer im ersten Stock des Hauses. Emma staunte. Jeder Raum, den sich betraten, war in einem anderen Farbton gehalten. Julias Zimmer war in Rosarot getaucht, vor den grossen Fenstern hingen dicke Vorhänge und hüllten das Zimmer in Dämmerlicht. Das ausladende Bett war kunstvoll verziert, goldene Kugeln blinkten von den Seitenstützen. Ein kleiner eleganter Sekretär stand an der Wand, Tintenfass und Feder griffbereit.
Julia verschwand beinahe in den Kissen mit dem weissen Damastbezug, ihr bleiches Gesicht hob sich davon ab wie der Schatten eines Nebelfetzens auf einer Schneefläche. Sie versuchte sich aufzurichten, aber ein Hustenanfall zwang sie in die Kissen zurück.
Emma nahm Julias Hand in die ihre. Anneliese Lerch wollte einschreiten, aber ihre Stimme versagte. Julia atmete stossweise. «Emma! Es ist schön, dass du gekommen bist. Erzählst du mir eine Geschichte?» Emma setzte sich auf den rot gepolsterten Stuhl vor Julias Bett. Das Ticken der grossen Standuhr in der Ecke fiel aus dem Takt.
Emma erzählte. Sie erzählte von all den wundervollen Elfen, die in den Blumen im Garten wohnten und im Sonnenschein ihren Reigen tanzten. Dazu atmete sie im Gleichklang mit der Kranken und hielt ihre Hand. Ab und zu glänzte zwischen den Hustenattacken ein feines Lächeln auf Julias Gesicht. «Bist ein Engel», flüsterte sie im Fieber. «Bist du ein Engel?»
Als Julias Mutter nach einer Stunde den Raum betrat, schlief ihre Tochter ruhig. Ihr Gesicht glich dem vollen, rosigen Mond. Emma Kunz sass still daneben und hielt Julias Hand. Anneliese Lerch betrachtete die beiden Kinder gerührt. Tränen rannen über ihre Wangen.
Beim Abschied drückte sie Emma eine Tafel Schokolade in die Hand und bat sie, bald wieder zu kommen. Emma nickte.
Dann wankte sie nach Hause. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihr war schrecklich übel. Die Häuser, die Strasse, die Menschen drehten sich in wildem Tanz um sie herum. Die Schokolade steckte sie zuhause ihren kleinen Schwestern zu, dann sank sie auf ihr Lager und begann zu husten. «Bin ich froh, dass Mutter nicht weiss, wo ich gewesen bin», dachte sie, bevor die Dunkelheit sie umfing.
Im Halbschlaf sah sie das rosafarbene Zimmer Julias vor sich. Den Sekretär mit der Feder und dem Tintenfass. Sie seufzte und zog die Wolldecke enger um sich, froh, dass sie, seit Rosa fort war, das Bett für sich allein hatte. Ihr war abwechselnd glühend heiss und eiskalt. Das Tintenfass aus Julias Zimmer verwandelte sich in ihren Grossvater. Er streichelte ihre Stirn. Emma sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Tag stand sie fröhlich auf, der Husten war verschwunden, und Emma sehr hungrig. Die Mutter war erleichtert, als sie Emma mit Heisshunger einen Teller Haferbrei essen sah. Schnell machte sich Emma für die Schule bereit und war zur Tür hinaus, bevor ihrer Mutter eine Arbeit einfiel, mit der sie sie zurückhalten konnte.
Auf dem Heimweg besuchte Emma erneut ihre Freundin. Julia sass in dicke Decken gehüllt im Garten, in der Nähe der Rosen. Ihre Mutter strickte aus gelblicher Wolle Binden für die Armen. Sie erhob sich und ging Emma entgegen. «Guten Tag, Emma, schön, dich zu sehen! Julia geht es viel besser. Der Arzt hat gesagt, es sei ein Wunder, dass sie sich erholt hat – damit hätte er nicht gerechnet. Julia wünschte sich heute so sehr in der Sonne zu sitzen und die Rosen zu riechen, dass ihr Vater sie in den Garten getragen hat.» Anneliese Lerch strahlte.
«Emma!», Julia war aufgeregt, «Emma, ich habe sie gesehen. Hier bei den Rosen habe ich sie gesehen, und sie haben wirklich getanzt.» Frau Lerch blickte verdutzt auf, aber Emma lachte laut, sie freute sich mit Julia. Erwachsene konnten die Blumenelfen nicht sehen. Erwachsene brauchten nicht alles zu sehen.